Entscheidungsstichwort (Thema)
MdE-Grad unter 25 vH. verbindliche Feststellung bzw Rechtskraft. Rechtskraft eines Gerichtsurteils
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Rechtskraft eines Gerichtsurteils ergreift den sich aus festgestellten Tatsachen und angewandten Rechtsnormen ergebenden Subsumtionsschluß als Ganzes, die einzelnen Glieder dieses Schlusses indessen - festgestellte Tatsachen, bedingende Rechtsverhältnisse, rechtliche Einordnungen - nur insoweit, als sie zu diesem Schluß geführt haben, nicht dagegen losgelöst und selbständig.
2. Im Kriegsopfer- und im Unfallversicherungsrecht fehlt es an einer Rechtsgrundlage für eine unabhängig von einer Rentengewährung getroffene Feststellung eines ziffernmäßig bestimmten vH-Satzes der MdE (ständige Rechtsprechung, vergleiche BSG vom 17.4.58 9 RV 434/55 = BSGE 7, 126 vom 21.2.74 8/2 RU 55/72 = BSGE 37, 177 und vom 22.3.83 2 RU 37/82 = BSGE 55, 32).
3. Beispiel dafür, daß ein bestimmter vH-Satz der MdE, der nach § 77 SGG hätte verbindlich werden können, im Verwaltungsverfahren nicht festgesetzt worden ist.
Orientierungssatz
Zur Frage, ob bei Ablehnung von Rentenleistungen wegen Nichterreichens des erforderlichen Mindestumfanges der MdE, die MdE-Festsetzung an der Bindung des Verwaltungsaktes bzw an der Rechtskraft eines Urteils teilnimmt (vgl BSG vom 17.4.58 9 RV 434/55 = BSGE 7, 126; BSG vom 21.3.74 8/2 RU 55/72 = BSGE 37, 177 = SozR 2200 § 581 Nr 1; BSG vom 23.6.82 9b/8/8a RU 86/80 = SozR 2200 § 581 Nr 17).
Normenkette
BVG § 31 Abs. 2, § 30 Abs. 1; SGG §§ 77, 141 Abs. 1; SGB 10 § 39
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 17.01.1983; Aktenzeichen L 11 V 1052/82) |
SG Konstanz (Entscheidung vom 03.06.1982; Aktenzeichen S 6 V 335/80) |
Tatbestand
Der am 5. Februar 1924 geborene Kläger erlitt im August 1943 einen "Weichteildurchschuß am linken Oberarm innen mit Schädigung des Ellennervs" (Bescheid vom 13. Juni 1973). Eine Versorgungsrente wurde abgelehnt, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) "25 vH nicht erreicht". In der Begründung eines Ergänzungsbescheides (vom 19. April 1974) wurde angeführt: "Die MdE beträgt weiterhin gemäß Bescheid vom 13. Juni 1973 20 vH". Ein gegen die Rentenablehnung angestrengtes gerichtliches Verfahren, mit dem auch die Anerkennung eines besonderen beruflichen Betroffenseins -erfolgt wurde, blieb erfolglos (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 26. Oktober 1976 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 4. April 1978). Nach angeblicher Verschlimmerung der Schädigungsfolgen stellte der Kläger im September 1979 einen neuen Antrag, der nach chirurgischer versorgungsärztlicher Begutachtung abgelehnt wurde, weil keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Das von Prof. Dr. D erstattete Gutachten vom 14. August 1981 kam zu dem Ergebnis, daß die MdE von 15 auf 20 vH zu erhöhen sei. Das SG entnahm daraus, daß die MdE um 5 vH gestiegen sei, und wies die Klage durch Urteil vom 3. Juni 1982 ab. Das LSG hat durch Urteil vom 17. Januar 1983 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Versorgungsbezüge seien nach § 62 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) dann neu festzustellen, wenn in der Zwischenzeit eine wesentliche Änderung der für den Anspruch maßgeblich gewesenen Verhältnissen eingetreten sei. Das gelte auch für den an die Stelle des § 62 Abs 1 BVG getretenen § 48 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10). Wie das Bundessozialgericht (BSG) entschieden habe, sei eine Änderung nur dann "wesentlich", wenn sie mehr als 5 vH betrage. Dies habe der Gutachter Prof. Dr. D. verneint, sein Gutachten verliere nicht dadurch an Überzeugungskraft, weil er von einem falschen Ausgangs-MdE-Wert von 15 vH statt 20 vH ausgegangen sei, weil diese Frage ausschließlich die rechtliche Würdigung des vorangegangenen bindenden Bescheides von 1973/74 betreffe. Entscheidend sei, daß die MdE um nicht mehr als 5 vH zugenommen habe. Das gelte auch dann, wenn der Kläger mit der nachgewiesenen Steigerung um 5 vH nunmehr einen MdE-Grad von 25 vH erreiche und damit nach § 31 Abs 2 BVG Rente erhalten könne. Daß eine Steigerung des MdE-Grades um 5 vH unbeachtlich sei, gelte unabhängig davon, wie hoch der Ausgangs-MdE-Wert sei; eine Steigerung des MdE-Grades um 5 vH sei so gering, daß sie innerhalb der Schwankungsbreite jeder ärztlichen Schätzung liege. An den festgestellten MdE-Werten sei daher festzuhalten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und rügt die Verletzung des § 31 Abs 1 und 2 sowie des § 62 Abs 1 BVG und des Art 3 des Grundgesetzes (GG). Die Auffassung des LSG könne zu dem Ergebnis führen, daß ein Beschädigter im Grenzfall entgegen seiner wirklichen Beeinträchtigung eine Rente nicht erhalte. Wenn mit einer Erhöhung um 5 vH der rentenberechtigende Grad der MdE um 25 vH erreicht werde, sei immer eine wesentliche Änderung anzunehmen. Daraus müsse der Schluß gezogen werden, daß beim Vorliegen des rentenberechtigenden Grades von 25 vH eine Änderung niemals zu Lasten des Rentenantragstellers gehen dürfe. § 31 BVG gebiete es nach Sinn, Zweck und Systematik, MdE-Grade mit 5er-Zahlen zu erfassen. Es könne nach der Systematik des BVG keinen Unterschied machen, ob der MdE-Grad von 25 vH erst beim zweiten Antrag auf Feststellung der Rentenberechtigung erreicht werde oder ob dies schon beim ersten Mal der Fall sei. Ein anderes Vorgehen verletze Art 3 GG.
Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 17. Januar 1983 und des SG Konstanz vom 3. Juni 1982 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamtes Freiburg, Außenstelle Radolfzell, vom 28. Februar 1980 zu verurteilen, dem Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen ab 1. September 1979 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH zu leisten.
Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des erkennenden Senats ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht zur abschließenden Entscheidung in der Sache aus. Das LSG wird festzustellen haben, ob die MdE auf Grund der Schädigungsfolgen bei dem Kläger für eine Rentenfeststellung genügt; dabei hat es davon auszugehen, daß eine MdE bisher nicht mit einem bestimmten vH-Satz verbindlich geworden ist. Das Urteil des LSG war aufzuheben, weil es zu Unrecht angenommen hat, daß für den Versorgungsanspruch des Klägers bereits eine MdE von 20 vH verbindlich anerkannt worden sei.
Abgesehen davon, daß es im Kriegsopfer- und im Unfallversicherungsrecht an einer Rechtsgrundlage für eine unabhängig von einer Rentengewährung getroffene Feststellung eines ziffernmäßig bestimmten vH-Satzes der MdE fehlt (BSGE 7, 126; BSGE 37, 177 = SozR 2200 § 581 Nr 1; BSGE 55, 32 = SozR 2200 § 581 Nr 17), hat der Beklagte eine solche Feststellung nicht getroffen. Er hat in seinem ersten Bescheid die Gewährung von Rente deshalb abgelehnt, weil "die MdE 25 vH nicht erreicht". In dem Ergänzungsbescheid über das besondere berufliche Betroffensein vom 19. April 1974 hat er zwar ausgesprochen, "die MdE beträgt weiterhin gemäß Bescheid vom 13. Juni 1973 20 vH". Dieser Satz ist nicht in dem Verfügungssatz des Bescheides enthalten. Dazu kommt, daß der Bescheid vom 13. Juni 1973 nur den Ausspruch enthält, daß ein rentenberechtigender Grad von 25 vH nicht erreicht werde; eine andere ziffernmäßige Festsetzung einer bestimmten MdE enthält dieser Bescheid nicht. Entsprechend ist der Widerspruchsbescheid vom 17. September 1974 dahin gefaßt, daß dem Widerspruch gegen den Bescheid - der Ergänzungsbescheid vom 19. April 1974 wurde nach § 86 Abs 1 SGG aF miterfaßt - nicht stattgegeben werde. Ein bestimmter vH-Satz der MdE, der nach § 77 SGG verbindlich werden könnte ist im Verwaltungsverfahren somit nicht festgesetzt worden.
Das LSG Baden-Württemberg hat zwar in seinem Urteil vom 4. April 1978 ausgesprochen, daß die beim Kläger festgestellten Schädigungsfolgen ... nach Überzeugung des Senats nur eine MdE um 20 vH bedingen. Dies ist aber keine verbindliche Feststellung. Der Tenor des Urteils lautete auf Zurückweisung der Berufung; er ist durch den Tenor des SG-Urteils zu ergänzen, das auf Klagabweisung ging. Bei einem klagabweisenden Urteil ist die Bedeutung und Tragweite des Urteilsausspruches unter Umständen aus den Gründen zu ermitteln. Zu den tragenden Gründen des Urteils vom 4. April 1978 gehört die Feststellung, ein Rentenanspruch des Klägers bestehe nicht, weil die MdE nicht den "rentenberechtigenden Grad von mindestens 25 vH" erreiche (Bl 118 und 132/133 dA - L 5 V 2074/76 - LSG Baden-Württemberg). Die weiteren Ausführungen, die im Anschluß an das Urteil des SG vom 26. Oktober 1976 von einer MdE um 20 vH ausgingen, dienten nur der Begründung dieser tragenden Feststellung. Sie war in ihrem Ausspruch auf 20 vH nicht erforderlich; insbesondere war eine Entscheidung überflüssig, ob die im Gutachten von Prof. Dr. S-dem das SG im übrigen gefolgt ist - genannte MdE um 15 vH entsprechend den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausgabe 1973 Seite 200) auf 20 vH zu erhöhen sei. Von diesen Überlegungen wurde das Ergebnis der gerichtlichen Entscheidung nicht beeinflußt. Bei diesen Gegebenheiten liegt eine der Rechtskraft nach § 141 SGG fähige Feststellung einer MdE um 20 vH nicht vor. Die Rechtskraft eines Gerichtsurteils ergreift den sich aus festgestellten Tatsachen und angewandten Rechtsnormen ergebenden Subsumtionsschluß als Ganzes die einzelnen Glieder dieses Schlusses indessen - zumal festgestellte Tatsachen, bedingende Rechtsverhältnisse, rechtliche Einordnungen - nur insoweit, als sie zu diesem Schluß geführt haben, nicht dagegen losgelöst und selbständig (BSG 17. Dezember 1974 - 9 RV 76/74 - mwN = BSGE 39, 14, 18 = SozR 3640 § 4 Nr 2). Rechtskräftig festgestellt ist demnach durch das frühere Urteil nur die Entschließung, daß ein Rentenanspruch nicht bestand, weil der dafür erforderliche Mindestumfang der MdE nicht erreicht war.
Das LSG sah sich deshalb zu Unrecht daran gehindert, eine freie Feststellung über die tatsächlich gegebene MdE des Klägers zu treffen.
Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden, damit es die Feststellung nachholt, ob durch eine Änderung jetzt die MdE des Klägers einen rentenberechtigenden Grad erreicht hat. Hat eine solche MdE sogar schon zZt des früheren ablehnenden Bescheides vorgelegen, ist nach § 44 SGB 10 zu verfahren.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteils vorbehalten.
Fundstellen