Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung einer Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit. Amtsermittlung. Grenzen der Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

1. Das Tatsachengericht verletzt seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dann, wenn von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus die festgestellten Tatsachen zur Urteilsfindung noch nicht ausreichten und sich das Gericht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen mußte (vgl BSG 19.4.1983 5b BJ 334/82 = SozR 1500 § 160 Nr 49).

2. Die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung sind überschritten worden, wenn das Gericht bei seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung Gutachten von Sachverständigen zugrunde legt, die nicht über die erforderliche fachliche Kompetenz verfügen.

3. Grundsätzlich muß davon ausgegangen werden, daß die Gerichte zu Sachverständigen nur Personen bestellen, die über die erforderliche fachliche Kompetenz verfügen. Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß ein Sachverständiger in seiner Beurteilung von falschverstandenen rechtlichen Begriffen ausgeht, so hat das Gericht die notwendige Klärung herbeizuführen, gegebenenfalls durch eine Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 23.01.1984; Aktenzeichen L 9 J 418/83)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 17.01.1983; Aktenzeichen S 6 J 2351/81)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit gemäß §§ 1247, 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der im Jahre 1950 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Einen Ausbildungsberuf hat er nicht erlernt. Seit 1968 war er in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Für die Folgen eines am 31. März 1979 erlittenen Arbeitsunfalls erhält er von der Berufsgenossenschaft für Druck und Papierverarbeitung Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH. Seinen Antrag vom 29. August 1980, ihm Versichertenrente zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. August 1981 ab.

Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 17. Januar 1983 und 23. Januar 1984). Das LSG hat festgestellt, der Kläger sei in seiner Erwerbsfähigkeit durch eine Amputation des linken Beines im Oberschenkel, Amputationen der zweiten und dritten Zehe rechts, beginnende degenerative Veränderung der Wirbelsäule sowie eine erhebliche Fettleibigkeit eingeschränkt. Er könne jedoch noch in vollen Schichten die Tätigkeit eines Packers von Kleinteilen in der Metallindustrie verrichten, auf die er sich verweisen lassen müsse. Damit sei er weder berufs- noch erwerbsunfähig im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 1246, 1247 RVO. Außerdem beruhe das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensmangel unzureichender Sachaufklärung.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. August 1981 zu verurteilen, ihm ab 1. August 1980 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; hilfsweise beantragt er, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hat sich zur Sache nicht geäußert.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet.

Das angefochtene Urteil kann auf der vom Kläger gerügten Verletzung des § 103 SGG beruhen. Diese Bestimmung schreibt dem Gericht vor, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verletzt das Tatsachengericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dann, wenn von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus die festgestellten Tatsachen zur Urteilsfindung noch nicht ausreichten und sich das Gericht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen mußte (BSG in SozR Nr 7 zu § 103 SGG; SozR 2200 § 160 Nrn 5 und 49). Das ist hier der Fall.

Der Kläger hat gegenüber dem LSG mit Schriftsatz vom 21. November 1983 beantragt, ein weiteres medizinisches Gutachten über seinen Gesundheitszustand einzuholen. Diesem Antrag hat das Berufungsgericht nicht entsprochen. Es hätte sich jedoch gedrängt fühlen müssen, ein weiteres Gutachten dazu einzuholen, ob Durchblutungsstörungen am rechten Bein des Klägers seine Erwerbsfähigkeit zusätzlich einschränken. Insoweit hätte sich ein angiologisches Gutachten angeboten. Das LSG stützt seine Tatsachenfeststellungen auf die medizinischen Gutachten der Sachverständigen Dres. G. und H.. Zwar entscheidet das Gericht nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Hier sind aber die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten worden, was vom Kläger zutreffend mit der Revision beanstandet wird. Er weist darauf hin, daß der vom SG gehörte Sachverständige Dr. Sch. am 20. Juli 1982 ausgeführt hat, der Kläger habe auf Grund einer entzündlichen Gefäßerkrankung das linke Bein verloren. Diese Erkrankung habe auch zu Durchblutungsstörungen im Bereich des rechten Beines geführt. Außerdem hat Dr. K., auf den der Kläger sich ebenfalls beruft, am 24. März 1982 arterielle Durchblutungsstörungen an beiden Beinen des Klägers diagnostiziert. Das LSG hat ein weiteres Gutachten nicht für erforderlich gehalten, "da die gehörten Gutachter über die nötige fachliche Kompetenz verfügen und sich in den Befunden auch nicht widersprechen". Soweit der Kläger einen Widerspruch bezüglich der Durchblutungsstörungen am rechten Bein "zu konstruieren" versuche, könne dem nicht gefolgt werden. Dr. G. und Dr. H. seien die entsprechenden medizinischen Stellungnahmen aus der Zeit vor ihren Begutachtungen bekannt gewesen. Sie hätten insoweit keine gravierenden krankhaften Veränderungen beim Kläger gefunden. Insbesondere Dr. H. habe keine Veranlassung gesehen, ein angiologisches Zusatzgutachten einzuholen.

Der Hinweis des LSG auf die fachliche Kompetenz der gehörten Gutachter beinhaltet keine sachgerechte Auseinandersetzung mit den einander widersprechenden ärztlichen Auffassungen. Das gleiche trifft zu, wenn das Berufungsgericht ausführt, Dr. Sch. habe für seine abweichende Beurteilung keine überzeugende Begründung gegeben. Er vermische Fragen der Arbeitsfähigkeit mit solchen nach der Höhe der MdE und Begriffen wie Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit, so daß seine Ausführungen nicht als überzeugend erschienen. Grundsätzlich muß davon ausgegangen werden, daß die Gerichte zu Sachverständigen nur Personen bestellen, die über die erforderliche fachliche Kompetenz verfügen. Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß ein Sachverständiger in seiner Beurteilung von falschverstandenen rechtlichen Begriffen ausgeht, so hat das Gericht die notwendige Klärung herbeizuführen, ggf durch eine Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Bei den voneinander abweichenden Befunden hätte versucht werden müssen, durch zusätzliche Untersuchungsmethoden das Ausmaß der am rechten Bein des Klägers vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen besser zu objektivieren. Das LSG hat sich mit den unterschiedlichen Beurteilungen nicht im einzelnen auseinandergesetzt. Es ist vielmehr mit einer mehr floskelhaften Begründung darüber hinweggegangen. Es hätte darlegen müssen, warum ggf Dr. Sch. irrt und aus welchen Gründen etwa Dr. H. Recht hat. Zur Frage, ob der Kläger an Durchblutungsstörungen am rechten Bein leidet, ist während des gesamten Rechtsstreits kein Spezialist für Gefäßerkrankungen gehört worden. Dazu hätte das Gericht sich jedoch gedrängt fühlen müssen. Schließlich hat auch Dr. H. in seinem Gutachten vom 1. August 1983 den Kläger für "hundertprozentig erwerbsunfähig" gehalten. Erst in der ergänzenden Stellungnahme vom 15. November 1983 hat er seine Beurteilung dahingehend modifiziert, dem Kläger könnten leichte Arbeiten zugemutet werden, allerdings nur im Sitzen, gelegentliches Stehen bzw selbständiges Fortbewegen mit Unterarmstützen müsse möglich sein.

Die Verweisung des Klägers durch das LSG auf die Tätigkeit eines Packers von Kleinteilen in der Metallindustrie ist somit verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Auf der gerügten Verletzung des § 103 SGG kann das angefochtene Urteil beruhen. Wenn sich bei den erforderlichen weiteren Ermittlungen ergeben hätte, daß der Kläger nach der Amputation des linken Beines auch an Durchblutungsstörungen im rechten Bein leidet, so wäre möglicherweise eine Verweisung auf die Arbeiten des Packers ausgeschieden.

Das LSG wird die somit noch erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Gelangt es danach wieder zu dem Ergebnis, der Kläger könne leichte Arbeiten mit den beschriebenen Einschränkungen verrichten, so wird zu fragen sein, ob die Verweisung des Klägers mit der beigezogenen Äußerung des Sachverständigen C vom 27. April 1981 begründet werden kann. Dieser berufskundliche Sachverständige hat sich ausschließlich zu Arbeitsplätzen für Frauen geäußert. Nach seinen Bekundungen hängt es von der Größe der zu packenden Teile ab, ob im Sitzen oder im Stehen gearbeitet wird. Kann der Kläger nur auf einen Teilbereich aus dem Tätigkeitsfeld des Packers verwiesen werden, so muß ggf geprüft werden, ob Arbeitsplätze dafür in ausreichender Zahl vorhanden sind, was zu verneinen ist, wenn sie der Kläger von seiner Wohnung aus nicht erreichen kann. Das LSG hat nicht geprüft, ob derartige Arbeitsplätze innerhalb der dem Kläger noch zugemuteten Wegstrecke von 400 m vorhanden sind. Die zumutbare Benutzung eines privateigenen PKW's mit Getriebeautomatik zum Erreichen eines Arbeitsplatzes würde voraussetzen, daß der Kläger einen solchen besitzt bzw die Beklagte bereit wäre, bei dessen Beschaffung zwecks Vermeidung der Berufsunfähigkeit im Rahmen der Rehabilitation behilflich zu sein. Derartige Feststellungen fehlen ebenfalls.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens hat das LSG ebenfalls zu befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662460

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