Leitsatz (amtlich)
Eine "Darlegungspflicht" der Beteiligten in dem Sinn, daß das Gericht allgemein Tatsachen, welche von den Beteiligten nicht vorgebracht sind, nicht zu berücksichtigen habe und nicht in seine Ermittlungen und Feststellungen einbeziehen dürfe, besteht in dem von der "Untersuchungsmaxime" beherrschten sozialgerichtlichen Verfahren nicht (Ergänzung zu BSG 1955-09-14 10 RV 490/55 = SozR Nr 3 zu § 103 SGG).
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. Mai 1969 wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt eine Witwenrente (die sogenannte "wiederaufgelebte" Witwenrente) nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes. Sie lebt seit 1930 in B. 1934 hat sie W B den Versicherten) geheiratet. Aus dieser Ehe stammen eine 1935 geborene Tochter und ein 1936 geborener Sohn. Der Versicherte ist im Dezember 1944 gefallen; für ihn sind an Versicherungszeiten zur Angestelltenversicherung 132 Monate und zur früheren Invalidenversicherung 60 Wochenbeiträge nachgewiesen. Die Klägerin hat nach ihren Angaben zwar Waisenrente für die beiden Kinder, für sich selbst aber weder Leistungen aus der Rentenversicherung noch Versorgungsbezüge erhalten.
Im April 1949 heiratete die Klägerin H F, der im Dezember 1965 starb. Im Februar 1966 beantragte sie die Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab, weil die Klägerin nach der Satzung der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) im Zeitpunkt ihrer zweiten Heirat keinen Anspruch auf Witwenrente gehabt habe (Bescheid vom 15. August 1966). Mit der Klage machte die Klägerin geltend, sie sei im April 1949 erwerbsunfähig und deshalb zum Bezug von Witwenrente berechtigt gewesen. Die Vorinstanzen verneinten den Anspruch der Klägerin auf die "wiederaufgelebte" Rente. Das Landessozialgericht (LSG) führte aus (Urteil vom 6. Mai 1969): Entscheidend sei, ob die Klägerin bei ihrer Wiederheirat im April 1949 einen Anspruch auf Witwenrente nach dem damals für sie maßgebenden Recht gehabt habe. Nach § 52 Abs. 1a der Satzung der VAB sei Hinterbliebenenrente an die erwerbsunfähige Witwe gewährt worden, wenn für den Verstorbenen zur Zeit seines Todes die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten gewesen sei, was bei dem Versicherten zugetroffen habe. Es habe sich jedoch nicht feststellen lassen und sei daher nicht nachgewiesen, daß die Klägerin damals erwerbsunfähig im Sinne von § 51 Abs. 1 der Satzung gewesen sei. Nach den vorhandenen ärztlichen Befunden sei die Klägerin bis 5. März 1948 (durch Frau Dr. F) und wieder ab 26. Juni 1951 (durch Dr. G) behandelt worden. Es fehle also gerade an Befunden für die Zeit der Wiederheirat. Nach zwei Vermerken auf der Ausweiskarte des Arbeitsamtes sei die Klägerin zwar aufgrund einer amtsärztlichen Entscheidung bis 31. Januar 1948 als arbeitsunfähig bezeichnet und im Februar 1948 ohne Angabe von Gründen von der Meldepflicht beim Arbeitsamt widerruflich befreit worden; auch diese Eintragungen besagten jedoch zur Frage der Erwerbsunfähigkeit im April 1949 nichts. Der vom Sozialgericht (SG) herangezogene ärztliche Sachverständige habe sich wegen der unzulänglichen Unterlagen zum Gesundheitszustand der Klägerin im April 1949 nicht äußern können. Aus den von der Klägerin im Verhandlungstermin am 6. Mai 1949 übergebenen Bescheinigungen sei für den maßgebenden Zeitpunkt ebenfalls nichts zu entnehmen. Der Senat habe auch keinen Anlaß gehabt (entsprechend der Anregung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung), noch bei den Ärzten Dr. S und Dr. P anzufragen, wann die Klägerin bei diesen Ärzten behandelt worden sei. Die Klägerin hätte, wenn sie von ihrem Vorbringen in erster Instanz abweichen wollte, mindestens behaupten müssen, daß sie im April 1949 von einem dieser beiden Ärzte behandelt worden sei. Dieser "Darlegungspflicht" sei sie nicht nachgekommen. Erwerbsunfähigkeit der Klägerin nach § 53 der Satzung der VAB habe ebenfalls nicht vorgelegen, weil die Klägerin zur Zeit ihrer Heirat nicht drei waisenberechtigte Kinder oder zwei waisenberechtigte Kinder unter sechs Jahren zu erziehen gehabt habe. Es fehle sonach an einem (früheren) Witwenrentenanspruch, der "wiederaufleben" könnte. Das LSG ließ die Revision nicht zu.
Die Klägerin legte frist- und formgerecht Revision ein.
Sie beantragte,
die Urteile des LSG Berlin vom 6. Mai 1969 und des SG Berlin vom 21. Oktober 1968 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. August 1966 zur Gewährung einer Witwenrente aus der Versicherung des W B ab Februar 1966 zu verurteilen.
Zur Begründung trug sie vor: Das LSG habe u.a. gegen die §§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Es habe noch Ermittlungen beim Magistrat von Groß-Berlin (Abteilung Arbeit), bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Gesundheit und Soziales, bei B Arbeitsämtern bzw. beim Landesarbeitsamt und beim Bezirksamt R darüber anstellen müssen, ob die Klägerin noch im Jahre 1949 beim Arbeitsamt registriert, jedoch vom Arbeitseinsatz befreit gewesen sei; falls dies zuträfe, müsse sie auch erwerbsunfähig gewesen sein, weil in B damals nur Erwerbsunfähige vom Arbeitseinsatz befreit worden seien. Hinzu komme, daß sie in der Verhandlung des LSG noch ärztliche Bescheinigungen über Behandlungen bei Dr. S und Dr. P im Juli 1948 vorgelegt habe. Jedenfalls durch eine Anfrage bei Dr. P hätte noch geklärt werden können, ob die Klägerin in den Jahren 1948 und 1949, wie sie behaupte, erwerbsunfähig gewesen sei.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
II
Die Revision ist zulässig nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; die Klägerin hat in der Revisionsbegründung zu Recht und in der gesetzlich gebotenen Form einen Verstoß des LSG gegen § 103 SGG gerügt.
Für die Frage, ob das LSG seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, verletzt hat, kommt es darauf an, welche Ermittlungen das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus noch hätte anstellen müssen. Sachlich-rechtlich ist das LSG erkennbar davon ausgegangen, für das "Wiederaufleben" der Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes nach Auflösung der zweiten Ehe genüge es, daß nach der Satzung der VAB zur Zeit der zweiten Heirat ein Anspruch auf Witwenrente bestanden habe (vgl. dazu Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 15. Februar 1962, BSG 16, 202). Die Revision wendet sich ausschließlich dagegen, daß das LSG einen Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente deshalb verneint hat, weil eine Erwerbsunfähigkeit der Klägerin im April 1949 nicht habe festgestellt werden können (§§ 52 Abs. 1 Buchst. a iVm § 51 der Satzung). Die Klägerin erblickt eine Verletzung der dem LSG obliegenden Sachaufklärungspflicht sowohl darin, (a) daß das LSG nicht weitere Ermittlungen dazu angestellt habe, ob die Klägerin im April 1949 bei der damals zuständigen Arbeitsverwaltung in B registriert, jedoch vom Arbeitseinsatz befreit gewesen sei, als auch darin, (b) daß das LSG nicht jedenfalls Dr. P dazu gehört habe, ob die Klägerin im April 1949 bei ihm behandelt worden und erwerbsunfähig gewesen sei.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verfahrensrüge der Klägerin zu a) durchgreift. Vermutlich hat das LSG weitere Ermittlungen bei den von der Klägerin in der Revisionsbegründung aufgeführten Dienststellen, insbesondere der Arbeitsverwaltung, deshalb nicht mehr für erforderlich gehalten, weil es festgestellt hat, bereits das SG habe erfolglos u.a. bei den Arbeitsämtern nach Unterlagen über die Klägerin geforscht (vgl. hierzu Bl. 18 bis 32a der SG-Akten; die Klägerin ist über das - negative - Ergebnis vom SG allerdings offenbar nur teilweise unterrichtet worden). Jedenfalls greift nämlich die Verfahrensrüge der Klägerin insoweit durch, als sie auf das Fehlen von Ermittlungen zu b) gestützt wird. Die Klägerin hat, wie sie zutreffend unter Hinweis auf die Sitzungsniederschrift in der Revisionsbegründung dargelegt hat, in der mündlichen Verhandlung des LSG u.a. eine Bescheinigung des Dr. P vom Juli 1948 vorgelegt, die immerhin ergeben hat, daß die Klägerin diesen Arzt damals in Anspruch genommen hat. Die Klägerin hat zwar nicht bestimmt erklärt, sie sei auch noch im April 1949 von diesem Arzt behandelt worden; im Hinblick darauf, daß es sich um Tatsachen gehandelt hat, die fast zwanzig Jahre zurückliegen, ist das aber verständlich gewesen. Dem Urteil des LSG ist nicht zu entnehmen, daß und warum das LSG etwa von vornherein davon hätte ausgehen können, weitere Ermittlungen über den Gesundheitszustand der Klägerin bei diesem Arzt seien zwecklos; das LSG hätte dies schon deshalb schwerlich annehmen können, weil nach der Sitzungsniederschrift noch während der Sitzung ermittelt worden ist, dieser Arzt stehe mit seiner Anschrift noch im Ärzteverzeichnis von Berlin; damit ist nicht auszuschließen gewesen, daß er auch noch Behandlungsunterlagen über die Klägerin besitzt. Gerade deshalb, weil die bisherigen Ermittlungen nach der Überzeugung des LSG für Feststellungen über den damaligen Gesundheitszustand der Klägerin nicht ausgereicht haben und die Klägerin sich im Hinblick auf den Zeitablauf in einem Beweisnotstand befindet, hat das LSG diese "letzte" Möglichkeit für eine weitere Sachaufklärung ausschöpfen, es hat sich unter den hier gegebenen Umständen zu Ermittlungen bei diesem Arzt "gedrängt" fühlen müssen. Es hat hiervon nicht deshalb absehen dürfen (vgl. Urteilsgründe S. 7), weil die Klägerin "wenn sie von ihrem Vorbringen in erster Instanz abweichen wollte, zumindest (hätte) behaupten müssen, im April 1949 von einem der beiden genannten Ärzte (zu denen Dr. P gehört) behandelt worden zu sein". Zunächst ist dem Urteil nicht zu entnehmen, inwiefern die Klägerin von ihrem Vorbringen in erster Instanz abgewichen ist. Vor allem ist es aber für die Pflicht des LSG, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Satz 1 SGG), nicht darauf angekommen, ob die Klägerin eine Behandlung durch Dr. P "behauptet" oder ob sie nur auf die Möglichkeit, dies sei der Fall gewesen, hingewiesen hat. Nach § 103 Satz 2 SGG ist das Gericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht nach § 103 Satz 1 SGG an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Es muß vielmehr in seine Ermittlungen und Feststellungen auch Umstände einbeziehen, die von den Beteiligten nicht vorgebracht, aber auch nicht auszuschließen sind oder über die die Beteiligten sich nur unvollständig oder unklar geäußert haben. Eine "Darlegungspflicht" der Beteiligten in dem Sinne, daß das Gericht Tatsachen, welche von den Beteiligten nicht vorgebracht sind, nicht zu berücksichtigen habe und nicht in seine Ermittlungen und Feststellungen einbeziehen dürfe, besteht in dem von der "Untersuchungsmaxime" beherrschten sozialgerichtlichen Verfahren gerade nicht. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied dieses Verfahrens zu dem Verfahren nach der Zivilprozeßordnung, das grundsätzlich - wenn auch mit wesentlichen Ausnahmen - von der "Verhandlungsmaxime", dem "Beibringungsgrundsatz" beherrscht wird (vgl. hierzu Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9.Aufl., § 63 II und III, 294, 298; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 29.Aufl., Anm. 3 C vor § 128). Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wie das LSG meint, aus dem Beschluß des BSG vom 14. September 1955 (SozR Nr. 3 zu § 103 SGG); in diesem Fall hat das Gericht nach der Überzeugung des Revisionsgerichts "seiner Untersuchungspflicht damit genügt", daß es den Prozeßbevollmächtigten zur Abgabe von Erklärungen (auf die es für seine Befugnis zur Prozeßvertretung angekommen ist), aufgefordert, der Prozeßbevollmächtigte jedoch überhaupt keine Erklärungen abgegeben hat. Auch diese Entscheidung begrenzt sonach die "Untersuchungspflicht" der Tatsacheninstanzen nicht allgemein auf das Vorbringen der Beteiligten; das LSG ist in diesem Fall bei der Erforschung des Sachverhalts auf die Mitwirkung des Prozeßbevollmächtigten durch Abgabe bestimmter Erklärungen "angewiesen" gewesen, aus diesem Grunde hat es andere Tatsachen, "welche die Beteiligten selbst nicht einmal vorgebracht haben", nicht noch ermitteln und feststellen müssen.
So ist es aber im vorliegenden Fall nicht gewesen. Hier hat es sich um die Feststellung von Tatsachen gehandelt, die nach den Umständen des Falles als entscheidungserheblich in Betracht gekommen sind und auch ohne "Mitwirkung" der Klägerin (etwa durch Abgabe bestimmter Erklärungen) vom LSG haben ermittelt werden können. Weil das LSG dieser Sachaufklärungspflicht nicht nachgekommen ist, hat es gegen § 103 SGG verstoßen. Die hierauf gestützte form- und fristgerechte Rüge der Klägerin macht die Revision zulässig nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG bei weiterer Sachaufklärung hinsichtlich des Gesundheitszustandes der Klägerin im April 1949 zu anderen Feststellungen und damit zu einer anderen Entscheidung über den von der Klägerin erhobenen Anspruch auf "wiederaufgelebte" Witwenrente kommt. Das Urteil des LSG ist deshalb aufzuheben. Die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen