Entscheidungsstichwort (Thema)
Dauer und Ende der Verschlimmerung einer Scheuermann'schen Erkrankung. Kausalitätsnorm in der Kriegsopfer-, Soldatenversorgung
Leitsatz (amtlich)
Zu Dauer und Ende der wehrdienstbedingten Verschlimmerung eines anlagebedingten Leidens, das sich erfahrungsgemäß allmählich und selbsttätig, unabhängig von wehrdienstbedingten Einflüssen weiterentwickelt.
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Prüfung des versorgungsrechtlich relevanten Sachverlaufs ist nicht der typische auf Grund wissenschaftlicher Erfahrung abgesicherte Geschehensablauf, sondern die individuelle Situation des Menschen und sein Zustand, so wie er beschaffen ist, zu untersuchen.
2. Dieses Erfordernis gilt nicht allein, wenn es um die Entstehung eines Gesundheitsschadens oder den Eintritt einer Leidensverschlimmerung geht, sondern auch dann, wenn über Dauer und Ende der wehrdienstbedingten Verschlimmerung eines anlagebedingten Leidens (hier: Wirbelkörperverformungen nach Scheuermann'scher Krankheit) zu befinden ist, das sich nach ärztlicher Erfahrung allmählich von selbst, unabhängig von wehrdienstbedingten Einwirkungen weiterentwickelt.
3. Die Annahme einer fortdauernden Verschlimmerung im versorgungsrechtlichen Sinne ist solange angezeigt, als nicht greifbare Umstände erkennbar sind, die mit den Unfallfolgen nicht in Verbindung zu bringen sind, diesen vielmehr ihre Tragweite nehmen, und diese Umstände allein in der Konstitution des Betroffenen wurzeln sowie sich aus ihr selbsttätig entwickelt haben.
Normenkette
SVG § 81 Abs. 1; BVG § 1; SVG § 81 Abs. 4 S. 1
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 31. Mai 1974 wird aufgehoben, soweit es den Versorgungsanspruch des Klägers über den 31. August 1971 hinaus verneint hat.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger - im Dezember 1944 geboren - trat im April 1966 als Soldat auf Zeit in die Bundeswehr ein. Im März 1968 nahm er an einem Fähnrichlehrgang teil. Bei einem Nachtorientierungsmarsch am 20. März 1968 stürzte er gegen 22.00 h in ein Loch und fiel auf den Rücken. Er verspürte in der unteren Rückenpartie einen stechenden Schmerz. Zunächst wurde er ambulant behandelt. Einen Monat später ergab die Lazarettuntersuchung eine relative Rückeninsuffizienz trotz guter Muskelkräfte, eine dorso-lumbale Kyphose sowie stärkere Wirbelkörperverformungen nach Scheuermann'scher Erkrankung. Nach mehreren nachfolgenden Untersuchungen wurden gleich- oder ähnlich lautende Diagnosen gestellt. Es wurde hervorgehoben, daß die Wirbelsäulenanomalien beim Kläger bereits seit seiner Jugend bestünden. - Bei seiner Einstellung in die Bundeswehr war auch ein leichter Wirbelsäulenfehler festgestellt, eine Röntgenuntersuchung indessen nicht vorgenommen worden. Der Kläger selbst hatte damals erklärt, keine Leiden zu haben; als Sport habe er Geräteturnen betrieben. - Ob der Unfall zeitweilig eine Verschlimmerung des krankhaften Zustandes gezeitigt habe, wurde fürs erste nicht eindeutig abschließend beantwortet. Dagegen wurde die Verwendungsfähigkeit des Klägers als für dauernd eingeschränkt erachtet. Im September 1968 wurde er aus der Bundeswehr entlassen.
Den Versorgungsantrag lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) ab (Bescheid vom 22. September 1969); das Landesversorgungsamt (LVersorgA) gab jedoch dem Widerspruch des Klägers teilweise statt (Bescheid vom 24. September 1970): Für die Zeit vom 1. Dezember 1968 bis 31. August 1970 erkannte es als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung "Muskelverspannungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bei Scheuermann'scher Krankheit" an. Im übrigen erklärte es, daß in der angegebenen Zeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 25 v. H. nicht bedingt worden sei. Die Versorgungsverwaltung ließ sich bei ihrer Entscheidung von einem ersten Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. med. habil. N vom 15. August 1970 leiten. Auch dieser Arzt ging von der Scheuermann'schen Erkrankung des Klägers aus, sprach von einer mäßigen Verformung der unteren Brust- und der oberen Lendenwirbelsäule und fand die Lendenstreckmuskulatur durch Verspannungen gestört. Die Erkrankung war seines Erachtens nicht in Verbindung mit wehrdienstlichen Einwirkungen entstanden. Der Unfall während des Wehrdienstes könne lediglich bis dahin nicht aufgetretene Beschwerden und damit eine Verschlimmerung hervorgerufen habe. Diese Verschlimmerung werde jedoch in einem halben bis einem Jahr abklingen.
Mit der Klage erstrebte der Kläger die Anerkennung seines Leidens als durch den Unfall während des Wehrdienstes entstanden, mindestens als dadurch bleibend verschlimmert. Das Sozialgericht - SG - Bremen (Urteil vom 23. Juni 1971) verurteilte die Beklagte, als Schädigungsfolge "Muskelvorspannungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bei Scheuermann'scher Krankheit" über den 31. August 1970 hinaus im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen. Im übrigen wies es die Klage ab. Es entnahm dem Gutachten des Dr. Neumeyer, daß der Versorgungsanspruch des Klägers nicht auf die Zeit bis Ende August 1970 beschränkt werden dürfe.
Die Beklagte legte Berufung, der Kläger Anschlußberufung ein. Nach weiterer Beweisaufnahme hat die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Versorgung im Sinne der Verschlimmerung für die Zeit bis zum 31. August 1971 anerkannt. Der Kläger hat dieses (Teil-) Anerkenntnis angenommen. Das über dieses Anerkenntnis hinausgehende erstinstanzliche Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) Bremen insoweit aufgehoben und in diesem Umfang die Klage abgewiesen; die Anschlußberufung des Klägers hat es zurückgewiesen (Urteil vom 31. Mai 1974). Dem Berufungsgericht lagen ein zweites Gutachten des Dr. N und ein Gutachten des - vom Kläger gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) benannten - Orthopäden Dr. G vor. Aus diesen und aus älteren ärztlichen Äußerungen gewann das LSG die Vorstellung, daß die Muskelverspannungen, die sich nach dem Sturz des Klägers im Bereich seiner Wirbelsäule gezeigt hatten, nicht durch den Unfall entstanden, sondern lediglich als zeitlich beschränkte Verschlimmerung eines vorher bestehenden Schadens angesehen werden dürften. Im Gegensatz zu Körperfehlern, die ruhten und durch ein bestimmtes Vorkommnis "zum Ausbruch gebracht" würden, sei beim Kläger das Schadensereignis auf physische "Veränderungen" getroffen, die sich - wenn auch nach außen nicht in Erscheinung tretend - bereits im Wachstumsalter gebildet hätten. Das Röntgenbild lasse die Deformationen der Wirbelsäule als solche älteren Ursprungs erkennen. Leichte Anomalien in dieser Richtung seien schon bei der Einstellungsuntersuchung des Klägers zur Bundeswehr registriert worden und hätten es bereits in seinem 12. Lebensjahr als ratsam erscheinen lassen, ihm orthopädisches Turnen anzuempfehlen. Andererseits hätten die Prellungen und Zerrungen, die sich der Kläger bei dem Unfall im März 1968 zugezogen habe, Verspannungen der Rückenstreckmuskulatur hervorgerufen und den Beginn von Schmerzen ausgelöst. Die darin zu erblickende Verschlimmerung eines endogenen Faktors sei jedoch versorgungsrechtlich nur für die Zeit bis Ende August 1971 relevant. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob durch den Unfall die Wirbelsäulenerkrankung früher und/oder schwerer aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre. Nach der medizinischen Erfahrung in anderen vergleichbaren Fällen erweise sich das angenommene Enddatum als ein "relativ weitgesteckter Zeitpunkt des Abklingens der Verschlimmerung" (Dr. N). Der gegenteilige Standpunkt des Klägers gehe an den Erkenntnissen moderner Wirbelsäulenforschung weit vorbei (Dr. G). In der ärztlichen Literatur und Gutachtenpraxis werde regelmäßig angenommen, daß die von einem Unfall herrührenden Beschwerden nach einer gewissen Zeit wieder vorübergingen und daß dann weiterbestehende Versteifungen und Mißempfindungen dem Scheuermann'schen Grundleiden und seiner eigengesetzlichen Entwicklung zur Last zu legen seien. Bestätigt werde diese Erfahrungsregel durch das Resultat der späteren, von Dr. N vorgenommenen Untersuchung. Früher beobachtete Verspannungen der Rückenstreckmuskulatur seien nachher nicht mehr vorhanden oder nicht mehr feststellbar gewesen.
Der Kläger hat die - nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG (in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - Änderungsgesetz vom 30. Juli 1974 -, BGBl I 1625) zugelassene - Revision eingelegt.
Er beantragt,
unter Abänderung des Berufungsurteils die Beklagte zu verurteilen, die bereits im Sinne der Verschlimmerung anerkannte Schädigungsfolge "Muskelverspannungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bei Scheuermann'scher Krankheit" über den 31. August 1971 hinaus anzuerkennen.
Der Kläger meint, das LSG habe bei Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter den Rechtsgrundsatz der "wesentlichen Bedingung" das Gesetz (§ 1 Abs. 1, 3 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -, § 81 Abs. 1, 4 Satz 1 des Soldatenversorgungsgesetzes - SVG -) verletzt. Das Berufungsgericht habe es für die Zeit nach August 1971 aus versorgungsrechtlich unzutreffenden Gesichtspunkten verneint, daß das Wirbelsäulenleiden des Klägers sich infolge des Unfalls verschlimmert habe. Bei dieser Überlegung sei das LSG nicht, wie es geboten gewesen wäre (Hinweis auf BSG 11, 150), auf die besonderen Umstände sowie die individuelle Belastbarkeit des Klägers eingegangen. Statt dessen habe es sich von solchen Ansichten der medizinischen Sachverständigen leiten lassen, die der Erfahrung oder regelmäßigen Annahme über die Auslösung, das Abklingen, Manifestwerden und Weiterbestehen von Beschwerden und ihr Verhältnis zum Grundleiden folgten. Die persönlichen Verhältnisse des Klägers seien nicht hinreichend berücksichtigt worden, nämlich daß seine Scheuermann'sche Erkrankung überhaupt erst nachträglich, wenn auch als schon vorher vorhanden, erkannt worden sei. Im Alter von 12 Jahren sei ihm orthopädisches Turnen angeraten worden, ohne daß jedoch eine Diagnose deutlich gestellt worden sei. Im übrigen habe das Leiden geruht. Bis zu dem Unfall im März 1968 sei der Kläger völlig beschwerdefrei gewesen. Er habe während des Wehrdienstes die uneingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit besessen. Er habe das Jugend- und später das große Sportabzeichnen sowie den Panzerführerschein erworben, das Reiten erlernt, in einem Betonspannwerk gearbeitet, die Anstrengungen der militärischen Dienstzeit und Offiziersausbildung, ja sogar eines harten Ranger-Lehrgangs anstandslos überstanden. Seine Musterungs- und Einstellungsuntersuchung zur Bundeswehr habe keine beachtlichen Befunde zutage gefördert. Nachher sei er jedoch wegen der Veränderung seiner Wirbelsäule nur noch für eingeschränkt tauglich erklärt worden. Der Sachverständige Dr. N habe zunächst - im August 1970 - aus allgemeiner Sicht heraus mit dem "Abklingen der unfallbedingten Verschlimmerung" in einem halben bis einem Jahr gerechnet; dann aber, nachdem nach dieser Frist noch rund ein weiteres Jahr verflossen gewesen sei, abermals Beschwerden bestätigt. Vorsichtig sei der Sachverständige später auch in der Beurteilung darüber geworden, ob eine Verspannung der Rückenstreckmuskulatur zu verzeichnen sei. Er habe die Möglichkeit einer solchen Erscheinung eingeräumt. Damit sei indessen die aus einem Fehlen dieses Befundes gezogene Folgerung auf eine gewisse Besserung des Leidenszustandes unvereinbar. Verspannungen der genannten Art und Bewegungseinschränkungen habe Dr. G sogar positiv beschrieben. Die vergleichende Bewertung der Tatsachen aus der Zeit vor und nach dem Unfall habe hier eine von der Regel abweichende Beurteilung der Unfallfolgen verlangt. In die Gutachten der medizinischen Sachverständigen Dr. G und Dr. N seien zudem versorgungsrechtlich unzutreffende Erwägungen eingeflossen. Die Sachverständigen hätten ausgeführt, daß ein ähnlicher Unfall oder irgendeine stärkere Belastung im Zivilleben den Kläger in gleicher Weise hätten treffen können. Solche hypothetischen Geschehensabläufe - meint die Revision - seien aus der Kausalitätsprüfung im Versorgungsrecht fernzuhalten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG aF statthaft. Der Kläger rügt zutreffend, das LSG habe bei Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs seiner Gesundheitsstörung mit einer Wehrdienstbeschädigung (§ 81 Abs. 1, 4 Satz 1 SVG) das Gesetz verletzt.
Die Ausgangserwägung des LSG, der Unfall, den der Kläger während der Ausübung seines Wehrdienstes erlitt, sei auf ein bereits vorher bestehendes Leiden getroffen und könne nur als dessen Verschlimmerung in Betracht kommen, ist rechtlich richtig. Der versorgungsrechtliche Tatbestand der "Verschlimmerung" - zum Unterschied von dem der "Entstehung" - kann verwirklicht sein, weil Anzeichen der Scheuermann'schen Erkrankung schon in die Zeit des schädigenden Ereignisses zurückzudatieren sind (vgl. BSG 21, 75, 77). Daß entsprechende Symptome damals noch nicht oder nicht deutlicher bemerkbar wurden, bedeutet nicht, daß der Sturz des Klägers als Entstehungsursache zu bewerten wäre. Vielmehr ist darauf abzuheben, daß das krankhafte Geschehen sich, wenn auch noch unauffällig, aus sich heraus - unabhängig von wehrdienstlichen Einflüssen - entfaltete (BSG 16. Oktober 1974 - 10 RV 531/73 -; 9. Dezember 1959 - 10 RV 591/56 -; 14. Dezember 1961 - 11 RV 40/60 -). Andererseits hat das Berufungsgericht - in tatsächlicher Hinsicht unbeanstandet - die beim Kläger vorgefundene konstitutionelle Schadensbereitschaft nicht allein als Ursache seiner Behinderungen und Schmerzen angesehen. Der Aufschlag auf den Rücken, den der Kläger bei dem Unfall verspürte, überstieg das Maß üblicher, alltäglicher Belastung. Eine andere weniger heftige Einwirkung hätte, wie wohl der Zusammenhang der Tatsachenwertung ergibt, nicht das gleiche Resultat gezeitigt. Dementsprechend waren auch die akut auftretenden Erscheinungen nicht Anzeichen einer bloß inneren Krankheitsdynamik. Sie sind mithin rechtlich nicht indifferent (zur sogenannten Gelegenheitsursache: BSG Beschluß vom 31. Januar 1958 in MDR 1958, 281; SozR Nr. 47 zu § 542 RVO aF; Urteil vom 30. Oktober 1974 - 2 RU 50/73 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, II, 480 k II m. w. N.). Versorgungsrechtlich ist aus diesem Grunde eine Verschlimmerung der bestehenden Krankheit anzunehmen, wenn der schädigende Vorgang entweder den Zeitpunkt vorverlegt hatte, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schwerer auftreten ließ, als es sonst zu erwarten gewesen wäre (BSG Urteil vom 16. Oktober 1974). Ob das eine oder andere oder beides zutraf, hat das LSG indessen dahingestellt sein lassen. Die Überlegungen, aus denen heraus das LSG gemeint hat, der Frage nach einem vorzeitigen Beginn oder verstärkten Ausmaß des Leidens enthoben zu sein, werden jedoch den Anforderungen der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm nicht gerecht. Die Entscheidung, das Schadensgeschehen, das in den Verantwortungsbereich der Soldatenversorgung falle, sei mit Gewißheit Ende August 1971 beendet gewesen, so daß sich die Frage der Verschlimmerung für die Zeit danach nicht stelle, war von der Vorstellung beherrscht, von der sich Mediziner üblicherweise bei der Einschätzung vergleichbarer Krankheitsverläufe leiten lassen. Diese Vorstellung mag durch wissenschaftliche Erfahrung abgesichert sein; sie mag eine tatsächliche Vermutung hohen Beweisgrades rechtfertigen und deshalb einen wertvollen Anhalt für die Würdigung des versorgungsrechtlich erheblichen Sachverlaufs geben. Indessen vermag das ärztliche Erfahrungswissen über den allgemeinen Entwicklungstrend einer Krankheit in einem Falle wie diesem allein nicht die Richtschnur der rechtlichen Beurteilung darüber zu sein, wie lange eine wehrdienstbedingte Verschlimmerung als solche andauert. Eine solche, auf die Erfahrung gestützte, generalisierende Betrachtungsweise vertrüge sich nicht mit dem Gebot der Rücksicht auf die konkreten Einzelfallumstände. Das Gebot individualisierender Prüfung ist eine Eigenart der maßgebenden Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung (BSG 11, 50, 53; auch BSG 6, 88, 91). Hiernach ist nicht nur erheblich, was erfahrungsgemäß unter gleichen Umständen bei anderen Personen anzutreffen wäre. Vielmehr kann auch ein außergewöhnlicher Schadensverlauf den Versorgungstatbestand verwirklichen. Zu untersuchen ist infolgedessen nicht ein typischer Geschehensablauf, sondern die singuläre Situation des Menschen und sein Zustand, so wie er wirklich beschaffen ist. Dieses Erfordernis gilt nicht bloß, wenn es um die Entstehung eines Gesundheitsschadens oder den Eintritt einer Leidensverschlimmerung geht, sondern auch wenn über das Weiterwirken oder Ende eines solchen Sachverhalts zu befinden ist.
Allerdings hat das LSG seine Entscheidung nicht völlig losgelöst von den erfaßbaren Tatsachen getroffen. Es ist in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. N von einer "gewissen objektiven Besserung" gegenüber früher ausgegangen: Die Verspannung der Rückenstreckmuskulatur sei "nicht mehr vorhanden", "jedenfalls" habe Dr. N sie nicht mehr konstatieren können. Andererseits war diese Verspannung, die nach Dr. N "gerade im Sinne der Verschlimmerung zu deuten war", auch vorher "nicht sehr erheblich" gewesen. Außerdem hatte der Sachverständige gelten lassen, daß der Kläger nach wie vor mit Beschwerden zu tun habe. Ferner hat die Revision mit Recht hervorgehoben, daß Dr. C, der den Kläger am 24. April 1974 zuletzt untersuchte, von der Verspannung der Lendenmuskulatur und einem spürbaren Schmerzgeschehen berichtet hatte. Es trifft also nicht zu, daß - wie es in dem Berufungsurteil heißt -, der Sachverständige Dr. C das von Dr. N vermittelte Zustandsbild "bestätigt" habe. Infolgedessen würde das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht ohne weiteres die Feststellung rechtfertigen, die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers hätten sich seit der ersten Zeit nach seinem Unfall in beachtlichem Maße zum Guten gewandelt. Das LSG hat zwar diese Feststellung mit deutlichen Worten auch nicht getroffen. Unabhängig davon war es aber in jedem Falle gehalten, der Frage nach den Auswirkungen des Unfalls bei dem Kläger weiter nachzugehen. Im besonderen wäre zu erörtern gewesen, ob der Kläger seine körperliche Belastbarkeit und Beweglichkeit ohne den wehrdienstbedingten Einfluß noch nach August 1971 in dem früheren Umfang besessen hätte. Für das Gegenteil fehlt es bislang an jeglichem Anhalt. Dr. N hat sogar ausgeführt, daß deformierende Gelenk- oder Wirbelerkrankungen der fraglichen Art, selbst wenn sie sich im Wachstumsalter bilden, lange latent bleiben, für den Betroffenen indifferent verlaufen können. Freilich schloß der Sachverständige im Hinblick auf den erhobenen Befund die Möglichkeit aus, daß der Kläger durch sein Leiden niemals oder erst in hohem Alter beeinträchtigt worden wäre. Daß die Krankheit von sich aus "eines Tages, früher oder später" aus dem Stadium der Unmerklichkeit herausgetreten, "manifest" geworden wäre, spricht jedoch, bis es soweit sein würde, nicht gegen die Annahme der fortdauernden Verschlimmerung im versorgungsrechtlichen Sinne. Erst wenn greifbare Umstände erkennbar wären, die mit den Unfallfolgen nicht in Verbindung zu bringen wären, diesen vielmehr ihre Tragweite nähmen, und diese Umstände in der Konstitution des Klägers wurzelten sowie sich selbsttätig aus ihr entwickelt hätten, wäre eine abweichende rechtliche Beurteilung angezeigt. Eine derartige Entwicklung, welche der wehrdienstbedingten Verschlimmerung das Gewicht nähme, ist indessen beim gegenwärtigen Stand der Tatsachenermittlungen nicht zu erkennen.
Die hier vertretene Rechtsauffassung stößt sich nicht an dem Satz, daß für die Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit "stets nur die Verhältnisse maßgebend sind, die bei Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden haben" (zB BSG 19, 201, 202). Die Geltung dieses Satzes sowie die Ausnahmen und Einbrüche, die er erfahren hat (dazu ua BSG 36, 285 = SozR Nr. 69 zu § 30 BVG und der Überblick von Wallerath, Zurechnung und Kausalität im Versorgungsrecht, Vierteljahresschrift für Sozialrecht - VSSR - 2 (1974), 233, 247), brauchen hier nicht näher behandelt zu werden. Der Satz von der zeitlichen Zäsur ist hier nicht berührt. Mit ihm soll der Versorgungsbereich gegen solche Einbußen der Erwerbsfähigkeit abgegrenzt werden, die durch Vorkommnisse außerhalb der versorgungsrechtlich erheblichen Ursachenkette ausgelöst werden (BSG 19, 202). Dabei wird aber nicht an solche Krankheitsprozesse gedacht, die - wie hier - schon vor dem Schadensfalle begonnen haben, von der Schädigung zwar zeitweilig auch beeinflußt werden, sich im übrigen aber eigengesetzlich fortsetzen.
Die Entscheidung des LSG beruht danach auf einer unrichtigen Anwendung der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm sowie - hinsichtlich der Auswertung des von Dr. G erstatteten Gutachtens - auch auf einer Überschreitung der Grenzen des Beweiswürdigungsrechts. Dies hat die Revision erfolgreich gerügt. Das Rechtsmittel ist auch begründet; es ist denkbar, daß das LSG bei Beachtung der hier erörterten Gesichtspunkte zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Berufungsurteil ist infolgedessen aufzuheben. Die für die Fortdauer der Leidensverschlimmerung über den 31. August 1971 hinaus erheblichen Tatsachenfeststellungen, die das Berufungsgericht von seiner Rechtsmeinung her glaubte, unterlassen zu können, sind nachzuholen. Zu diesem Zweck ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen