Leitsatz (amtlich)
Die Regel des RVO § 1294, daß für den Monat, in dem das Ruhen der Rente eintritt, diese für den ganzen Monat gezahlt wird, gilt auch beim Zusammentreffen der Rente mit Arbeitslosengeld (RVO § 1283 S 1).
Normenkette
RVO § 1294 Fassung: 1957-02-23, § 1283 S. 1 Fassung: 1967-12-21
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 4. Juli 1968 wird aufgehoben. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 24. April 1968 verurteilt, dem Kläger das Altersruhegeld vom 9. bis 31. März 1968 ungekürzt auszuzahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) bewilligte dem Kläger das Altersruhegeld, beginnend mit dem 1. März 1968. Vom 9. dieses Monats an verminderte sie jedoch die Zahlungen um den Betrag des für die gleiche Zeit vom Kläger bezogenen Arbeitslosengeldes (Bescheid vom 24. April 1968). Der Kläger verlangt für den Monat März 1968 die ungeschmälerte Auszahlung seines Ruhegeldes. Seines Erachtens setzte das Ruhen der Rente erst mit dem 1. April 1968 ein. Dazu bezieht er sich auf § 1294 der Reichsversicherungsordnung (RVO), demzufolge die Rente für den Monat, der das Ruhen der Rente bringt, voll zu zahlen ist.
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Kiel mit Urteil vom 4. Juli 1968 abgewiesen. Es sieht in § 1283 Satz 1 RVO eine von der Regel des § 1294 RVO abweichende Anordnung. Dies komme dadurch zum Ausdruck, daß in § 1283 RVO besonders angegeben werde, die Rente ruhe "für den Zeitraum, für den beide Leistungen zu gewähren" seien.
Der Kläger hat Sprungrevision eingelegt und beantragt, das erstinstanzliche Urteil sowie den Bescheid der Beklagten, soweit dieser den Beginn des Ruhens der Rente betrifft, aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Altersruhegeld für den Monat März 1968 voll auszuzahlen. Er meint, es sei nicht gerechtfertigt, die Ruhensfolge des § 1283 Satz 1 RVO von der allgemeinen Regel des § 1294 RVO auszunehmen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist begründet.
Das Ruhen des Altersruhegeldes wirkte sich erst mit dem Ablauf des Monats aus, in dem es eintrat. Diese in § 1294 RVO angeordnete Rechtsfolge gilt auch für den Fall des Zusammentreffens einer Rente mit Arbeitslosengeld. Zwar weicht die dieses Zusammentreffen behandelnde Vorschrift des § 1283 Satz 1 RVO in ihrem Wortlaut durch den Zusatz "für den Zeitraum, für den beide Leistungen zu gewähren sind" von sonst üblichen Fassungen des Gesetzes ab; denn das Gesetz läßt es sonst bei dem Ausspruch bewenden, daß das Zusammentreffen mehrerer sozialer Leistungen das Ruhen auslöst, ohne den Zeitabschnitt zu nennen, in dem der Rentenanspruch jeweils nicht oder nicht voll zu erfüllen ist (vgl. § 1278 bis § 1280 RVO). Aus dem genannten Zusatz in § 1283 RVO ist indessen nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit zu folgern, daß mit ihm eine Durchbrechung der Regel des § 1294 RVO beabsichtigt ist. Man könnte zwar geneigt sein, dem Zusatz deshalb eine besondere Bedeutung beizulegen, weil dem Gesetz nicht leichthin ein entbehrlicher Satzteil zu unterstellen ist. Eine Erklärung für die Wortgestaltung des Gesetzes ist vielleicht, wenn auch nicht zweifelsfrei, in der Entstehungsgeschichte des § 1283 RVO zu finden. Ursprünglich war daran gedacht, das Arbeitslosengeld "während der Zeit" ruhen zu lassen, "für die dem Arbeitslosen ein Anspruch auf - näher bestimmte - andere Leistungen zuerkannt ist" (§ 108 des Entwurfs eines Arbeitsförderungsgesetzes, Bundestagsdrucksache V/2291 S. 23). Mit dem Finanzänderungsgesetz 1967 wurde dieses Vorhaben aufgegriffen, aber dahin umgekehrt, daß die Rente um den Betrag des Arbeitslosengeldes gemindert gezahlt werden soll. Bei diesem Gesetzgebungsakt wurde die zunächst im Entwurf eines Arbeitsförderungsgesetzes geplante Zeitregelung mit anderen Worten wiederholt. Daran mag die Erwartung geknüpft worden sein, die Regelung werde in § 1283 RVO so verstanden werden, wie sie wohl ursprünglich gemeint war, nämlich daß das Ruhen sich sogleich mit dem ersten Tage des Doppelbezugs der Leistungen ergebe. Ob der Gesetzgeber sich von solchen Gedankengängen leiten ließ, ergeben die Materialien des Gesetzes nicht. Einer solchen Erwägung wirkte aber § 1294 RVO entgegen. Diese allgemeine zusammenfassende Regel hätte der Gesetzgeber, wenn er sie im Bereich des § 1283 RVO nicht gelten lassen wollte, insoweit ausschließen müssen. Die generelle Bedeutung des § 1294 RVO folgt bereits aus seiner Stellung im Gesetz, nämlich in dem Unterabschnitt über "Wegfall und Wiederaufleben der Renten", der zu den "Gemeinsamen Vorschriften für Renten an Versicherte und für Renten an Hinterbliebene" gehört. Seine einheitliche Geltung für den Bereich des Ruhens von Renten ergibt sich auch aus der Entwicklungsgeschichte und den Materialien der Reichsversicherungsordnung. Bereits nach dem Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 (§ 38 Satz 2 IVG) galt, daß die Rentenzahlung beim Beginn des Ruhens nicht um einen entsprechenden Teilbetrag der Monatsrate zu kürzen, sondern daß das Ende des Monats abzuwarten sei. Für diese Lösung waren Gründe der Verwaltungsvereinfachung und die Überlegung maßgebend, daß die volle Monatsrate der Rente mit dem Anfang des Monats fällig und von dem Berechtigten erworben werde; ein einmal erwachsener und erfüllter Anspruch könne nicht durch einen nachfolgenden Umstand beeinträchtigt werden (zur geschichtlichen Entwicklung und Motivation des Gesetzes: Hanow/Lehmann, Kommentar zur RVO, 4. Bd. Berlin 1912, Anm. 2 zu § 1301). - Der Rentenanspruch ist nämlich so gestaltet, daß als kleinste Renteneinheit der Monatsbezug angesehen wird. Das gilt hier wie auch an anderen Stellen, zB bei den Regelungen über den Beginn und die Auszahlung der Rente (§§ 1290, 1297; ferner §§ 631 und 619 Abs. 1 Satz 1 RVO). Nur aus besonderem, klar erkennbarem Grunde werden Renten in Tagesraten aufgeteilt. An dem Grundprinzip ist aber im Zweifel festzuhalten, wenn die Regelungen des Gesetzes nicht unklar werden sollen. § 1283 RVO ist nachträglich in ein Gesetz von kodifikatorischem Charakter eingefügt worden. Die Einzelteile einer solchen Kodifikation stehen nicht zufällig nebeneinander, sondern sind - unabhängig von dem Datum ihrer Entstehung - miteinander nach einem die gesamte Rechtsmaterie beherrschenden Plan verkettet (Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Amtliche Ausgabe, Bd. I 1888 S. 16). Die Ordnung des größeren Gesetzeskomplexes ist auf langen Bestand angelegt; sie soll aus sich heraus verständlich und verläßlich sein; ihre gedankliche Einheit muß für die gesamte Zeit ihres Bestehens aufrecht erhalten werden. Deshalb muß, soweit eine allgemeine Richtschnur verlassen werden soll, aus dem Gesetz selbst deutlich hervortreten, daß dies so sein soll (zum Vorstehenden vergl. auch: Ernst E. Hirsch, Probleme der Kodifikation im Lichte der heutigen Erfahrungen und Bedingungen, Deutsche Landesreferate zum VI. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Hamburg 1962, 115 ff).
Der Zweck des § 1283 RVO verlangt keine abweichende Beurteilung. Für die Einfügung des § 1283 in die RVO war die Sparabsicht der aktuelle Anlaß (Bundestagsdrucksache zu V/2341 zu Nr. 11 c S. 7). Eine solche Absicht ist aber keine Besonderheit des § 1283 RVO, sondern liegt auch anderen Ruhensvorschriften zugrunde. Hinzu kommt, daß § 1283 RVO von einem weiteren Motiv getragen wird, das ebenfalls wesentlich ist. Arbeitslosengeld und Rente sollen den Ausfall von Arbeitsverdienst ausgleichen und die Kosten des Lebensunterhalts decken; aus dem Bezug beider Leistungen soll aber dem einzelnen kein ungerechtfertigter Vorteil erwachsen. Deshalb ordnet das Gesetz das Ruhen eines Teils der Leistungen an (Begründung des Entwurfs eines Arbeitsförderungsgesetzes zu § 108 unter Nr. 2, Bundestagsdrucksache V/2291 S. 82). Ähnlich ist der Beweggrund auch sonst für die Rechtsfolge des Ruhens. So wird nach § 1278 RVO bei einem Zusammentreffen von Leistungen aus der Unfallversicherung und aus der Rentenversicherung ein Betrag abgeschöpft, der nach den Vorstellungen des Gesetzes mehr als den Lohnausfall erbringen würde (BSG 22, 233, 234). Die gleiche Zielsetzung der das Ruhen betreffenden Vorschriften rechtfertigt den Schluß, daß der Gesetzgeber die für sie allgemein geltenden Regeln in dem einen ebenso wie in dem anderen Falle gewollt hat. Das gilt auch für das Wirksamwerden des Ruhens.
Die mit dieser Rechtsauffassung nicht übereinstimmende Vorentscheidung ist aufzuheben. Der Revision ist mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung stattzugeben.
Fundstellen