Entscheidungsstichwort (Thema)

Frage des ursächlichen Zusammenhangs

 

Leitsatz (redaktionell)

Zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs:

In seiner Entscheidung vom BSG 1964-05-13 10 RV 371/62 (BSGE 21, 75) hat der erkennende Senat ausgesprochen, daß bei Verschlimmerung eines als Schädigungsfolge iS der Entstehung anerkannten Leidens eine höhere Rente nur dann gewährt werden kann, wenn "auch die Verschlimmerung in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung iS des BVG" steht.

In einem solchen Fall ist die Frage des Kausalzusammenhangs der festgestellten wesentlichen Verschlechterung mit dem kriegsbedingten Schaden streitig und die Berufung nach SGG § 150 Nr 3 zulässig.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, § 148 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 9. Mai 1974 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der im Jahre 1896 geborene Kläger erhält seit dem 1. September 1960 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. wegen "1. Narben am rechten Oberschenkel; 2. Innenohrschwerhörigkeit beiderseits, rechts stärker als links" (vgl. Ausführungsbescheid vom 3. Februar 1965). Im Oktober 1970 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag, weil sich sein Hörvermögen verschlechtert habe. Das Versorgungsamt (VersorgA) veranlaßte eine Begutachtung durch den Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO) Dr. K. Dieser kam in seinem Gutachten vom 15. Dezember 1970 zu dem Ergebnis, es handele sich um typische Merkmale der Altersschwerhörigkeit. Der Verschlimmerungsantrag wurde darauf durch Bescheid vom 25. Januar 1971/Widerspruchsbescheid vom 19. März 1971 abgelehnt.

Das Sozialgericht (SG) zog einen Befundbericht des HNO-Arztes Dr. Sch bei und holte ein Gutachten von Prof. Dr. Pf ein. Dieser meinte, unabhängig von der Frage, ob die Progredienz der Schwerhörigkeit auf das wehrdienstbedingte akustische Detonationstrauma zurückzuführen sei oder auf altersmäßige Einflüsse, sei es nach seiner Auffassung angemessen, den gesamten Hörschaden anzuerkennen die dadurch bedingte MdE betrage 40 v.H. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 3. Mai 1973 abgewiesen. Es stützte sich dabei auf das Gutachten von Dr. K und auf das im Vorprozeß vom Landessozialgericht (LSG) eingeholte Gutachten von Prof. Dr. K/Oberarzt Dr. E der Auffassung von Prof. Dr. Pf vermochte das SG nicht zu folgen. Das SG hat die Berufung zugelassen. Seine Berufung begründete der Kläger im wesentlichen damit, die durch Kriegseinwirkung hervorgerufene und als Schädigungsfolge anerkannte Innenohrschwerhörigkeit habe sich derart verschlechtert, daß das rechte Ohr heute völlig taub und das linke Ohr derart in Mitleidenschaft gezogen sei, daß ohne Hörgerät eine ausreichende Verständigung gänzlich ausgeschlossen sei. Das Verfahren des SG leide an einem wesentlichen Mangel, weil sich das SG allein auf das Gutachten von Dr. K gestützt, die weiteren fachärztlichen Beurteilungen aber außer Acht gelassen habe.

Das LSG hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 9. Juli 1974 als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, die Berufung sei nach § 148 Nr. 3 SGG nicht statthaft. An die von dem SG ausgesprochene Zulassung der Berufung sei das LSG nicht gebunden, weil es sich nicht um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handele. Die Berufung sei auch nicht nach § 150 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig. Die vom Kläger gerügten wesentlichen Verfahrensmängel lägen nicht vor.

Der Kläger hat gegen dieses Urteil mit einem von ihm persönlich unterzeichneten Schreiben vom 16. Mai 1974 Revision eingelegt. Gleichzeitig hat er unter Beifügung eines Armutszeugnisses (§ 167 SGG i.V.m. § 118 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) beantragt, ihm das Armenrecht zu bewilligen und einen Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigten beizuordnen. Durch Beschluß des Senats vom 9. August 1974 ist dem Kläger das Armenrecht bewilligt und Rechtsanwalt K in K zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung seiner Rechte beigeordnet worden. Der Kläger hat mit Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 26. August erneut Revision eingelegt.

Er beantragt,

1)

dem Kläger wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren;

2)

unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Landessozialgerichts Bremen, verkündet am 9. Mai 1974, den Anträgen des Klägers in der Berufungsinstanz zu entsprechen;

3)

hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz, möglichst an einen anderen Senat, zu verweisen;

4)

der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

In seiner Revisionsbegründung rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts und bezeichnet als verletzt die Vorschriften der §§ 140, 158, 159, 150 SGG. Er trägt dazu vor, das SG habe in seinem Urteil vom 3. Mai 1973 die Berufung ausdrücklich zugelassen. An diese Zulassung sei das LSG gebunden gewesen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts habe die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung gehabt, weil es auch um die Frage des Kausalzusammenhangs gegangen sei. Im übrigen sei die Berufung ohnehin nach § 150 SGG zulässig gewesen. Der Kläger habe zu Recht wesentliche Mängel im Verfahren des SG gerügt. Schließlich ergebe sich die Zulässigkeit der Berufung aus § 150 Nr. 3 SGG, weil die Frage des ursächlichen Zusammenhangs der Gesundheitsstörungen des Klägers mit seinem Versorgungsleiden streitig gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Sie ist dem Vorbringen des Klägers entgegengetreten.

Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Dem Kläger war auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) gegen die Versäumung der Revisionsfrist und - auch ohne besonderen Antrag - gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist (§ 164 SGG) zu gewähren. Der Kläger ist durch seine Mittellosigkeit (vgl. § 114 Abs. 1 ZPO) gehindert gewesen, rechtzeitig und formgerecht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 SGG) Revision einzulegen. Nachdem ihm durch den Beschluß des Senats vom 9. August 1974 das Armenrecht bewilligt und Rechtsanwalt K als Prozeßbevollmächtigter beigeordnet worden war, hat der Kläger den Antrag auf Wiedereinsetzung rechtzeitig gestellt und die versäumten Prozeßhandlungen - Einlegung und Begründung der Revision - nachgeholt (§ 67 Abs. 2 SGG). Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann über den Antrag auf Wiedereinsetzung im Urteil entschieden werden; ein besonderer Beschluß ist hierzu nicht erforderlich. Die nachgeholten Prozeßhandlungen entsprechen nach Form und Inhalt den Erfordernissen, die das Gesetz für diese Prozeßhandlungen vorschreibt (§ 164 SGG). Die Revision ist daher von dem Kläger frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Das Rechtsmittel ist auch insoweit erfolgreich, als es zur Aufhebung und Zurückverweisung führt.

Das LSG hat die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen. Die Revision ist daher nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG i.S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (vgl. BSG 1, 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung i.S. des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Kläger rügt in seiner Revisionsbegründung in mehrfacher Hinsicht eine Verletzung der §§ 140, 158, 159, 150 SGG. Werden mehrere Verfahrensmängel gerügt, so genügt es, wenn einer dieser Verfahrensmängel vorliegt und die Revision trägt. In einem solchen Falle kommt es für die Statthaftigkeit der Revision nicht mehr darauf an, ob auch die übrigen Rügen durchgreifen (ständige Rechtsprechung des BSG; s. dazu auch SozR SGG Nr. 122 zu § 162).

Der Kläger rügt in erster Linie, daß das LSG die Berufung nicht durch Prozeßurteil habe verwerfen dürfen, sondern in der Sache habe entscheiden müssen (vgl. BSG in SozR SGG Nr. 17 zu § 162). Diese Rüge ist auch gerechtfertigt. Dabei kann dahinstehen, ob das LSG an die von dem SG in seinem Urteil vom 3. Mai 1973 ausgesprochene Zulassung der Berufung (§ 150 Nr. 1 SGG) gebunden gewesen ist (vgl. BSG in SozR SGG Nr. 18 zu § 162), oder ob die Berufung wegen der von dem Kläger gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des SG (§ 150 Ziff. 2 SGG) zulässig gewesen wäre. Jedenfalls rügt der Kläger zu Recht, daß das LSG übersehen und überhaupt nicht geprüft habe, daß die Berufung gemäß § 150 Nr. 3 SGG zulässig gewesen ist. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung "ungeachtet der §§ 144 bis 149" zulässig, wenn der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung i.S. des BVG streitig ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG umfaßt der ursächliche Zusammenhang i.S. dieser Vorschrift die Entstehung oder die Verschlimmerung einer Gesundheitsstörung durch ein schädigendes Ereignis (vgl. BSG 6, 87; 11, 161). Ist ein Leiden - hier die Hörschädigung - i.S. der Entstehung oder der Verschlimmerung als Schädigungsfolge anerkannt, so ist bei jeder weiteren Leidensverschlimmerung stets neu zu prüfen, ob und inwieweit diese noch Schädigungsfolge oder ob sie auf vom Wehrdienst unabhängige Umstände - hier Altersschwerhörigkeit - zurückzuführen ist (vgl. BSG 6, 87; 7, 56; 11, 161). In seiner Entscheidung vom 13. Mai 1964 (vgl. BSG 21, 75) hat der erkennende Senat weiter ausgesprochen, daß bei Verschlimmerung eines als Schädigungsfolge i.S. der Entstehung anerkannten Leidens eine höhere Rente nur dann gewährt werden kann, wenn "auch die Verschlimmerung in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung i.S. des BVG" steht.

Bei dem Kläger ist durch den Bescheid vom 3. Februar 1965, der in Ausführung des Urteils des SG Freiburg vom 8. Mai 1963 ergangen ist, als Schädigungsfolge u.a. anerkannt worden "Innenohrschwerhörigkeit beiderseits, rechts stärker als links", und zwar "hervorgerufen" (entstanden) durch schädigende Einwirkungen i.S. des § 1 BVG. Der Kläger erstrebte mit dem vorliegenden Verfahren die Gewährung einer höheren Rente nach einer MdE um 40 v.H. statt bisher 30 v.H. und machte dazu geltend, bei dem weiteren Nachlassen seines Hörvermögens handele es sich um eine Verschlimmerung seiner durch Kriegseinwirkung erlittenen Gesundheitsstörung. Das SG hat also prüfen müssen, ob die festgestellte Progredienz der Hörschädigung (vorwiegend links) auf das wehrdienstbedingte akustische Trauma - "Schlag durch Luftdruck", wie es der Kläger bezeichnet - oder auf altersmäßige Einflüsse (physiologischer Altersabbau) zurückzuführen ist. Dieser Verpflichtung ist das SG nachgekommen, wobei es unter Würdigung der fachärztlichen Gutachten zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die Gehörverschlechterung nicht mit Wahrscheinlichkeit mit der anerkannten Schädigungsfolge "in einen Zusammenhang zu bringen" ist (vgl. Bl. 7 des SG-Urteils). Erst nach dieser Feststellung hat das SG darüber entscheiden können, daß die von dem Kläger begehrte Erhöhung der MdE nicht gerechtfertigt ist.

Mit der Berufung hat der Kläger das Urteil des SG in seiner Gesamtheit angefochten. Die Berufung betraf zwar die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse (§ 62 BVG; § 148 Nr. 3 SGG). In erster Linie streitig war aber die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen der festgestellten wesentlichen Verschlechterung des Hörvermögens mit dem kriegsbedingten Detonationsschaden. Die Ursächlichkeit war - wie der Kläger zu Recht betont - "geradezu der Hauptstreit". Das LSG hätte daher die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern gemäß § 150 Nr. 3 SGG als zulässig ansehen und in der Sache entscheiden müssen. Jedenfalls aber hätte das LSG die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG zumindest prüfen und darlegen müssen, aus welchen Gründen es die Anwendung dieser Vorschrift verneint hat. Das Verfahren des LSG leidet daher an einem wesentlichen Mangel, so daß die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist. Die Revision ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es die hier streitige Frage des ursächlichen Zusammenhangs neu geprüft und selbständig darüber entschieden hätte. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die von dem Kläger angeregte Verweisung an einen anderen Senat des LSG ist im Gesetz nicht vorgesehen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647540

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