Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung eines Facharbeiters auf Tätigkeit im öffentlichen Dienst. Gerichtskunde
Orientierungssatz
1. Eine nicht auf allgemeinkundige Tatsachen gestützte Feststellung, ein Facharbeiter könne in einer Einarbeitungs- und Einweisungszeit von weniger als 3 Monaten die für die Ausübung von Verweisungstätigkeiten im öffentlichen Dienst (hier: gehobener Pförtner, Galerie-, Museums- oder Schloßaufseher) erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, wenn dieser dazu nicht hatte Stellung nehmen können.
2. Bei einer Einarbeitungszeit von weniger als 3 Monaten kann eine "gehobene", auch einem gelernten Facharbeiter zumutbare Verweisungstätigkeit nicht angenommen werden.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 22.04.1980; Aktenzeichen L 5 J 214/78) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 29.05.1978; Aktenzeichen S 5 J 383/77) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der 1933 geborene Kläger erlernte von 1948 bis 1951 den Beruf des Drehers und übte diesen Beruf bis 1970 aus. Er gab dann seine Tätigkeit als Dreher wegen Beinbeschwerden auf und arbeitete von 1970 bis 1974 als Platzwart bei einem Sportverein. Ein Versuch, wieder als Dreher zu arbeiten, scheiterte. Von Oktober 1974 bis Ende März 1975 war er krank und arbeitslos. Seit dem 1. April 1975 ist er als Hausmeister halbtags tätig.
Im März 1976 beantragte er Versichertenrente. Die Beklagte lehnte ab (Bescheid vom 29. Oktober 1976). Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 29. Mai 1978; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 22. April 1980). Das LSG hat den Kläger für fähig erachtet, alle leichten Arbeiten im Sitzen fortgesetzt, im Stehen mit Unterbrechungen bzw im Wechselrhythmus vollschichtig zu verrichten. Ausgenommen seien nur Belastungssituationen wie Schicht- und Akkordarbeiten. Vermieden werden sollten ferner schwere Arbeiten, insbesondere das Heben und Tragen schwerer Gegenstände. Anmarschwege zum Arbeitsplatz könnten zumindest bis zu 1000 Meter zurückgelegt werden. Bei diesen verbliebenen Fähigkeiten könne der Kläger - bei einer Anlernzeit von weniger als drei Monaten - als "gehobener Pförtner" im öffentlichen Dienst arbeiten, also als Pförtner, der entweder im größeren Umfang schriftliche Arbeiten verrichten oder im Rahmen seiner Pförtnertätigkeit mehr als einen Amtsanschluß beim Telefondienst zu betreuen habe. Der Kläger könne auch als Galerieaufseher, Museumsaufseher oder Schloßaufseher mit dem besonderen Qualifikationsmerkmal des Erhebens von Eintrittsgelder beschäftigt werden. Diese Tätigkeiten seien Anlerntätigkeiten, auf die der Kläger selbst dann verweisbar sei, wenn man davon ausgehe, daß er sich von seinem Facharbeiterberuf nicht oder lediglich aus gesundheitlichen Gründen gelöst habe.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG), §§ 62, 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Zu der Annahme, der Kläger werde innerhalb von drei Monaten die vom LSG genannten Verweisungsberufe ausüben können, hätte es ihn, den Kläger, hören müssen. Dann hätte er Beweis dafür angeboten, daß ihm das nicht möglich sei.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 29. Mai 1978 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 12. März 1976 bis 5. Januar 1981 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie erwidert: Der Kläger sei durch die Feststellung des Gerichts, er sei fähig, die genannten Verweisungsberufe innerhalb von drei Monaten auszuüben, nicht überrascht worden. Denn er sei durch Rechtsschutzsekretäre vertreten gewesen, denen die Rechtsprechung des LSG und seine Verweisungspraxis bekannt gewesen seien.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einem, - vom Kläger gerügten - Verfahrensmangel und ist auch nicht aus anderen Gründen richtig.
Die Tatsachenfeststellung des LSG, der Kläger könne in einer Einarbeitungs- und Einweisungszeit von weniger als drei Monaten die für die Ausübung der vom LSG genannten Verweisungstätigkeiten im öffentlichen Dienst erforderlichen beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Diese Feststellung hätte das LSG nicht ohne weitere Beweiserhebung oder besondere Gerichtskunde treffen dürfen, zu der der Kläger auf jeden Fall Gelegenheit zur Stellungnahme hätte haben müssen. Diese Gelegenheit hat das LSG dem Kläger nicht geboten. Das LSG hat ausgeführt, es bestehe kein Anlaß, zur näheren Konkretisierung dieser Tätigkeiten einen berufskundlichen Sachverständigen zuzuziehen. Den Mitgliedern des Senats seien derartige Tätigkeiten aus "allgemeiner Lebenserfahrung sowie eigener Anschauung hinreichend bekannt". Da hiermit das LSG die Entscheidung nicht auf allgemeinkundige Tatsachen gestützt hat, hätte es dem Kläger auf jeden Fall Gelegenheit geben müssen, die tatsächlichen Erkenntnisse, die der Senat des LSG zu haben behauptet, zu überprüfen und gegebenenfalls Gegenbeweise anzubieten (vgl Bundessozialgericht -BSG- in SozR 1500 § 128 Nr 15).
Welche Anforderungen nach Ansicht des LSG die genannten Verweisungsberufe stellen, ist aber auch selbst dem Urteil des LSG nicht zu entnehmen. Lediglich die folgenden Ausführungen des LSG vermitteln ein ungefähres Bild, welche Anforderungen nach Auffassung des LSG bei den genannten Verweisungsberufen (gehobener Pförtner, Galerieaufseher, Museumsaufseher, Schloßaufseher) gestellt werden. Cerebralsklerotische Veränderungen lägen beim Kläger nicht vor. Das Erscheinungsbild des Klägers und sein Vortrag in der mündlichen Verhandlung ließen erkennen, daß er in der Lage sei, sich auf einen derartigen Arbeitsplatz einzustellen. Das Fehlen cerebralsklerotischer Veränderungen und ein gutes Auftreten und Erscheinungsbild vor Gericht führen das LSG zu der Erkenntnis, daß der Kläger die Anlernberufe innerhalb von drei Monaten ausüben kann. Das LSG scheint demnach besondere berufsspezifische Kenntnisse, die normalerweise auch einen Anlernberuf kennzeichnen, und eine längere Anlernzeit als drei Monate voraussetzen, nicht anzunehmen. In einen Anlernberuf, der normalerweise eine längere Anlernzeit als drei Monate voraussetzt, kann sich im allgemeinen in kürzerer Zeit nur ein Versicherter einarbeiten, der gewisse Vorkenntnisse hat. Geht das LSG aber hinsichtlich der genannten Verweisungsberufe davon aus, daß sie allgemein rascher erlernbar sind, so schließt das wiederum die Qualifikation der genannten Verweisungstätigkeiten als sonstige Ausbildungsberufe (angelernte Tätigkeiten) aus, auf die ein Facharbeiter im allgemeinen nur verwiesen werden kann (vgl das Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1980 - 5 RJ 98/80 -). Das LSG durfte somit die Prüfung des bisherigen Berufs des Klägers nicht dahingestellt sein lassen.
Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen sowie zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Das Berufungsgericht wird auch über die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen