Leitsatz (amtlich)
Vorverfahren und Rechtsstreit über die Versicherungspflicht nach dem HwVG unterbrechen die Verjährung von Beitragsrückständen nach dem HVG.
Leitsatz (redaktionell)
Unterbrechung der Verjährung des Anspruchs auf Zahlung rückständiger Rentenversicherungsbeiträge und des Anspruchs auf Rückzahlung von zu Unrecht entrichteten Beiträgen nach RVO § 1420 Abs 2 und 3.
RVO § 1420 Abs 2 befaßt sich mit einer völlig anderen Frage als der Abs 1, nämlich nicht mehr mit der Fiktion einer fristgerechten Beitragsentrichtung, sondern mit der Verlängerung gesetzlicher Fristen.
Sind zwischen dem Versicherungsträger und dem auf Beitragsleistung in Anspruch Genommenen Meinungsverschiedenheiten aufgetreten und haben diese zu einem Verfahren geführt, so ist das Versicherungsverhältnis in einen Schwebezustand geraten, zumindest in einzelnen seiner Auswirkungen zweifelhaft geworden. Ein Rechtsverlust darf jedenfalls dann nicht eintreten, wenn zwischen dem rechtshängigen Anspruch und demjenigen, dem der Fristablauf droht, ein innerer Zusammenhang besteht.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 1420 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; HwVG § 9 Abs. 2 Hs. 1 Fassung: 1960-09-08, § 1 Abs. 5 Fassung: 1960-09-08
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. März 1968 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger ist seit 1954 als Metzgermeister in die Handwerksrolle eingetragen; er hat keine Beiträge nach den Vorschriften des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk (HVG) vom 21. Dezember 1938 entrichtet. Vom 20. September 1962 bis zum 29. Juni 1965 schwebten ein Vorverfahren und ein sozialgerichtliches Verfahren über die Versicherungspflicht des Klägers nach den Vorschriften des Gesetzes über eine Rentenversicherung der Handwerker (HwVG) vom 8. September 1960.
Mit Bescheid vom 6. August 1965 forderte die Beklagte von dem Kläger die Beiträge für das Jahr 1961 in Höhe von 840,- DM (§ 9 Abs. 1 und 2 iVm § 4 HwVG); diese Beiträge seien nach § 29 Abs. 1 iVm § 1420 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch nicht verjährt. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) Landshut hat am 13. Januar 1967 die Klage abgewiesen. Vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger ua geltend gemacht, der Gesamtbetrag seiner Einkünfte sei zu hoch angesetzt worden. Durch Urteil vom 14. März 1968 hat das LSG das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides aufgehoben. - Die Revision ist zugelassen worden.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Anspruch der Beklagten auf Zahlung von Beiträgen für das Jahr 1961 sei verjährt (§ 29 Abs. 1 RVO). Die Verjährung dieser nach dem HVG fällig gewesenen Beiträge sei nicht durch das die Versicherungspflicht des Klägers nach dem HwVG betreffende Vorverfahren und das anschließende Klageverfahren unterbrochen worden. Die Sonderregelung des § 1420 RVO erlaube zwar die Forderung von Beiträgen noch zu einer Zeit, zu der die Nachentrichtungsfristen des § 1418 RVO bereits abgelaufen seien; die Hemmung der Nachentrichtungsfrist trete aber nicht abstrakt durch jedes Beitrags- oder Rentenverfahren ein, sondern nur durch ein Verfahren, das den der Verjährung unterliegenden Anspruch selbst betroffen habe oder das für die Unterlassung der Nachentrichtung ursächlich gewesen sei. Die im Schrifttum vertretene, auf den unbestimmten Artikel (" eine Beitragsstreitigkeit ...", " ein Verfahren über einen Rentenanspruch ...") abstellende Auslegung der Vorschrift des § 1420 Abs. 2 RVO werde dem Sinn dieser Vorschrift nicht gerecht.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, daß die Rückstände aus dem Jahre 1961 noch nicht verjährt seien. Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet; sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Die Beitragsforderung der Beklagten für das Jahr 1961 ist nicht verjährt. Die Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich aus § 9 Abs. 2 Halbsatz 1 HwVG, die Anwendbarkeit der §§ 29 Abs. 1, 1420 Abs. 2 und 3 RVO aus § 1 Abs. 5 HwVG.
Die Verjährung der Beitragsforderung der Beklagten für das Jahr 1961, die mit Ablauf des Jahres 1963 hätte eintreten können (§ 29 Abs. 1 RVO), wurde durch das von September 1962 bis Juni 1965 schwebende Vor- und Klageverfahren unterbrochen. Nach § 1420 Abs. 2 und 3 RVO unterbrechen Beitragsstreitigkeiten im Vorverfahren gemäß § 80 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und Verfahren vor den Sozialgerichten die Verjährung. Um eine solche Beitragsstreitigkeit handelte es sich bei dem Streit zwischen dem Kläger und der Beklagten über die Versicherungspflicht nach dem HwVG.
Die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (Nr. 5446, AN 1941 S. II 398) und des Bundessozialgerichts (Urteil vom 26. Mai 1964 - 12/4 RJ 138/61, SozEntsch. BSG V § 1446 RVO Nr. 4), nach der ein Streitverfahren in der Arbeiterrentenversicherung die Verjährung von Beiträgen zur Angestelltenversicherung nicht unterbricht, steht der Rechtsauffassung des Senats nicht entgegen. Die historisch begründete Teilung der beiden Zweige der Rentenversicherung, die zum Erlaß eigener Gesetze für jeden Versicherungszweig geführt hat, mag es rechtfertigen, daß die Auswirkungen des § 1420 RVO einerseits und des § 142 Angestelltenversicherungsgesetz andererseits streng auf den unmittelbar eigenen Bereich beschränkt werden. Damit ist aber für die Beantwortung der Frage, welche Beitragsstreitigkeit im Sinne des § 1420 Abs. 2 RVO die Verjährung von Rückständen nach § 1420 Abs. 3 RVO innerhalb der Arbeiterrentenversicherung unterbricht, nichts gewonnen. Im übrigen betreffen die Beitragsschuld des Klägers für das Jahr 1961 und seine Versicherungspflicht vom 1. Januar 1962 an denselben Versicherungszweig. Die Pflichtbeiträge der Handwerker gehören seit dem 1. Januar 1962, auch wenn sie für eine Zeit vor dem Inkrafttreten des HwVG zu entrichten sind, aufgrund der Vorschrift des § 9 Abs. 2 Halbsatz 1 HwVG zur Arbeiterrentenversicherung.
Der Senat brauchte nicht zu entscheiden, ob - was das LSG verneinte - jede Beitragsstreitigkeit und jedes Verfahren über einen Rentenanspruch die Verjährungsunterbrechung bewirkt. Hier handelt es sich nämlich um einen Fall, in dem zwischen der Beitragsstreitigkeit (Versicherungspflicht nach dem HwVG vom 1. Januar 1962 an) und den Beiträgen (nach dem HVG für das Jahr 1961), deren Verjährung drohte, ein innerer Zusammenhang besteht. Unter diesen Umständen sieht der Senat keinen Grund, weshalb der zu Beginn der Beitragsstreitigkeit bestehende Rechtszustand nicht erhalten bleiben sollte. Der innere Zusammenhang liegt nicht nur in der Identität des Versicherungszweiges. Die Versicherungspflicht nach dem HwVG stellt praktisch die Fortsetzung der Versicherungspflicht nach dem HVG dar; die gesetzlichen Voraussetzungen, die Beiträge und die Auswirkungen der Beiträge auf eine spätere Leistung aus der Versicherung entsprechen sich.
Nicht zu folgen vermag der Senat der Rechtsauffassung des LSG, daß die Fristablaufhemmung nach § 1420 Abs. 2 RVO - und damit die Verjährungsunterbrechung nach § 1420 Abs. 3 - nur durch ein Verfahren eintrete, das den der Verjährung unterliegenden Anspruch selbst betroffen habe oder das für die Unterlassung der Beitragsentrichtung ursächlich gewesen sei. Dem Gebrauch des unbestimmten Artikels im Gesetz " eine Beitragsstreitigkeit" ist Bedeutung beizumessen. Die Wortfassung für sich allein gestattet zwar nicht die sichere Entscheidung, ob jede Beitragsstreitigkeit, eine gewisse Gruppe von Beitragsstreitigkeiten oder etwa nur eine bestimmte Beitragsstreitigkeit unter die genannten Vorschriften fällt. Jedoch dürfen bei der Auslegung die Gliederung und der übrige Inhalt des § 1420 RVO nicht außer acht bleiben. Die Tatbestandsmerkmale des § 1420 Abs. 1 RVO - Mahnung und Bereiterklärung - beschränken sich wohl auf bestimmte Beiträge. § 1420 Abs. 2 RVO befaßt sich mit einer völlig anderen Frage als der Absatz 1, nämlich nicht mehr mit der Fiktion einer fristgerechten Beitragsentrichtung, sondern mit der Verlängerung gesetzlicher Fristen. Für diese Regelung braucht nicht zu gelten, was für die Regelung in Absatz 1 anzunehmen ist. Für die Fristverlängerung kann, wenn sie etwa durch das Schweben eines Verfahrens über einen Rentenanspruch bedingt ist, eine Tatsache maßgebend sein, die nach den allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts über die Verjährungsunterbrechung keine Bedeutung hätte. In die Vorschrift des § 1420 Abs. 2 RVO sind sogar die Fristen der Beitragserstattungen nach den §§ 1303, 1304 RVO einbezogen, was im Schrifttum als eine Systemwidrigkeit angesehen wird (Kommentar zur RVO, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Anm. 8 zu § 1303 RVO). Aus dem Gesamtbild dieser Regelung läßt sich der Schluß ziehen, daß der Gesetzgeber eine Fristenhemmung für jeden Fall einer Unklarheit über das Versicherungsverhältnis gewollt haben könnte. Jedenfalls ist keine zwingende Notwendigkeit erkennbar, in diesem Zusammenhang den Begriff der "Beitragsstreitigkeit" - etwa entsprechend den Regeln des bürgerlichen Rechts über die Verjährung - eng auszulegen.
Gegen eine zu enge Auslegung sprechen auch Sinn und Zweck der Vorschrift des § 1420 Abs. 2 RVO. Mit ihr soll der Rechtsuchende während eines Verfahrens in einer Angelegenheit der Rentenversicherung vor einem Rechtsverlust, der in der Zwischenzeit eintreten könnte, bewahrt werden. Was einen Rechtsverlust darstellt, ist allerdings oft schwer zu erkennen, weil die Versicherungspflicht zugleich Rechte und Pflichten begründet. Deutlich wird die Notwendigkeit eines Schutzes dann, wenn - was aus dem hier zu entscheidenden Fall mit anderen Vorzeichen abgeleitet werden könnte - der auf Beitragszahlung in Anspruch Genommene im Verfahren zwar das Bestehen der Beitragspflicht bestreitet, aber für den Fall der Feststellung seiner Beitragspflicht die Nachentrichtung von Beiträgen für einen früheren Zeitraum wünscht, um - wenn er schon versichert sein muß - einen möglichst hohen Leistungsanspruch zu erwerben. Wollte man nun von einem solchen Kläger verlangen, daß er gleichzeitig das Recht auf Nachentrichtung von Beiträgen für den früheren Zeitraum geltend macht, um den Fristenablauf zu hemmen, so würde man ihn zu einem Verhalten zwingen, das seinen eigentlichen Vorstellungen und Wünschen widerspricht. Den sinnvollen Ausgleich bietet die Fristablaufhemmung des § 1420 Abs. 2 RVO, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Begriff der Beitragsstreitigkeit weiter, als es das LSG getan hat, ausgelegt wird. Sind zwischen dem Versicherungsträger und dem auf Beitragsleistung in Anspruch Genommenen Meinungsverschiedenheiten aufgetreten und haben diese zu einem Verfahren geführt, so ist das Versicherungsverhältnis selbst in einen Schwebezustand geraten, zumindest in einzelnen seiner Auswirkungen zweifelhaft geworden. Ein Rechtsverlust darf dann jedenfalls nicht eintreten, wenn zwischen dem rechtshängigen Anspruch und demjenigen, dem der Fristablauf droht, ein innerer Zusammenhang besteht. - Die von der Beklagten hier geltend gemachte Verjährungsunterbrechung (§ 1420 Abs. 3 RVO) tritt unter den gleichen Voraussetzungen wie die Fristablaufhemmung ein. Räumt man dem Versicherten eine Vergünstigung ein, so kann diese dem Versicherungsträger unter ähnlichen Voraussetzungen nicht versagt werden. Mit dieser Auffassung stimmt im wesentlichen das Schrifttum überein (Koch/Hartmann, AVG, 2. Aufl., Anm. 2 b zu § 190 AVG, § 1444 RVO, S. 673; Hanow/Lehmann/Bogs, RVO, 4. Buch, 5. Aufl., Anm. 5 zu § 1420; wohl auch Dersch/Knoll/Brockhoff ua, RVO-Gesamtkommentar, Anm. 2 zu § 1420 RVO; aA anscheinend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 652 a und S. 744 - vor allem im Zusammenhang mit der Beitragserstattung nach § 1303 RVO -).
Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat nicht möglich; das LSG ist - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - auf die Einwendungen des Klägers gegen die Höhe der von ihm geforderten Beiträge nicht eingegangen und hat insoweit keine Feststellungen getroffen. Der Rechtsstreit wird daher an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen