Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausgleichsanspruch wegen Härte im Versorgungsausgleich
Leitsatz (redaktionell)
Leitsatz (amtlich)
Der Rückausgleichsanspruch des Verpflichteten aus einem Versorgungsausgleich, der bereits Rentenleistungen bezogen hat, nach dem Vorversterben des Versorgungsberechtigten ist auf eine Einmalzahlung gerichtet und setzt keine Änderung der Rentenbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit voraus. Seine rückwirkende Erbringung ist nicht auf vier Jahre beschränkt (Fortführung von BSG vom 24.7.2001 - B 4 RA 94/00 R = SozR 3-5795 § 4 Nr 7).
Normenkette
VAHRG § 4 Abs. 1-2; SGB X § 44 Abs. 4, § 48 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 2006 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch dessen außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Berechtigung der Beklagten, den Ausgleichsanspruch des Klägers nach § 4 des Gesetzes zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG) für die Vergangenheit nach Maßgabe der § 48 Abs 4, § 44 Abs 4 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) zu beschränken.
Die Ehe des Klägers wurde durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Köln vom 16. November 1982 geschieden. Im Rahmen des Versorgungsausgleichs wurden Rentenanwartschaften aus der Ehezeit (1. November 1969 bis 30. September 1981) in Höhe von monatlich DM 163,60 von dem Versicherungskonto des Klägers auf das Versicherungskonto der geschiedenen Ehefrau übertragen.
Mit Bescheid vom 8. Januar 1997 bewilligte die Beklagte dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Dezember 1996 in Höhe von monatlich DM 1.945,25, wobei sie die durch den Versorgungsausgleich übertragenen Rentenanwartschaften (5,7085 Entgeltpunkte) nicht berücksichtigte. Seit dem 1. September 2005 bezieht der Kläger Regelaltersrente.
Die geschiedene Ehefrau des Klägers bezog vom 1. September 2002 bis zu ihrem Tode (17. Februar 2003) Rente wegen Erwerbsminderung in Höhe von insgesamt € 4.919,50; die Höhe der Rentenleistung aus den übertragenen Rentenanwartschaften betrug insgesamt € 892,75 und überschritt damit den von der Beklagten ermittelten Grenzbetrag in Höhe von € 3.582,88 nicht.
Auf den Antrag des Klägers vom 17. November 2003 auf ungekürzte Auszahlung seiner Rente ab 1. Dezember 1996 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Oktober 2004 Rente ohne Minderung um die im Rahmen des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften ab 1. Januar 1999; hierbei rechnete sie die Rentenleistungen der geschiedenen Ehefrau des Klägers aus den übertragenen Rentenanwartschaften an. Den weitergehenden Anspruch lehnte sie unter Hinweis auf § 48 Abs 4 iVm § 44 Abs 4 SGB X ab, weil eine rückwirkende Leistungsgewährung nur für vier Jahre in Betracht komme.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen Ausgleichsbetrag auch für die Zeit vom 1. Dezember 1996 bis 31. Dezember 1998 zu zahlen (Urteil vom 20. Mai 2005). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Die nach § 48 SGB X maßgebliche Änderung der Verhältnisse sei im Tod der geschiedenen Ehefrau des Klägers zu sehen. Diese habe aus den übertragenen Rentenanwartschaften nur Leistungen unterhalb des Grenzbetrags von zwei Jahresbeträgen erhalten, so dass dem Kläger ein Anspruch auf Rückausgleich (Ausgleichsanspruch) iS des § 4 Abs 1 VAHRG zustehe. Bei diesem Ausgleichsanspruch handele es sich um eine einmalige Leistung (Hinweis auf Bundessozialgericht ≪BSG≫ Urteil vom 24. Juli 2001 – B 4 RA 94/00 R – SozR 3-5795 § 4 Nr 7), auf den § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 44 Abs 4 SGB X keine Anwendung finde, weil der Anspruch nicht auf in der Vergangenheit wiederkehrend entstandene und fällig gewordene Einzelansprüche gerichtet sei. Ein Anspruch auf Rückausgleich könne nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 14. Mai 1996 – 4 RA 22/95 – SozR 3-5795 § 4 Nr 6) bei einem Rückausgleichsanspruch nach § 4 Abs 1 und 2 VAHRG frühestens aber in dem Zeitpunkt beginnen, in dem der Ausgleichspflichtige den Rückausgleich (zu Recht) erstmals verlangen könne.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 48 Abs 4 iVm § 44 Abs 4 SGB X im Rahmen des § 4 VAHRG und trägt zur Begründung im Wesentlichen vor: Die vom 4. Senat des BSG vertretene Auffassung, dass im Zeitpunkt des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 VAHRG zwei Ansprüche für den Ausgleichsverpflichteten entstünden, nämlich ein Anspruch für die Zukunft auf Aufhebung des bisherigen Rentenfeststellungsbescheids mit Ermächtigungsgrundlage nach § 48 Abs 1 SGB X und ein weiterer Anspruch für die Vergangenheit auf einmalige Ausgleichszahlung mit Anspruchsgrundlage nach § 4 Abs 1 VAHRG, stelle eine unnatürliche Aufspaltung eines rechtlich einheitlich zu beurteilenden Gesamtvorgangs dar, bei dem es sich um ein Novum in der zu diesem Bereich ergangenen Rechtsprechung handele. Die Charakterisierung des Anspruchs für die Vergangenheit als einmaligen Zahlungsanspruch passe nicht in das System des geltenden Rentenversicherungsrechts, weil Renten als laufende Leistung mit Dauerwirkung erbracht würden. Der Anspruch aus § 4 VAHRG müsse die Rechtsnatur des Anspruchs teilen, der durch die Härteregelung berichtigt werden solle. Damit habe der Anspruch nach § 4 VAHRG keine andere Rechtsqualität als sonstige gesetzlich fixierte Neufeststellungsgründe. Zudem ergäben sich bei der Aufspaltung des Anspruchs in einen laufenden (zukünftige Rente) und einen einmaligen Ausgleichsanspruch für die Vergangenheit Folgeprobleme bei der Bemessung von Pflichtbeiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie von Zusatzleistungen, bei der Abwicklung von Erstattungsansprüchen nach § 102 ff SGB X sowie im Rahmen der Einkommensanrechnung, wenn der Ausgleichspflichtige neben der bisher gekürzten Versichertenrente eine Rente wegen Todes beziehe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 2006 sowie das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 20. Mai 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs 2 SGG entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen; denn der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung des Ausgleichsbetrags nach § 4 Abs 2 iVm Abs 1 VAHRG auch für die Zeit vom 1. Dezember 1996 bis 31. Dezember 1998.
Die Beklagte beruft sich zu Unrecht auf die Regelung des § 48 Abs 4 iVm § 44 Abs 4 SGB X. Denn § 48 SGB X ist für den im vorliegenden Verfahren streitigen Anspruch nicht einschlägig. Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach Abs 1 Satz 2 Nr 1 dieser Vorschrift soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt. Durch den Tod der geschiedenen Ehefrau des Klägers am 17. Februar 2003 ist keine Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen iS dieser Vorschrift eingetreten, die zu einer (teilweisen) Aufhebung der Rentenbewilligungen an den Kläger mit der hier allein entscheidungserheblichen Wirkung für die Vergangenheit führen könnte. Der Tod löst insoweit – auch für die Zeit vom 1. Dezember 1996 bis 31. Dezember 1998 – vielmehr den Ausgleichsanspruch des Klägers nach § 4 Abs 2 iVm Abs 1 VAHRG aus.
Gemäß § 4 Abs 1 VAHRG wird die Versorgung des Verpflichteten – bezogen auf die Vergangenheit – nicht aufgrund des Versorgungsausgleichs gekürzt, wenn der Berechtigte vor seinem Tod keine Leistungen aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht erhalten hat. Nach Abs 2 dieser Vorschrift gilt Abs 1 entsprechend, wenn dem verstorbenen Berechtigten zwar aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht Leistungen gewährt worden sind, diese aber insgesamt zwei Jahresbeträge einer auf das Ende des Leistungsbezugs ohne Berücksichtigung des Zugangsfaktors berechneten Vollrente wegen Alters aus der allgemeinen Rentenversicherung aus dem erworbenen Anrecht nicht überstiegen. Die verstorbene Ehefrau des Klägers hat aus den übertragenen Rentenanwartschaften für die Zeit ihres Leistungsbezugs vom 1. September 2002 bis zum Tode im Februar 2003 nach den Feststellungen des LSG, die den Senat binden (§ 163 SGG), € 892,75 erhalten und damit nicht den von der Beklagten ermittelten Grenzbetrag in Höhe von € 3.582,88 überschritten. Die Vorschrift des § 4 Abs 2 iVm Abs 1 VAHRG hat nicht nur zur Folge, dass dem Kläger nunmehr (mit Wirkung für die Zukunft) eine nicht (mehr) gekürzte Rente zu leisten ist; vielmehr sind die für die Vergangenheit erfolgten Rentenkürzungen (ggf unter Anrechnung der gewährten Rentenleistungen nach § 4 Abs 2 VAHRG) zu kompensieren.
Dieser Ausgleich hat vollständig zu erfolgen. Sonst stünde die Regelung im Widerspruch zu dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 28. Februar 1980 (BVerfGE 53, 257, 302 = SozR 7610 § 1587 Nr 1 S 11). Hiernach darf der betroffene Versicherte über die Regelungen zum Versorgungsausgleich nicht verpflichtet werden, eine spürbare Kürzung der Rentenansprüche hinzunehmen, “ohne dass sich andererseits der Erwerb eines selbständigen Versicherungsschutzes angemessen für den Berechtigten auswirkt. In einem solchen Fall erbringt der Verpflichtete ein Opfer, das nicht mehr dem Ausgleich zwischen den geschiedenen Ehegatten dient; es kommt vielmehr ausschließlich dem Rentenversicherungsträger, in der Sache der Solidargemeinschaft der Versicherten, zugute” (ganz entsprechend auch BVerfG vom 5. Juli 1989, BVerfGE 80, 297, 310 = SozR 5795 § 4 Nr 8 S 27). Eben dies wäre aber die Folge einer Rechtsanwendung, wie sie der Beklagten vorschwebt: Je länger der Berechtigte bereits Kürzungen seiner Rentenzahlungen hätte hinnehmen müssen – und demgemäß je höher diese Einbußen ausgefallen wären –, desto weniger würde sich der Ausgleichanspruch des § 4 Abs 1 oder 2 VAHRG zu seinen Gunsten auswirken und ein desto höherer spiegelbildlicher Vermögensvorteil beim Rentenversicherungsträger verbleiben.
Der Ausgleichsanspruch nach § 4 Abs 2 iVm Abs 1 VAHRG hat zur Folge, dass der Kläger so zu stellen ist, als ob der Versorgungsausgleich – soweit er die Übertragung von Rentenanwartschaften betrifft – nicht durchgeführt worden wäre. Unabhängig davon, ob man in dieser Rechtsfolge einen “Rückfall” der Anrechte an den Ausgleichsverpflichteten sieht (vgl BVerfGE 80, 297, 311 = SozR 5795 § 4 Nr 8 S 27), enthält die Regelung in § 4 Abs 1 und 2 VAHRG jedenfalls die Fiktion, dass der rentenrechtliche Teil des Versorgungsausgleichs nicht durchgeführt worden ist. Diese Fiktion wird ausgelöst durch den Tod des verstorbenen Ausgleichsberechtigten, der keine oder nur geringe Leistungen aus den übertragenen Anwartschaften erhalten hat. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber (vgl BT-Drucks 9/2296 S 8) die vom BVerfG geforderte Härteregelung im VAHRG vom 21. Februar 1983 geschaffen: § 4 VAHRG beseitigt die Beeinträchtigungen von Rentenanwartschaften des Ausgleichsverpflichteten, die mit der Durchführung des Versorgungsausgleichs eingetreten sind, aber dann den Eigentumsschutz des Art 14 Abs 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) tangieren würden, wenn der Verpflichtete Kürzungen seiner Rente hinnehmen müsste, obwohl sich der Versorgungsausgleich nicht angemessen für den Ausgleichsberechtigten ausgewirkt hat.
§ 4 Abs 1 VAHRG bestimmt, dass “die Versorgung des Verpflichteten und seiner Hinterbliebenen nicht aufgrund des Versorgungsausgleichs gekürzt” wird. Der Wortlaut der Vorschrift hat vordergründig die Fallgestaltung im Auge, dass die Rente des Verpflichteten erst nach dem Tode des Berechtigten beginnt; er ist jedoch – nach dem oben Dargelegten – so zu verstehen, dass auch Rentenkürzungen vor diesem Zeitpunkt auszugleichen sind. Deshalb ist der Regelung zu entnehmen, dass der Gesetzgeber zur Vermeidung grundrechtswidriger Belastungen des Ausgleichsverpflichteten einen Ausgleichsanspruch auf eine einmalige Geldleistung geschaffen hat, mit dem die Folgen einer Rentenkürzung für die Vergangenheit – mit einer Zahlung – ausgeglichen werden sollen. Der Verpflichtete soll so gestellt werden, wie er gestanden hätte, wenn er von Anfang an eine Kürzung der Rente infolge des Versorgungsausgleichs nicht hätte hinnehmen müssen (BSG SozR 3-5795 § 4 Nr 7).
Bei diesem Verständnis des Anspruchs aus § 4 Abs 2 iVm Abs 1 VAHRG kommt eine Leistungsbegrenzung iS des § 48 Abs 4 iVm § 44 Abs 4 SGB X von vornherein nicht in Betracht. Der Ausgleichsanspruch setzt eine rückwirkende teilweise Aufhebung der Rentenbewilligung nicht voraus. Solange die ausgleichsberechtigte geschiedene Ehefrau des Klägers lebte, erfolgte die Kürzung der Rentenzahlungen an den Kläger unter Berücksichtigung der übertragenen Rentenanwartschaften zu Recht.
Die im Revisionsverfahren gegen die Lösung des Senats vorgetragenen Bedenken aufgrund angeblicher Folgeprobleme bei der Bemessung von Pflichtbeiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie von Zusatzleistungen, bei der Abwicklung von Erstattungsansprüchen sowie im Rahmen der Einkommensanrechnung vermögen das gefundene Ergebnis nicht zu beeinflussen. Eine – von einer “Rentennachzahlung” bewusst losgelöste – Sonderregelung für eine Einmalzahlung aus übertragenen Anwartschaften im Versorgungsausgleich beansprucht gerade nicht die – von der Beklagten zu Bedenken gegebene – Behandlung wie nachgezahlte Einzelansprüche aus einer zuerkannten Rente.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1696444 |
FamRZ 2007, 815 |
NZS 2007, 594 |
NJOZ 2007, 5503 |