Leitsatz (redaktionell)

Wird ein "einheitlicher" Anspruch auf Erhöhung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf verschiedene Begründungen gestützt, so muß über alle Streitpunkte, die die begehrte Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit umfaßt, sachlich entschieden werden.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 1 Fassung: 1966-12-28; SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

1)

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. September 1971 insoweit aufgehoben, als das Landessozialgericht hinsichtlich des Anspruchs des Klägers auf höhere Versorgungsrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. August 1970 als unzulässig verworfen hat; in diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

2)

Im übrigen wird die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. September 1971 als unbegründet zurückgewiesen.

3)

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.

 

Gründe

I

Die Versorgungsbehörde gewährte dem Kläger im Wege des Härteausgleichs mit Bescheid vom 5. Oktober 1959 vom 1. Juni 1957 an Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. wegen

1)

traumatischen Hirnschadens mit zentralen vasovegetativen Regulationsstörungen und Hirnleistungsschwäche;

2)

Zustand nach Bindehautdeckung nach perforierender Verletzung mit Pupillenverziehung in diesem Bereich (rechtes Auge).

Die Gewährung einer Pflegezulage wurde abgelehnt.

Der Kläger stellte im Juli 1960 einen Verschlimmerungsantrag und vertrat darin die Auffassung, auch eine Wesensveränderung müsse nunmehr als Schädigungsfolge anerkannt werden. Die Versorgungsbehörde ließ den Kläger durch Dr. B untersuchen, der zu dem Ergebnis kam, daß neurologischerseits kein Anlaß bestehe, die MdE zu erhöhen. Sie erteilte den Bescheid vom 20. September 1961, mit welchem sie dem Kläger Versorgung, wie in dem Bescheid vom 5. Oktober 1959, jedoch ab 1. Juni 1960 als Rechtsanspruch, zuerkannte; sie lehnte mit einem weiteren Bescheid gleichen Datums eine Rentenerhöhung ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. September 1965).

Das Sozialgericht (SG) hat von Prof. Dr. P und Dr. M Gutachten eingeholt. Der Kläger hat vor dem SG beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide als weitere Schädigungsfolge "schwere Wesensveränderung" anzuerkennen und den Beklagten zu verurteilen, ihm vom 1. Juli 1960 an unter gleichzeitiger Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins sowie unter Berücksichtigung der Verschlimmerung der bereits anerkannten Schädigungsfolgen eine Versorgungsrente nach dem Gesamtgrad der MdE um mehr als 90 v. H., sowie vom gleichen Zeitpunkt an die einfache Pflegezulage zu gewähren. Das SG hat mit Urteil vom 19. August 1970 die Klage abgewiesen.

Im Berufungsverfahren hat der Kläger beantragt, in Abänderung der angefochtenen Entscheidungen den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger als weiteres Versorgungsleiden "Wesensveränderung" anzuerkennen und ihm vom 1. Juli 1960 an unter gleichzeitiger Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins Beschädigtenversorgung nach einem Grad der MdE um mehr als 90 v. H. zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 8. September 1971 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 19. August 1970 hinsichtlich des Anspruchs auf höhere Versorgungsrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins als unzulässig verworfen und die Berufung im übrigen zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Kläger könne nicht die Anerkennung einer Wesensänderung als weiterer Schädigungsfolge beanspruchen. Zwar bestehe bei ihm eine Wesensänderung, diese sei jedoch nicht auf die Einflüsse des Wehrdienstes, sondern auf eine vorzeitige Cerebralgefäßsklerose zurückzuführen; außerdem sei bei dem Kläger eine Schädelmißbildung vorhanden, die zu entsprechenden Krankheitserscheinungen, und zwar auch zu einer Wesensänderung geführt habe. Infolgedessen habe der Kläger wegen einer Wesensänderung keinen Anspruch auf eine höhere Rente.

Soweit der Kläger - unabhängig von der Wesensänderung - eine höhere Rente verlange, sei die Berufung nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen, weil es sich insoweit um eine reine Gradstreitigkeit handele, bei der weder die Gewährung der Grundrente noch die Schwerbeschädigteneigenschaft im Streit stehe. Da das SG weder die Berufung zugelassen habe noch ein Fall des § 150 Nr. 3 SGG vorliege, sei die Berufung nur bei Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels i. S. des § 150 Nr. 2 SGG statthaft. Der vom Kläger gerügte wesentliche Verfahrensmangel, nämlich eine Verletzung des § 103 SGG, liege jedoch nicht vor.

Soweit der Kläger eine Pflegezulage begehre, sei die Berufung unbegründet. Er sei nach eigenen Angaben nicht hilflos, so daß er nur unter den Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 BVG Pflegezulage beanspruchen könne; dieser Anspruch scheitere schon daran, daß der Kläger nicht erwerbsunfähiger Hirnverletzter sei.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 8. Oktober 1971 zugestellte Urteil am 3. November 1971 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 8. Januar 1972 am 7. Januar 1972 begründet. Er beantragt,

in Abänderung des Urteils des LSG Berlin vom 8. September 1971 das Urteil des SG Berlin vom 19. August 1970 und die Verwaltungsbescheide vom 20. September 1961 und 6. September 1965 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger als weiteres Versorgungsleiden "Wesensänderung" anzuerkennen und ihm vom 1. Juli 1960 an unter gleichzeitiger Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins Beschädigtenversorgung nach einem Grad der MdE um mehr als 90 v. H. zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des LSG Berlin vom 8. September 1971 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger eine Verletzung des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG und ferner, daß das LSG seine Berufung gegen das Urteil der ersten Instanz hinsichtlich des von ihm geltend gemachten Anspruchs auf höhere Versorgungsrente wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins als unzulässig verworfen habe, statt insoweit ein Sachurteil zu erlassen. Die Berufung sei schon deshalb zulässig, weil er auch die Gewährung einer Pflegezulage beantragt und ferner seinen Anspruch auf eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen gestützt habe. Das LSG habe ferner verkannt, daß sich auch sein Augenleiden verschlimmert habe.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung i. S. des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Kläger rügt zutreffend einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; er macht zu Recht geltend, das LSG habe hinsichtlich der beanspruchten höheren Rente wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins zu Unrecht ein Prozeßurteil - statt eines Sachurteils - erlassen (BSG in SozR Nrn. 17, 21, 163, 165 zu § 162 SGG; BSG 1, 283). Entgegen der Auffassung des LSG war nämlich die Berufung des Klägers nicht nach § 148 Nr. 3 SGG unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG vorlagen. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung - ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG - zulässig, wenn der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung oder des Todes ... mit einer Schädigung i. S. des BVG streitig ist oder das SG eine Gesundheitsstörung nicht als feststellbar erachtet hat. Aus dem Vorbringen des Klägers und seinen Anträgen sowohl vor dem SG als auch dem LSG ist deutlich erkennbar, daß er die Erhöhung seiner Versorgungsrente begehrte, wobei er sich für diese Erhöhung auf verschiedene Begründungen gestützt hat. Einmal soll sich sein Anspruch aus einer Verschlimmerung seiner anerkannten Schädigungsfolgen sowie dem Hinzutreten einer weiteren Schädigungsfolge ergeben, ferner soll dieser Anspruch auch deshalb begründet sein, weil der Grad der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins zu erhöhen sei. Daraus folgt aber, daß der Kläger hier keine "getrennten Ansprüche" auf Erhöhung des Grades der MdE, sondern einen "einheitlichen Anspruch" mit dem Ziele der Erhöhung seiner Rente geltend gemacht hat. Dieser einheitliche Rentenanspruch war aber auch dadurch gekennzeichnet, daß über die Wesensänderung und die damit möglicherweise verbundene Erhöhung der MdE, somit also über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer schädigenden Einwirkung i. S. des BVG im Berufungsverfahren gestritten wurde. Damit haben aber für das "einheitliche" prozessuale Begehren des Klägers die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG vorgelegen; demzufolge war - ungeachtet des § 148 Nr. 3 SGG - die Berufung insgesamt zulässig, also auch insoweit, als der Kläger die Erhöhung seiner MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins i. S. des § 30 Abs. 2 BVG begehrte. Wegen der Einheitlichkeit des erhobenen Anspruches im vorliegenden Fall konnte das LSG nicht etwa von einzelnen, voneinander getrennten prozessualen Ansprüchen auf Erhöhung der MdE ausgehen und die geltend gemachte Erhöhung wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins des Klägers prozessual "aussondern" und diesen Anspruch unter die Vorschrift des § 148 Nr. 3 SGG einordnen; vielmehr hätte das LSG insoweit jedenfalls die Berufung nicht durch Prozeßurteil als unzulässig verwerfen dürfen, sondern auch darüber sachlich entscheiden müssen, ob der Kläger wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins - im Zusammenhang mit der übrigen vom Kläger vorgetragenen Begründung - Anspruch auf eine höhere Rente als nach einer MdE um 70 v. H. hat (siehe auch dazu Urteil des erkennenden Senats vom 16.3.1972 - 10 RV 255/71 -). Ob dann anders zu verfahren ist, wenn der Kläger verschiedene, voneinander getrennte Ansprüche geltend macht, kann im vorliegenden Fall dahinstehen; jedenfalls ist aus der Fassung der Anträge des Klägers kein trennbarer Anspruch, der prozessual gesondert betrachtet werden kann, zu entnehmen. Da das LSG somit hinsichtlich der Frage des besonderen beruflichen Betroffenseins ein Prozeßurteil und kein Sachurteil erlassen hat, leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so daß die Revision statthaft ist.

Die Revision ist auch teilweise begründet.

Bei einer statthaften Revision hat das Revisionsgericht die Sach- und Rechtslage in vollem Umfang zu überprüfen. Der Kläger begehrte nach seinem Antrag in der Revisionsinstanz, unter Abänderung der Vorentscheidungen als weiteres Versorgungsleiden eine Wesensänderung anzuerkennen und ihm vom 1. Juli 1960 an unter gleichzeitiger Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins Beschädigtenversorgung nach einem Grad der MdE um mehr als 90 v. H. zu gewähren.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger nicht die Anerkennung einer "Wesensänderung" als weitere Schädigungsfolge verlangen kann. Dies wäre nur dann der Fall, wenn diese Gesundheitsstörung vorhanden ist und mit Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BVG) auf schädigenden Einwirkungen i. S. des § 1 Abs. 1 BVG unmittelbar oder mittelbar beruht. Das LSG hat aufgrund der vorhandenen ärztlichen Gutachten festgestellt, daß der Kläger zwar an einer Wesensänderung leidet, diese Gesundheitsstörung jedoch nicht auf schädigende Einwirkungen i. S. des BVG zurückzuführen ist; vielmehr sei - so hat das LSG weiter ausgeführt - die beim Kläger vorhandene Wesensänderung auf anlagebedingte Umstände, insbesondere auf eine Schädelanomalie, welche wiederum nicht Schädigungsfolge ist, zurückzuführen. Gegen diese Feststellungen des LSG sind begründete Revisionsrügen vom Kläger nicht erhoben, so daß die vom LSG insoweit getroffenen Feststellungen für den Senat gemäß § 163 SGG bindend sind. Steht aber für den Senat bindend fest, daß die beim Kläger vorhandene Wesensänderung nicht mit schädigenden Einwirkungen i. S. des BVG zusammenhängt, so ist hinsichtlich des vom Kläger geltend gemachten Anspruches auf Anerkennung dieser Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge die Revision unbegründet (§ 170 Abs. 1 SGG).

Soweit der Kläger die Erhöhung seiner MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins i. S. des § 30 Abs. 2 BVG geltend macht, konnte der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden. Da das LSG - verfahrensfehlerhaft - insoweit ein Prozeßurteil erlassen und keine Feststellungen getroffen hat, die dem erkennenden Senat eine abschließende Sachentscheidung ermöglichen, mußte - unter Zurückweisung der Revision im übrigen - die Sache in diesem Umfange aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, das nunmehr die erforderlichen Feststellungen hierzu nachzuholen hat (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670076

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