Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindererziehung und erhöhte Witwenrente
Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch auf erhöhte Witwenrente wegen Kindererziehung erfordert nicht, daß die Waisenrentenberechtigung des Kindes und die Witwenrente aus demselben Versicherungsverhältnis abzuleiten sind. Ausreichend ist ein potentieller Waisenrentenanspruch in dem Sinn, daß zumindest ein Elternteil in einem Versicherungsverhältnis zur gesetzlichen Rentenversicherung steht (Anschluß an und Fortführung von BSG 1980-11-05 4 RJ 97/79 = BSGE 50, 271).
Orientierungssatz
§ 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 RVO erfordert die Erziehung eines Kindes der Witwenrentenberechtigten iS der §§ 1262 Abs 2, 1267 S 1 RVO.
Normenkette
RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1975-05-07
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 13.05.1982; Aktenzeichen L 10 J 317/81) |
SG Hannover (Entscheidung vom 18.09.1981; Aktenzeichen S 4 J 264/81) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der Klägerin die erhöhte ("große") Witwenrente zusteht.
Die am 16. Juni 1938 geborene Klägerin bezog von der Beklagten Witwenrente nach ihrem 1965 verstorbenen ersten Ehemann W. K.. Als sie 1968 die Ehe mit H. F. schloß, erhielt sie eine Abfindung. Diese Ehe wurde durch das am 24. Juli 1980 rechtskräftig gewordene Urteil des Familiengerichts geschieden. Aus erster Ehe sind zwei 1959 und 1961 geborene Kinder, aus zweiter Ehe ist die am 17. Januar 1969 geborene Tochter M. hervorgegangen, für die der Klägerin das Sorgerecht übertragen wurde.
Durch Bescheid vom 14. Oktober 1980 gewährte die Beklagte der Klägerin ab August 1980 wiederaufgelebte Witwenrente. Der Widerspruch, mit dem die Klägerin geltend machte, ihr sei anstatt der nach § 1268 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) errechneten "kleinen" Witwenrente die "große" Witwenrente iS des Abs 2 dieser Vorschrift zu gewähren, da sie ihre Tochter M. erziehe, wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 9. März 1981).
Das zur Zahlung der erhöhten Witwenrente verpflichtende Urteil des Sozialgerichts (SG) Hannover vom 18. September 1981 hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im Urteil vom 13. Mai 1982 ausgeführt: Im Rahmen des § 1268 Abs 2 RVO genüge nicht die Erziehung irgendeines Kindes; das Kind müsse in einer versicherungsrechtlich erheblichen Beziehung zum Versicherten gestanden haben. Der erhöhten Witwenrente komme, da der Witwe wegen der Kindererziehung keine Erwerbstätigkeit zugemutet werden solle, eine Lohnersatzfunktion zu. Dafür sei indessen kein Raum, wenn die Witwe wegen der Kindererziehung von einem Dritten - wie hier die Klägerin von ihrem geschiedenen Ehemann - Unterhalt verlangen könne.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO; waisenrentenberechtigt im Sinne dieser Vorschrift sei ein Kind schon dann, wenn es die persönlichen Voraussetzungen des § 1267 RVO erfülle. Die gegenteilige Ansicht des LSG lasse unberücksichtigt, daß hier über einen Unterhaltsanspruch der Klägerin keine Feststellungen getroffen worden seien. Es führe auch sonst zu unbilligen Ergebnissen, wenn ein etwaiger Unterhaltsanspruch nicht realisiert werden könne.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Mai 1982 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 18. September 1981 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf erhöhte Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO.
Das Gesetz unterscheidet zwischen zwei Berechnungsarten, die jeweils an eine fiktive Versichertenrente anknüpfen. Während die kleine Witwenrente grundsätzlich sechs Zehntel der Berufsunfähigkeitsrente beträgt (§ 1268 Abs 1 RVO), errechnet sich die große Witwenrente aus sechs Zehnteln der Erwerbsunfähigkeitsrente. Diese erhöhte Witwenrente erfordert - über die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 1263 Abs 2 RVO hinaus - alternativ die Erfüllung besonderer Tatbestandsmerkmale. Sie wird gewährt, wenn die berechtigte Witwe das 45. Lebensjahr vollendet hat (§ 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 1 RVO) oder solange sie berufs- oder erwerbsunfähig ist oder mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht oder für ein Kind sorgt, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhält (Nr 2).
Vorliegend kommt als Anspruchsgrundlage nur die Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes in Betracht. Entgegen der Rechtsansicht des LSG erfüllt die Klägerin diese Voraussetzung.
Kein Streit besteht zwischen den Beteiligten darüber, daß die Klägerin ihre Tochter M., für die ihr das elterliche Sorgerecht übertragen worden ist, erzieht. Davon geht auch das angefochtene Urteil aus, wenn es in den Gründen ausführt, der Klägerin stehe wegen der Erziehung ihrer Tochter M. ein Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann zu. Der Senat hat ebenfalls keine Zweifel, das Tatbestandsmerkmal der Erziehung zu bejahen.
Zu Unrecht meint aber das LSG, es fehle an der Waisenrentenberechtigung des von der Klägerin erzogenen Kindes. Mit diesem Tatbestandsmerkmal hat sich der Senat bereits in seinem Urteil vom 5. November 1980 - 4 RJ 97/79 - (BSGE 50, 271 = SozR 2200 § 1268 Nr 15) befaßt und ausgeführt, es genüge die Erziehung eines Kindes, das die persönlichen Voraussetzungen zum Bezug einer Waisenrente iS des § 1267 iVm § 1262 Abs 2 RVO erfülle; er ist hierbei einem Urteil des 11. Senats vom 19. August 1976 - 11 RA 110/75 - (BSGE 42, 156 = SozR 2200 § 1265 Nr 22) zu der insoweit inhaltsgleichen Vorschrift des § 42 Satz 2 Nr 2 Angestelltenversicherungsgesetz (= § 1265 Satz 2 Nr 2 RVO) gefolgt (vgl auch Urteil des Senats vom 26. November 1981 - 4 RJ 127/80 - (BSGE 53, 4 = SozR 2200 § 1265 Nr 60). Allerdings war in jenem vor dem Senat ausgetragenen Rechtsstreit nur die Frage entscheidungserheblich, ob dem Kind auch Waisenrente gezahlt werden müßte. Im vorliegenden Fall dagegen geht es in erster Linie darum, ob die Waisenrentenberechtigung aus demselben Versicherungsverhältnis wie die Witwenrente abzuleiten sein muß. Dies ist zu verneinen, wie der Senat zu § 1265 Satz 2 Nr 3 RVO bereits in dem nicht veröffentlichten Urteil 4 RJ 31/81 vom 10. August 1982 - dort auf S 6 ff - im Rahmen einer eigenständigen und tragenden Begründung (Mehrfachbegründung) entschieden hat. Dies steht im Einklang mit dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil des 11. Senats vom 18. März 1983 - 11 RA 22/82 -. Nichts anderes kann für § 1268 Abs 2 RVO gelten:
Der Wortlaut der Vorschrift verwendet lediglich den Begriff "waisenrentenberechtigt" als Attribut zu "Kind" und fordert somit nicht, es müsse sich um eine Berechtigung auf Waisenrente nach dem verstorbenen Versicherten handeln. Hinzu kommt, daß durch das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I, 1061) in § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 die Worte "oder für ein Kind, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhält, sorgt", hinzugefügt wurden. Daraus ist zu entnehmen, daß auch diejenigen behinderten Kinder, die bei Eintritt des Versicherungsfalles (Tod des Versicherten) schon Waisenrente erhalten, die erhöhte Witwenrente auslösen, obwohl sie keine Kinder (§ 1262 Abs 2 RVO) des Versicherten sind (vgl das erwähnte Urteil des Senats vom 10. August 1982 S 7).
Der Zusammenhang, in den die Vorschrift hineingestellt ist, spricht ebenfalls gegen eine enge Auslegung und gibt Aufschluß über den Sinn und Zweck des Gesetzes. Auch die anderen Alternativvoraussetzungen machen die Gewährung der erhöhten Witwenrente von Umständen abhängig, die in der Person der Witwe liegen und auf deren verminderte Möglichkeit oder Fähigkeit, noch eine Erwerbstätigkeit auszuüben, abheben. Dies verdeutlicht besonders die erste Fallgruppe des § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO, wonach für die Dauer ("solange") der Berufsunfähigkeit der Anspruch auf die große Witwenrente besteht. Die Nr 1 der Vorschrift enthält denselben Grundgedanken, indem sie in einer generalisierenden Betrachtungsweise davon ausgeht, vom 45. Lebensjahr an könne die Witwe nicht mehr schlechthin erwerbstätig sein. In dieses Bild fügt sich ein, daß auch für die Dauer der Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes der Anspruch auf erhöhte Witwenrente besteht. Wiederum ist der maßgebende Gesichtspunkt die generelle (nicht konkrete) Verhinderung oder Erschwernis, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, und zwar hier wegen der Kindererziehung.
Für eine eher komplexe anstatt betont differenzierende Betrachtungsweise sprechen auch die Gesetzesmaterialien. So heißt es in dem Entwurf der Bundesregierung eines Rentenversicherungsgesetzes zu § 1272 RVO, dem Gesetz gewordenen § 1268 RVO (BT-Drucks 2/2437 S 77) ua: "Kann die Witwe entweder infolge Invalidität keine Erwerbstätigkeit ausüben oder hat sie infolge ihres vorgeschrittenen Lebensalters wenig Aussicht, noch einen Arbeitsplatz zu finden, oder soll ihr im Interesse ihrer Kinder eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden, dann ist als Berechnungsgrundlage die Rente gewählt worden, die der Versicherte erhalten hätte, wenn er im Zeitpunkt seines Todes als Invalider erwerbsunfähig gewesen wäre." Was die Erhöhung der Witwenrente im Falle der Kindererziehung anlangt, so hatten ähnliche Erwägungen bereits eine Rolle gespielt, als dieses Tatbestandsmerkmal erstmals durch § 13 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl I 1391) in der Rentenversicherung der Arbeiter (Invalidenversicherung) eingeführt worden ist (vgl hierzu mit weiteren Literaturnachweisen BSGE 50, 271, 272).
Aus alledem folgt, daß - anders als bei der kleinen Witwenrente - der Gesetzgeber für die Begründung des Erhöhungsanspruches der Witwe weniger auf das Versicherungsverhältnis des Verstorbenen unter Anknüpfung an die Verhältnisse bei Eintritt des Versicherungsfalles abgestellt hat, sondern daß eine durch besondere Umstände bedingte Versorgungslücke aus sozial- und familienpolitischen Gründen geschlossen werden soll. Bezogen auf die für den vorliegenden Rechtsstreit maßgebende Fallgruppe bedeutet dies, der Witwe im Hinblick auf ihre gesetzlich normierte Erziehungsfunktion eine höher bemessene Witwenrente zu gewähren, um ihr so im Regelfall den Unterhalt der Familie ohne Erwerbstätigkeit zu ermöglichen (vgl BVerfG, Beschluß vom 24. Oktober 1979 - 1 BvR 972/79 = SozR 2200 § 1268 Nr 17). Von diesem Standpunkt aus kann es aber nicht entscheidend darauf ankommen, ob die Witwe etwa ein von ihrem verstorbenen Mann in die Ehe eingebrachtes, ein mit diesem gemeinschaftliches oder ein erst später geborenes, aus einer anderen Verbindung stammendes Kind erzieht (vgl Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl, Anm 6 zu § 1268 RVO; Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm I 2 Bb zu § 1268; Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. und 3. Aufl, Anm C I 3 zu § 45; zur Problematik auch VDR-Kommentar zur RVO, Stand 1. Januar 1982, der zu § 1265 unter Anm 15 für eine weite Auslegung plädiert, zu § 1268 unter Anm 7 dagegen für eine Beschränkung auf das Versicherungsverhältnis, aus dem Witwenrente hergeleitet wird).
Allerdings bleibt damit noch die Frage offen, welche Mindestanforderung an die "Waisenrentenberechtigung" zu stellen ist. In etwas anderem Zusammenhang hat der Senat in BSGE 53, 4 ausgeführt, es genüge, wenn "das Kind zu dem Personenkreis gehört, der nach § 1267 RVO für den Bezug von Waisenrente in Betracht kommt" (aa0 S 7). In dieselbe Richtung gehen die Ausführungen in dem bereits erwähnten Urteil vom 10. August 1982 - 4 RJ 31/81 - hinsichtlich "eines Kindes, das in einer - irgendeiner - Beziehung zur Rentenversicherung steht" (S 7). Diese Rechtsprechung hält der Senat aufrecht. Zu ergänzen ist, daß § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO die Erziehung eines Kindes der Witwenrentenberechtigten iS der §§ 1262 Abs 2, 1267 Satz 1 RVO erfordert. Nicht verlangt wird hingegen, daß bereits während der Erziehung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Waisenrentenanspruch (Erfüllung der Wartezeit) vorliegen müßten (vgl BSGE 42, 156). Andererseits setzt der Wortlaut der Vorschrift durch das Wort "waisenrentenberechtigt" eine Beziehung des Kindes zur gesetzlichen Rentenversicherung voraus. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Wenn die erhöhte Rente wegen der Kindererziehung aus Fürsorgegründen gewährt wird, um dem Berechtigten die Erfüllung familienrechtlicher Aufgaben zu erleichtern, so liegt dies auch im Interesse der Solidargemeinschaft, die diese Leistung letztlich erbringt; dann ist es aber auch sachgerecht zu verlangen, daß das zu erziehende Kind mit der Solidargemeinschaft verbunden ist. Dies bedeutet nach der Ansicht des Senats, es muß ein potentieller Waisenrentenanspruch in dem Sinne gegeben sein, daß zumindest ein Elternteil in einem Versicherungsverhältnis zur gesetzlichen Rentenversicherung steht. Dies ist hier der Fall; denn den Ausführungen des LSG ist im Zusammenhang mit denen des SG zu entnehmen, daß sowohl die Klägerin als auch deren geschiedener Ehemann der gesetzlichen Rentenversicherung angehört.
Schon aus vorstehenden Gründen ist der Argumentation des LSG, der erhöhten Witwenrente komme eine Lohnersatzfunktion zu, für die kein Raum sei, wenn die Witwe wegen der Kindererziehung von einem Dritten Unterhalt verlangen könne, die Grundlage entzogen. Im übrigen wäre - wollte man der Auffassung des LSG folgen - gerade in dem hier vorliegenden Fall der wiederaufgelebten Witwenrente ein - etwaiger - Unterhaltsanspruch nach § 1291 Abs 2 Satz 1 2. Halbs RVO auf diese Rente anzurechnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen