Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenhauspflegebedürftigkeit. Krankenhauspflege. Pflegefall
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Krankheit verursacht Krankenhauspflegebedürftigkeit nicht nur dann, wenn eine Heilung oder Besserung zu erwarten ist und die Krankenbehandlung dem Zweck dient, eine Entlassung zu erreichen, sondern auch dann, wenn die Behandlung im Krankenhaus eine Verschlimmerung der Krankheit verhüten, das Leben verlängern oder Krankheitsbeschwerden lindern soll, sofern die genannten Ziele nur im Rahmen stationärer Behandlung im Krankenhaus erreichbar sind.
2. Die Überwachung bei der Nahrungsaufnahme und Medikamenteneinnahme bedarf keiner Krankenhauspflege, eine solche Beaufsichtigung hätte auch außerhalb des Krankenhauses durch geeignete Pflegepersonen geschehen können.
Orientierungssatz
Ein Pflegefall iS des RVO § 216 Abs 1 Nr 4 ist anzunehmen, wenn der Versicherte zwar ständig pflegebedürftig ist, die dauernde Betreuung in der Familie oder in einem Heim jedoch bei ambulanter ärztlicher Behandlung durchgeführt werden kann (vergleiche Urteil vom 1979-01-25 3 RK 83/78 = Breith 1979, 856; Urteil vom 1979-10-11 3 RK 72/78).
Normenkette
RVO § 184 Abs. 1 Fassung: 1970-12-21, § 216 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1967-12-21
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.08.1978; Aktenzeichen L 16 Kr 87/76) |
SG Münster (Entscheidung vom 01.06.1976; Aktenzeichen S 14 Kr 22/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1978 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Ersatz von Krankenhauspflegekosten.
Die Beigeladene ist als Rentnerin bei der beklagten Krankenkasse pflichtversichert. Wegen eines Verwirrtheitszustandes aufgrund einer Cerebralsklerose wurde sie am 30. Juli 1971 zur stationären Behandlung in das Landeskrankenhaus M eingewiesen. Die Beklagte trug zunächst die Kosten, lehnte aber ab 20. November 1973 eine weitere Kostenübernahme ab, da nach einem vertrauensärztlichen Gutachten von diesem Zeitpunkt an ein Pflegefall gegeben sei. Daraufhin übernahm der Kläger als zuständiger Sozialhilfeträger vorläufig die Kosten. Seinen Ersatzanspruch lehnte die Beklagte ab.
Das mit der Klage angerufene Sozialgericht hat ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K eingeholt und danach die Beklagte verurteilt, dem Kläger Ersatz für die Zeit ab 31. Juli 1974 zu leisten. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 1. Juni 1976). Aus dem Sachverständigengutachten gehe hervor, daß die Versicherte bereits vom November 1973 an zur Behandlung eines regelwidrigen Körperzustandes und nicht zur Verwahrung und Pflege untergebracht gewesen sei. Der Anspruch auf Kostenerstattung sei jedoch erst ab 31. Juli 1974 begründet, da nach vorheriger Aussteuerung an diesem Tage ein neuer Dreijahreszeitraum begonnen habe.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung, der Kläger Anschlußberufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat eine Auskunft der Ärztin am Landeskrankenhaus M Dr. H sowie ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. D eingeholt. Mit Urteil vom 17. August 1978 hat das LSG das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Zugleich hat es die Anschlußberufung des Klägers zurückgewiesen, mit der dieser die Kostenübernahme für die Zeit vom 20. November 1973 bis 30. Juli 1974 geltend gemacht hatte. Ein Anspruch auf Krankenhauspflege sei nicht schon dann zu bejahen, wenn die Unterbringung aufgrund eines zielstrebigen Heilplanes erfolge, der auf das Erkennen, die Besserung oder Linderung des Leidens ausgerichtet sei, sondern setze weiter voraus, daß die Behandlung die Beendigung des stationären Aufenthaltes zum Ziel habe. Wie sich aus dem Gutachten des Dr. D ergebe, sei bereits im November 1973 eine Entlassung der Versicherten aus der stationären Unterbringung nicht mehr zu erwarten gewesen. Aus den Krankenblättern der Jahre 1973 bis 1975 gehe ebenfalls hervor, daß in diesem Zeitraum regelmäßige ärztliche Maßnahmen nicht mehr getroffen worden seien. Es seien lediglich ein körperlicher Befund, 3 Untersuchungen und 5 Medikationen bei nächtlicher Unruhe vermerkt. Die ärztliche Kontrolle und medizinische Betreuung der Versicherten habe somit nur begleitenden Charakter gehabt und das Landeskrankenhaus vom Jahre 1973 an nur noch die Funktion einer ärztlich versorgten Pflegeanstalt wahrgenommen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die zugelassene Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 184 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Entgegen der Auffassung des LSG sei die Versicherte stationär behandelt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei Krankenhauspflege bereits dann erforderlich, wenn die Behandlung lediglich zur Linderung von Beschwerden durchgeführt werde und durch eine ambulante ärztliche Versorgung nicht ersetzt werden könne. Diese Voraussetzungen lägen nach dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten des Dr. K vor. Die Versicherte habe einer ständigen Überwachung bei der Nahrungsaufnahme und Medikamenteneinnahme bedurft. Das Gutachten des Dr. D sei rechtlich ohne Bedeutung, denn es nehme nur zu der nach der Rechtsprechung des BSG unerheblichen Frage Stellung, ob durch die stationäre Behandlung voraussichtlich eine Entlassung hätte erreicht werden können.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1978 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der stationären Unterbringung der Beigeladenen für die Zeit ab 20. November 1973 zu ersetzen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Versicherte sei als Pflege, nicht als Behandlungsfall anzusehen. Zwar habe das Berufungsgericht es entgegen der Rechtsprechung des BSG für entscheidend gehalten, ob die Behandlung auf die Beendigung des stationären Aufenthaltes ausgerichtet gewesen sei. Auch bei Zugrundelegung der nach der Rechtsprechung für die Abgrenzung zwischen Pflege- und Behandlungsfall maßgeblichen Kriterien ergebe sich jedoch aus den Feststellungen des angefochtenen Urteils, daß ein Pflegefall vorgelegen habe. Die Versicherte sei nicht im Rahmen eines gezielten Heilplanes ärztlich behandelt worden, vielmehr habe ihre pflegerische Versorgung im Vordergrund gestanden und den eigentlichen Grund des stationären Aufenthaltes gebildet. Ärztliche Behandlungen seien nur sporadisch erfolgt, so daß sie als nur begleitende Maßnahmen in den Hintergrund träten.
Die Beigeladene hat sich in dem Verfahren nicht geäußert und stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger die Kosten zu ersetzen, die er für die stationäre Unterbringung der Versicherten im Landeskrankenhaus M aufgewendet hat.
Nach § 1531 Satz 1 iVm §§ 1532, 1533 RVO kann ein Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen unterstützt hat, wenn diesem ein Anspruch nach der RVO gegen einen Krankenversicherungsträger zusteht, bis zur Höhe dieses versicherungsrechtlichen Anspruchs Ersatz verlangen. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, denn die Versicherte hatte in der fraglichen Zeit gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Krankenhauspflege. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß es sich bei dem Aufenthalt der Beigeladenen im Landeskrankenhaus M seit dem 20. November 1973 nicht mehr um eine Krankenhauspflege (§ 184 RVO) gehandelt hat. Vielmehr lagen die Voraussetzungen einer Unterbringung zur dauernden Pflege (§ 216 Abs 1 Nr 4 RVO) vor. Die Kosten dafür hat die Beklagte nicht zu tragen.
Nach § 184 RVO in der ab 1. Januar 1974 geltenden Fassung ist Krankenhauspflege zu gewähren, wenn die stationäre Aufnahme erforderlich ist, um die Krankheit zu erkennen, zu behandeln oder Beschwerden zu lindern. Bereits zum früheren Recht, das die Krankenhauspflege nur als Ermessensleistung vorsah, hat der Senat entschieden, daß es für die Frage, ob Krankenhauspflege zu gewähren ist, allein auf die medizinische Notwendigkeit ankommt. Diese ist auch dann zu bejahen, wenn die Behandlung eine Verschlimmerung des Leidenszustandes verhüten oder das Leben verlängern soll (vgl BSG SozR Nr 22 zu § 1531 RVO; SozR Nr 23 zu § 184 RVO).
Das Berufungsgericht hat als weitere Voraussetzung für die Annahme von Krankenhauspflege im Gegensatz zur dauernden Pflege nach § 216 Abs 1 Nr 4 RVO angenommen, daß die Behandlung im Krankenhaus auf die Beendigung des stationären Aufenthalts ausgerichtet sein müsse. Ein solches Erfordernis läßt sich jedoch aus § 184 RVO nicht ableiten. Die medizinische Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung braucht nicht davon abhängig zu sein, ob für den Kranken eine Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht. Dies hat der erkennende Senat bereits mehrfach und eingehend begründet entschieden (BSG Urteil vom 18. November 1969 - 3 RK 24/68 - DOK 1970, 173; Urteil vom 10. Oktober 1978 - 3 RK 81/77 - BSGE 47, 83, Urteil vom 11. Oktober 1979 - 3 RK 72/78 -). Auch das Urteil des Senats vom 17. Oktober 1969 (SozR Nr 23 zu § 184 RVO), auf das sich das LSG zur Begründung seiner Auffassung bezieht, weist darauf hin, daß Krankenhauspflege auch dann zu bejahen ist, wenn zwar bestimmte Folgen der Krankheit noch einer Behandlung zugänglich sind, das Grundleiden jedoch nicht mehr geheilt oder gebessert werden kann. Bereits die Ziele der Lebensverlängerung oder der Verhütung einer Verschlimmerung können die Erforderlichkeit einer Aufnahme ins Krankenhaus begründen, ohne daß zusätzlich ein auf die Entlassung des Patienten ausgerichteter Heilplan vorhanden sein müßte. Wesentlich ist lediglich, daß die genannten Ziele nur mit Hilfe der stationären Behandlung im Krankenhaus erreichbar sind, für die der Einsatz der besonderen apparativen Einrichtungen des Krankenhauses und das Vorhandensein eines jederzeit rufbereiten Arztes kennzeichnend ist (vgl BSG SozR Nr 22 zu § 1531 RVO). Für die Abgrenzung zum Pflegefall nach § 216 Abs 1 Nr 4 RVO bedeutet dies, daß ein Pflegefall anzunehmen ist, wenn der Versicherte zwar ständig pflegebedürftig ist, die dauernde Betreuung in der Familie oder in einem Heim jedoch bei ambulanter ärztlicher Behandlung durchgeführt werden kann (vgl Urteil vom 25. Januar 1979 - 3 RK 83/78 -; Urteil vom 11. Oktober 1979 - 3 RK 72/78 -).
Dies ist nach den Feststellungen in dem angefochtenen Urteil zu bejahen. Sie sind nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für das Revisionsgericht bindend; denn der Kläger hat die Tatsachenfeststellungen des LSG nicht gerügt, vielmehr das Urteil nur in materiell-rechtlicher Hinsicht angegriffen. Der Kläger hat innerhalb der Revisionsbegründungsfrist nur eine Verletzung des § 184 RVO geltend gemacht und dargelegt, daß bei einer richtigen Anwendung dieser Vorschrift nach seiner Auffassung der Klage hätte stattgegeben werden müssen.
Später hat der Kläger zwar erklärt, er habe damit auch eine mangelnde Sachaufklärung und unvollständige Beweisanordnung rügen wollen, allein diese Rüge ist unbegründet. Das LSG hat alle Tatsachen ermittelt, auf die es für die Entscheidung des Rechtsstreits ankommt. Der Kläger hat keinerlei Ausführungen darüber gemacht, welche Sachaufklärung das LSG nach seiner Meinung noch hätte vornehmen müssen oder welche durchgeführte Aufklärungsmaßnahme aus welchen Gründen unverwertbare Ergebnisse erbracht hätte.
Das LSG hat festgestellt, daß für die Versicherte seit November 1973 Maßnahmen der Pflege und Betreuung im Rahmen einer ständigen Unterbringung erbracht worden sind, ihre medizinische Betreuung hat in dieser Zeit nur noch begleitenden Charakter gehabt, und die Klinik hat die Funktion einer ärztlich versorgten Pflegeanstalt wahrgenommen. Daraus folgt, daß die ärztliche Versorgung der Versicherten auch hätte ambulant erfolgen können, sofern eine ordnungsgemäße pflegerische Betreuung sichergestellt gewesen wäre. Dafür spricht auch, daß die Krankenblätter bereits seit August 1972 regelmäßige ärztliche Maßnahmen nicht mehr erkennen lassen. Der Einwand des Klägers, die Versicherte habe einer ständigen Überwachung bei der Nahrungsaufnahme und Medikamenteneinnahme bedurft, ist demgegenüber unerheblich; denn eine derartige Beaufsichtigung hätte auch außerhalb des Krankenhauses durch geeignete Pflegepersonen geschehen können.
Die Abgrenzung zwischen Behandlungs- und Pflegefall kann nicht im pflegerischen Bereich erfolgen. Entscheidend ist allein, ob Krankenhauspflege in medizinischer Hinsicht notwendig war, dh ob die ärztliche Versorgung auf die in § 184 RVO genannten Behandlungsziele ausgerichtet war und nur mit den besonderen apparativen und personellen Mitteln eines Krankenhauses erfolgen konnte.
Da das LSG einen Ersatzanspruch des Klägers zu Recht abgelehnt hat, mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen