Leitsatz (amtlich)

Ein Facharbeiter kann zur Abwendung von Berufsunfähigkeit grundsätzlich nicht auf die Tätigkeit eines einfachen Pförtners nach MTL II Lohngruppe IV verwiesen werden (Weiterführung von BSG 1977-04-27 5 RJ 148/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 17).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; MTL 2

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 20.11.1978; Aktenzeichen L 3 J 253/77)

SG Lübeck (Entscheidung vom 01.08.1977; Aktenzeichen S 5 J 332/77)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. November 1978, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 1. August 1977 und die Bescheide der Beklagten vom 25. Februar 1976 und 13. Mai 1977 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Übergangsgeld vom 15. November 1975 bis 1. August 1976 zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um 8 1/2 Monate Übergangsgeld.

Der 1942 geborene Kläger, gelernter Schlachter und seit 1966 als Koch beschäftigt gewesen, war im Anschluß an einen am 18. Mai 1974 erlittenen häuslichen Unfall mit Fußverletzung längere Zeit arbeitsunfähig krank. Er bezog vom 30. Juni 1974 bis zum 14. November 1975 - Ablauf der Rahmenfrist - Krankengeld, anschließend Sozialhilfe. Auf den bereits im Mai 1975 gestellten Antrag auf Berufsförderung schulte die Beklagte den Kläger in der Zeit vom 2. August 1976 bis 30. Juni 1977 zum Fernschreiber um und gewährte ihm Übergangsgeld. Seit 1. Juli 1977 arbeitet der Kläger im neuen Beruf.

Bereits am 9. Dezember 1975 hatte der Kläger bei der Beklagten ohne Erfolg Rente wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit und am 21. März 1977 Übergangsgeld bis zum 1. August 1976 - Beginn der Umschulung mit Übergangsgeld - beantragt (Ablehnungsbescheide der Beklagten vom 25. Februar 1976 und 13. Mai 1977). Die gegen beide Bescheide erhobenen Klagen hat das Sozialgericht (SG) verbunden und am 1. August 1977 abgewiesen. Mit dem angefochtenen Urteil vom 20. November 1978 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers, der nur noch Übergangsgeld für die Zeit vom 15. November 1975 (Krankengeld-Aussteuerung) bis einschließlich 1. August 1976 (Beginn der Umschulung mit Übergangsgeld) begehrt hatte, zurückgewiesen: § 1241 e Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) stütze den Anspruch des Klägers nicht. In Bezug hierauf fehle es sowohl an einer abgeschlossenen medizinischen Maßnahme zur Rehabilitation als auch an einem Übergangsgeld, das weitergewährt werden könne. Nach § 1241 d Abs 1 Satz 2 RVO habe der Kläger keinen Anspruch, weil er während des streitigen Zeitraumes nicht berufsunfähig im Sinne von § 1246 Abs 2 RVO gewesen sei. Der Kläger sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aus medizinischer Sicht in der Lage gewesen, leichte Arbeiten vollschichtig im Wechselrhythmus ohne längeres Stehen und ohne Lärmeinwirkung zu verrichten. Er habe insbesondere als Pförtner nach Lohngruppe IV, Fallgruppe 3 des Manteltarifvertrags für die Arbeiter der Länder (MTL II) tätig sein können; eine solche Tätigkeit sei ihm, der als Koch wie eine gelernte Kraft eingesetzt und entlohnt worden sei, zufolge ihrer Anforderungen auch zuzumuten gewesen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Er bringt vor, es möge richtig sein, daß ein Anspruch auf das "Überbrückungs-Übergangsgeld" nach § 1241 e RVO nicht bestehe. Dagegen sei sein Begehren nach § 1241 d RVO begründet. Das LSG habe zu Unrecht seine vorübergehende Berufsunfähigkeit (§ 1276 RVO) verneint. Es habe ihn unzulässig auf eine Pförtnertätigkeit verwiesen, die in einer Tarifgruppe untergebracht sei, die nur Ungelernte erfasse. Eine solche Tätigkeit stehe noch unter der eines Pförtners nach dem Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT) Gruppe X, auf den das Bundessozialgericht (BSG) einen Facharbeiter nicht verwiesen habe (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 17). Im übrigen habe das LSG seine Eignung und Befähigung für eine Pförtnertätigkeit verfahrensfehlerhaft unter Verstoß gegen Artikel 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG), §§ 62, 128 Abs 1 und 2 und 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festgestellt.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 1. August 1977 sowie die Bescheide der Beklagten vom 13. Mai 1977 und 25. Februar 1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 15. November 1975 bis zum 1. August 1976 Übergangsgeld zu zahlen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie stimmt dem angefochtenen Urteil zu.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet.

Hat ein Versicherter schon vor Beginn einer Maßnahme zur Rehabilitation ua Rente wegen Berufsunfähigkeit beantragt, so beginnt nach § 1241 d Abs 1 Satz 2 RVO das Übergangsgeld mit dem Zeitpunkt, von dem an Rente zu zahlen gewesen wäre. Diese Bestimmung ergänzt § 1240 RVO, nach welchem dem Betreuten während einer medizinischen oder berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation Übergangsgeld gewährt wird. Dieses auf den Zeitpunkt des fiktiven Rentenbeginns "vorgezogene" Übergangsgeld geht, wie nicht näher dargelegt zu werden braucht, davon aus, daß der Versicherte die Voraussetzungen für die Gewährung zumindest einer Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt. Das ist vorliegend der Fall. Der Kläger war seit seinem Unfall vom 18. Mai 1974 bis zum Abschluß der erfolgreichen Umschulung am 30. Juni 1977 berufsunfähig auf Zeit (§ 1276 iVm § 1246 Abs 2 RVO).

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 aaO kommt es bei der Bestimmung des Kreises der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist und die dem Versicherten unter Verneinung von Berufsunfähigkeit noch "zugemutet werden können", entscheidend auf dessen "bisherigen Beruf" (= "bisherige Berufstätigkeit") sowie auf dessen "besondere Anforderungen", dh auf seine positiv zu bewertenden Merkmale, insgesamt also auf den qualitativen Wert des bisherigen Berufs an. Von geringerem Gewicht ist dagegen die aaO weiter genannte Ausbildung; sie kennzeichnet allein den Weg, auf dem die den Beruf qualifizierenden "Kenntnisse und Fähigkeiten" (Satz 1 aaO) regelmäßig erworben werden. Deshalb ist dann, wenn ein Versicherter die für einen bestimmten Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen hat, dieser doch sein "bisheriger Beruf", wenn er ihn nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hat; dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn er entsprechend entlohnt worden ist (vgl zu alledem mit zahlreichen Nachweisen BSGE 41, 129 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 29).

Bisheriger Beruf des Klägers in diesem Sinne ist, wie das LSG zutreffend angenommen hat, der des Kochs. Diesen Beruf hat der Kläger seit 1966 bis zum Unfall am 18. Mai 1974 ausgeübt, und zwar, wie das LSG unangefochten festgestellt hat, "wie eine gelernte Kraft", dh vollwertig, ferner gegen eine Entlohnung wie eine Fachkraft. Diesen bisherigen Beruf kann der Kläger, worüber kein Streit besteht, seit dem Unfall vom 18. Mai 1974 nicht mehr ausüben.

Der Kreis der Tätigkeiten, die dem Kläger nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO "zugemutet werden können", auf die er also, wie ausgeführt, unter Ablehnung von Berufsunfähigkeit noch verwiesen werden kann, bestimmt sich nach dem soeben Dargestellten in der Hauptsache nach dem qualitativen Wert des bisherigen Berufs des Kochs; ihm muß eine Tätigkeit, auf die der Kläger verwiesen wird, angemessen entsprechen. Nach der BSG-Rechtsprechung (vgl BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSGE 45, 276 = SozR 2200 § 1246 Nr 27; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 34; der erkennende Senat aaO) spiegelt die tarifliche Einstufung eines Berufs durch die unmittelbar am Arbeitsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise (Tarifpartner) dessen qualitativen Wert relativ zuverlässig wider. Die tarifliche Einstufung ist daher ein geeignetes Hilfsmittel, die Qualität des bisherigen Berufs und damit zugleich die Breite der nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbaren Verweisung des Versicherten auf eine andere Berufstätigkeit zu ermitteln. Dabei hat die höchstrichterliche Rechtsprechung zusätzlich das Hilfsmittel des Mehrstufenschemas entwickelt. Es beruht auf der Überlegung, daß sich in der Berufswelt der Arbeiter, bezogen auf die tarifliche Bewertung der einzelnen Tätigkeiten, mehrere hierarchisch geordnete Gruppen auffinden lassen, die durch Leitberufe, nämlich die des Vorarbeiters mit Leitungsfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Arbeiters, des Facharbeiters, des Arbeiters in einem sonstigen Ausbildungsberuf (angelernter Arbeiter) und schließlich des Ungelernten charakterisiert werden. Wer mit seinem bisherigen Beruf einer dieser Gruppen angehört, kann jeweils nur auf eine Tätigkeit der nächstunteren Stufe verwiesen werden (vgl den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 29 und in der Entscheidung vom 4. Oktober 1979 - 1 RA 55/78).

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, daß der Kläger, der als Koch in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters fällt, zumutbar nur noch auf eine Tätigkeit verwiesen werden kann, die sich in der Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufes (Angelernten) findet.

Entgegen der Auffassung des LSG umfaßt die Lohngruppe IV MTL II keine Berufe, die durch den Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufes charakterisiert werden. Zwar spricht die Nr 1 aaO davon, daß von dieser Lohngruppe "angelernte Arbeiter, das sind Arbeiter mit Tätigkeiten, die eine handwerkliche oder fachliche Anlernung erfordern", erfaßt werden. Indessen versteht das Lohngruppenverzeichnis aaO unter Anlernung offensichtlich das, was die höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 1246 Abs 2 RVO unter einer kurzfristigen "Einweisung und Einarbeitung" versteht und von der Gruppe der echt Angelernten gerade abgrenzt (vgl BSGE 43, 243, 245). Es wäre sonst nicht möglich, daß die Lohngruppe IV aaO Arbeiter an Bürovervielfältigungsmaschinen, Arbeiter mit einfachen Arbeiten in der Fotografie, Arbeiter mit einfachen Kopierarbeiten, Lichtpausarbeiter, Aktenhefter, Aktenkleber, Klärarbeiter und Wagenpfleger anführt. Den Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs (Anlernberuf) führt dagegen erst die Lohngruppe V aaO auf; er ist dort mit "Arbeiter mit erfolgreicher abgeschlossener Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf von weniger als 2 1/2 Jahren" einerseits vom echten Facharbeiterberuf, andererseits von der bloßen Einarbeitung und Einweisung hinreichend abgegrenzt und umrissen. Dementsprechend findet sich erst in der Lohngruppe V der mit schwierigen Aufgaben - schriftliche Arbeiten, Fernsprechvermittlungsdienst - betraute Pförtner.

Charakterisiert mithin die Lohngruppe IV MTL II nicht den sonstigen Ausbildungsberuf, so ist dem Kläger eine einfache Pförtnertätigkeit nach dieser Lohngruppe unzumutbar.

Der Senat stimmt dabei mit der Entscheidung des 5. Senats des BSG vom 27. April 1977 (SozR 2200 § 1246 Nr 17) überein. Dort hatte es der 5. Senat abgelehnt, einen Facharbeiter auf eine "einfache" Pförtnertätigkeit im öffentlichen Dienst nach BAT X/IX zu verweisen; diese Vergütungsgruppen erfaßten ausschließlich einfache Tätigkeiten, die allenfalls eine kurzfristige Einarbeitung und Einweisung, nicht aber einer echten Ausbildung bedürften. Dies aber trifft, wie soeben ausgeführt, in gleicher Weise auf die Tätigkeiten nach Lohngruppe IV MTL II zu.

Nach den nicht angegriffenen, für den Senat nach § 163 SGG bindenden Feststellungen ist der Kläger hauptsächlich wegen bleibender Gesundheitsstörungen am rechten Arm, am rechten Bein und am rechten Fuß nur noch fähig, leichte Arbeiten "im Wechselrhythmus" und bei Anmarschwegen bis zu 1000 m zurückzulegen. Dem Senat wird nicht einsichtig, welche Arbeiten mit dem qualitativen Wert eines sonstigen Ausbildungsberufs der Kläger bei vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Schlachters und Kochs nach dem Unfall vom 18. Mai 1974 und vor abgeschlossener Umschulung als Fernschreiber hätte ausüben können. Es muß daher davon ausgegangen werden, daß der Kläger ab seinem Unfall bis zur vollzogenen Umschulung berufsunfähig war. Rente hierwegen stand ihm vom Beginn der 27. Woche nach dem Unfall zu (§ 1276 Abs 1 RVO), wobei das Krankengeld nach § 183 Abs 5 Satz 1 RVO zu kürzen gewesen wäre. Der Kläger hat seinen Anspruch jedoch ausdrücklich auf die Zeit ab 15. November 1975 beschränkt. Anstelle der an sich zustehenden Rente wegen Berufsunfähigkeit ist ihm von da an, wie oben ausgeführt, das vorgezogene Übergangsgeld nach § 1241 d Abs 1 Satz 2 RVO zu gewähren. Entsprechend war die Beklagte zu verurteilen.

Bei diesen Gegebenheiten kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen auch des § 1241 e RVO erfüllt gewesen wären, was der Kläger indessen in der Revisionsbegründung selbst deutlich in Frage gestellt hat.

Gemäß § 193 SGG war ferner zu entscheiden, daß die Beklagte dem voll obsiegenden Kläger die außergerichtlichen Kosten des gesamten Streitverfahrens zu erstatten hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654994

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