Leitsatz (amtlich)

Eine unmittelbare Einwirkung durch Kampfmittel im Sinne des BVG § 5 Abs 1 Buchst a ist anzunehmen, wenn bei einem Fliegerangriff durch den Abwurf von Brandbomben in einem Haus Feuer ausgebrochen ist und ein darin anwesender Mitbewohner dadurch einen Schock erlitten hat.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Juni 1956 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerin zu 2), im folgenden der Verstorbene genannt, ist am 15. Februar 1944 einem Herzschlag erlegen. An diesem Tage hatte ein Fliegerangriff auf Berlin stattgefunden, bei dem auch das Haus A. Nr. 41 a, in dem der Verstorbene und die Klägerinnen wohnten, von Brandbomben getroffen wurde. Der Antrag der Klägerinnen vom 4. Oktober 1950 auf Gewährung von Hinterbliebenenrente wurde mit Bescheid des Versorgungsamts III Berlin vom 23. Januar 1953 abgelehnt. Den Einspruch der Klägerinnen gegen diesen Bescheid wies das Landesversorgungsamt Berlin mit Entscheidung vom 16. Oktober 1953 zurück. Auf ihre Klage hin hob das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 7. Februar 1955 die Verwaltungsentscheidungen auf und verurteilte den Beklagten, den Tod des Verstorbenen als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen (KVG) und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzuerkennen und den Klägerinnen Witwen- bzw. Waisenrente nach den Bestimmungen des KVG und BVG zu gewähren. Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Berufung ein, welche das Landessozialgericht Berlin mit Urteil vom 8. Juni 1956 zurückwies. Nach der Feststellung des Landessozialgerichts befand sich der Verstorbene bei dem Fliegerangriff im Hauskeller. Auf den Ruf, daß das Haus brenne und alle aus dem Keller heraus müßten, eilte er zum Löschen das Treppenhaus hinauf. Auf der Bodentreppe wurde ihm schlecht. Er raffte sich aber noch einmal auf und holte einen Löscheimer, um sich an den Löscharbeiten zu beteiligen. Auf der Treppe vor dem dritten Stockwerk wurde er bewußtlos und verstarb alsbald.

Das Landessozialgericht ging davon aus, daß die Ursache des Todes des Verstorbenen ein Herzschlag gewesen ist, der auch im Totenschein als Todesursache angegeben wird. Ein Herzschlag treffe zwar nur einen am Herzen bereits vorgeschädigten Menschen. Jedoch auch dann, wenn unterstellt werde, daß der Verstorbene herzkrank gewesen ist, müßten die Ereignisse am 15. Februar 1944 im Hause der Klägerinnen als unmittelbare Kriegseinwirkung angesehen werden, auf die der Tod des Verstorbenen mit Wahrscheinlichkeit zurückzuführen ist. Der Abwurf der Brandbomben, die zahlreiche Brände verursacht, das Wohnhaus des Verstorbenen getroffen und eine drohende Gefahr für den Verlust der Wohnung und der Habe des Verstorbenen mit sich gebracht hatten, müßten als Einwirkungen von Kampfhandlungen angesehen werden. Diesen gefährlichen Einwirkungen habe der Verstorbene örtlich unmittelbar gegenübergestanden. Außer der durch das Treppensteigen entstandenen Anstrengung habe er noch unter der Schockwirkung gestanden, daß der Dachboden und bereits eine Wohnung des dritten Stockwerks brannten. Diese Einwirkungen seien unmittelbare Einwirkungen, obwohl sie auf den Verstorbenen nicht körperlich eingewirkt hätten. Derartige Schockwirkungen seien geeignet, bei einem Herzkranken den Herztod hervorzurufen. Der Tod des Verstorbenen müsse auf diese Einwirkungen zurückgeführt werden, da über den Zustand des Leidens des Klägers keine genauen Feststellungen getroffen seien und somit nicht die Folgerung gezogen werden könne, daß das Leiden auch ohne die Aufregung zu gleicher Zeit zum Tode geführt hätte.

Die Revision wurde vom Landessozialgericht zugelassen.

Gegen das am 26. Juni 1956 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht am 6. Juli 1956, Revision eingelegt und die Revision mit Schriftsatz vom 16. Juli 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht am 19. Juli 1956, begründet.

Er beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Juni 1956 sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 7. Februar 1955 insoweit aufzuheben, als über die Ansprüche der Klägerinnen für die Zeit nach dem 30. September 1950 entschieden worden ist, und die Klage insoweit abzuweisen.

Er rügt, daß die Voraussetzungen für die Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG, der allein als Rechtsgrundlage für die Ansprüche der Klägerinnen in Betracht komme, nach den Feststellungen des Landessozialgerichts nicht erfüllt seien. Jene Folgen des Krieges, denen die Gesamtheit der Zivilbevölkerung unterlag, wie Schrecken, Aufregung oder Überanstrengung, seien mittelbare, aber nicht unmittelbare Kriegseinwirkungen gewesen. Auch der Verstorbene habe den Herzschlag nicht unmittelbar dadurch, daß Spreng- und Brandbomben in seiner Nähe einschlugen, erlitten, sondern erst dadurch, daß er sich zur Beseitigung der Folgen und zur Mitwirkung bei den Löscharbeiten auf den Dachboden des Hauses begab. Es habe sich daher nicht um eine spontane Reaktion des Verstorbenen auf die Kampfhandlungen selbst gehandelt; ihr fehle der erforderliche enge örtliche und zeitliche Zusammenhang mit der Feindeinwirkung. Dem Beklagten erscheint es auch zweifelhaft, ob nicht jede andere Aufregung auch den plötzlichen Tod des Verstorbenen herbeigeführt hätte und ob daher nicht als wesentliche Ursache des Todes die anlagebedingte (krankhafte) Reaktionsweise des Verstorbenen statt der durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung verursachten Schädigung anzusprechen sei.

Die Klägerinnen beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten die Ausführungen des Landessozialgerichts für zutreffend und weisen darauf hin, daß der Tod des Verstorbenen noch während des Fliegerangriffs und vor der Entwarnung eingetreten sei. Dieser Umstand spreche für eine unmittelbare Einwirkung der Kampfhandlungen. Es bleibe gegebenenfalls zu prüfen, ob nicht § 3 Abs. 1 Buchst. o BVG zum Zuge kommen müßte. Hierzu sei in der Einspruchsbegründung bereits vorgetragen worden, daß der Verstorbene als Brandwache eingeteilt gewesen sei.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden. Da das Landessozialgericht die Revision zugelassen hat, ist sie auch statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Die sonach zulässige Revision ist aber nicht begründet.

Soweit das Landessozialgericht über die Ansprüche der Klägerinnen für die Zeit vor dem Inkrafttreten des BVG (1.10.1950) nach den Vorschriften des Berliner KVG vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Groß-Berlin Teil I S. 318) und der dazu ergangenen Ersten Durchführungsverordnung (DVO) vom 13. Dezember 1950 (VOBl. Teil I S. 570) entschieden hat, ist dieser Teil des Urteils nicht mit der Revision angegriffen.

Soweit das Landessozialgericht den Klägerinnen Ansprüche auf Hinterbliebenenrente für die Zeit vom 1. Oktober 1950 ab nach den Vorschriften des BVG zugesprochen hat, ist die Revision des Beklagten unbegründet. Zutreffend ist das Landessozialgericht davon ausgegangen, daß im vorliegenden Fall die Ansprüche der Klägerinnen auf Hinterbliebenenrente (§ 38 BVG) dann gegeben sind, wenn der Verstorbene an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG gestorben ist. Entgegen der Ansicht der Revision ist das Landessozialgericht einem Rechtsirrtum nicht dadurch unterlegen, daß es in den Einwirkungen auf den Verstorbenen bei dessen Tode unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG gesehen hat. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 15. November 1955 (BSG. 2 S. 29) ausgeführt hat, sind als Einwirkungen im Sinne dieser Vorschrift auch psychische Einwirkungen (Schockwirkungen) zu verstehen, wenn sie unmittelbar auf Kampfhandlungen, insbesondere Kampfmittel, zurückzuführen sind. Zwar ging die Einwirkung auf den Verstorbenen nicht von der Explosion einer Bombe aus, sondern von dem durch die Brandbomben entstandenen Feuer, das als das eigentliche Kampfmittel anzusprechen ist. Der Abwurf von Brandbomben ist die Anwendung eines Kampfmittels zu dem Zweck, Brände zu entfachen und Schäden anzurichten. Dem steht nicht entgegen, daß bei derartigen Bomben zum Teil auch gleichzeitig ähnliche Wirkungen, wie bei den Sprengbomben durch die Explosion selbst eintreten können. Im vorliegenden Fall hatten nach den Feststellungen des Landessozialgerichts Brandbomben das Wohnhaus der Klägerinnen getroffen und Feuer verursacht. Der Verstorbene hatte bei seinem Gang zum Dachboden dies aus nächster Entfernung miterlebt und zu Gesicht bekommen. Dem Landessozialgericht muß unbedenklich gefolgt werden, wenn es unter diesen Umständen eine unmittelbare (psychische) Einwirkung durch Kampfmittel auf den Verstorbenen angenommen hat. Die Ereignisse stellten sich für den Verstorbenen nicht nur als das "Erleben eines allgemeinen Kampfgeschehens" dar wie für einen unbeteiligten Zuschauer ein Merkmal, das der erkennende Senat in der erwähnten Entscheidung zur Kennzeichnung einer nur mittelbaren Einwirkung hervorgehoben hat. Der Verstorbene war vielmehr persönlich und unmittelbar betroffen; das Feuer und der Brand im Dachstuhl und im dritten Stock gefährdeten ihn und seine Habe.

Die Ausführungen der Revision, daß es sich bei der Schockwirkung auf den Verstorbenen nicht um eine unmittelbare auf die Kampfmittel zurückzuführende Einwirkung gehandelt habe, der Tod somit nicht als spontane Reaktion auf jene Einwirkung anzusehen sei, treffen nicht zu. Das Landessozialgericht hat festgestellt, daß der Verstorbene den gefährlichen Einwirkungen schon örtlich unmittelbar ausgesetzt war, als er vom Keller auf den Boden hinauf eilte. Bereits bei dieser Gelegenheit wurde ihm schlecht, bereits in diesem Augenblick war also eine spontane Wirkung eingetreten, die sich im weiteren Verlauf der Ereignisse dahin auswirkte oder verschlimmerte, daß er kurz darauf bewußtlos wurde und sein Tod eintrat. Ein Rechtsirrtum des Landessozialgerichts liegt daher nicht vor, wenn es nach dem von ihm festgestellten und auch nicht angegriffenen Sachverhalt davon ausgegangen ist, daß das Brennen des Wohnhauses bei dem Verstorbenen spontan einen Schock hervorrief. Das Landessozialgericht spricht zwar in seiner Urteilsbegründung davon, daß die Aufregung und "die Anstrengung" auf den Verstorbenen einwirkten. Es läßt aber keinen Zweifel, wie aus der Zusammenfassung am Schluß seiner Ausführungen hervorgeht, daß es in der Aufregung, verursacht durch den Schock, die unmittelbare und wesentliche Einwirkung gesehen hat. Andernfalls hätte es für das Landessozialgericht nahegelegen zu prüfen, ob nicht die Anstrengung gelegentlich der von dem Verstorbenen getroffenen Anstalten zum Löschen-für sich allein betrachtet - schon auf einen versorgungsrechtlich erheblichen Tatbestand zurückzuführen ist, wie etwa auf § 3 Abs. 1 Buchst. o BVG in Verbindung mit § 9 Abs. 5 der Ersten DVO zum Luftschutzgesetz.

Schließlich ist das Landessozialgericht keinem Rechtsirrtum erlegen, wenn es die durch Kampfmittel beim Verstorbenen hervorgerufene Schockwirkung als wesentliche Todesursache gegenüber dem beim Verstorbenen bereits vorhanden gewesenen Herzleiden angesehen hat. Der Beklagte hat gegenüber dieser Ansicht des Landessozialgerichts nur Zweifel geäußert, ohne die vom Landessozialgericht für seine Auffassung gegebene Begründung im einzelnen anzugreifen. Das Landessozialgericht hat zwar eingeräumt, daß bei einem fortgeschrittenen Herzleiden der Tod auch ohne besondere Ereignisse am Todestage des Verstorbenen hätte eintreten können. Es hat aber im vorliegenden Fall ohne Rechtsirrtum die wesentliche Ursache in der Schockwirkung gesehen, weil die Schockwirkung ("Aufregungen stärkster Art") geeignet war, den Herztod hervorzurufen, der Tod dann tatsächlich unmittelbar darauf eingetreten ist und sonst kein Grund vorhanden ist für die Annahme, daß der Tod des Verstorbenen auch ohne die Schockeinwirkung zu jener Zeit eingetreten wäre. Das Landessozialgericht hat daher zu Recht den Tod des Verstorbenen auf eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG zurückgeführt und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin zurückgewiesen.

Der Senat hatte auch keinen Anlaß, das Urteil des Landessozialgerichts etwa deshalb zu beanstanden, weil es das Urteil des Sozialgerichts auch insoweit aufrecht erhalten hat, als nach diesem der Beklagte verurteilt wurde, den Tod des Ehemanns der Klägerin zu 1) als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 KVG und BVG anzuerkennen. Nach Auffassung des Senats handelt es sich bei diesem Teil des Urteilsspruches des Sozialgerichts, wie die Begründung des Urteils erkennen läßt, nicht um eine selbständige Feststellung, die in Anbetracht der erhobenen Leistungsklage rechtlich unzulässig wäre (SozR. SGG § 55 Bl. Da 2 Nr. 5 und Nr. 6, Bl. Da 3 Nr. 7 und Nr. 8). Dieser Urteilsausspruch ist ein überflüssiger Zusatz, der in der Urteilsformel besser unterblieben wäre und stattdessen in der Urteilsbegründung seinen Platz bekommen hätte.

Die Revision des Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2340670

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge