Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit des Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71. Ausnahmefall iS von Art 69 Abs 2 S 2 EWGV 1408/71 und Fristverlängerung. Ermessensentscheidung über die Fristverlängerung
Orientierungssatz
1. Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 verstößt nicht gegen das GG, insbesondere nicht gegen Art 14 GG (vgl BSG 1980-11-13 7 RAr 44/78 = SozR 6050 Art 69 Nr 4).
2. Die Fristverlängerung setzt das Vorliegen eines Ausnahmefalles iS des EWGV 1408/71 Art 69 Abs 2 S 2 voraus. Ein solcher Fall ist immer dann gegeben, wenn die rechtzeitige Rückkehr durch einen unvorhersehbaren Umstand wie Krankheit, Unfall, Streik oder ähnliches verhindert worden ist, den der Arbeitnehmer nicht zu vertreten hat, oder wenn die rechtzeitige Rückkehr aus wichtigem Grunde unterblieben ist (vgl BSG 1980-11-13 7 RAr 44/78 = SozR 6050 Art 69 Nr 4).
3. Die Entscheidung über die Fristverlängerung - beschränkt auf Ausnahmefälle - steht im Ermessen der zuständigen Arbeitsverwaltung bzw des zuständigen Trägers (vgl EuGH 1980-06-19 41/79 = EuGHE 1980, 1979).
Normenkette
EWGV 1408/71 Art 69 Abs 2 S 2; GG Art 14 Fassung: 1949-05-23; EWGV 1408/71 Art 69 Abs 2 S 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.09.1978; Aktenzeichen L 5 Al 41/77) |
SG München (Entscheidung vom 15.12.1976; Aktenzeichen S 33 Al 747/75) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ab 7. April 1975. Sie ist italienische Staatsangehörige und bezog in der Zeit vom 13. November 1973 bis 9. Dezember 1974 - mit Unterbrechungen vom 16. Dezember 1973 bis 16. Oktober 1974 - Alg. Auf ihren Antrag bescheinigte die Beklagte der Klägerin am 6. Dezember 1974 zur Arbeitsuche in Italien, daß sie unter den Voraussetzungen des Art 69 Abs 1 Buchst b der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr L 149 vom 5. Juli 1971, S 2) - EWGV 1408/71 - Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit noch für eine Dauer von 237 Tagen habe, jedoch - in Italien - nicht länger als bis zum 9. März 1975. Am 9. Dezember 1974 reiste die Klägerin nach Italien und meldete sich in Palermo arbeitslos. Am 5. März 1975 wurde sie dort für 14 Tage, am 20. März 1975 für weitere 20 Tage krank geschrieben. Sie kehrte, ohne in Italien Arbeit gefunden zu haben, nach Deutschland zurück und meldete sich hier am 7. April 1975 wieder arbeitslos.
Die Wiederbewilligung des Alg lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin nicht innerhalb der Dreimonatsfrist des Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 zurückgekehrt sei (Bescheid vom 16. Mai 1975). Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 1975).
Auf die Klage, mit der die Klägerin die Gewährung von Alg ab 7. April 1975 geltend gemacht hatte, hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verpflichtet, über den Anspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden; im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Dezember 1976). Es hat ausgeführt, die Beklagte habe das ihr nach Art 69 Abs 2 Satz 2 EWGV 1408/71 eingeräumte Ermessen, in Ausnahmefällen Fristverlängerung zu gewähren, nicht ausgeübt. Eine Erkrankung des Arbeitslosen vor dem Ende der Dreimonatsfrist stelle einen Ausnahmefall dar, soweit die Erkrankung dazu führe, daß dem Arbeitslosen eine rechtzeitige Rückkehr nicht zugemutet werden könne. Die Beklagte habe unter Beachtung dieser Rechtsauffassung zunächst eine Ermessensentscheidung über die Fristverlängerung herbeizuführen. Die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 28. September 1978 zurückgewiesen; auf die Anschlußberufung der Klägerin hat es das Urteil des SG, soweit es die Klage auf Gewährung von Alg abgewiesen hat, aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 7. April 1975 für 160 Wochentage Alg zu gewähren. Im übrigen hat das LSG die Anschlußberufung der Klägerin (wegen Gewährung von Arbeitslosenhilfe -Alhi-) zurückgewiesen.
Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Berufung der Beklagten sei unbegründet und die Anschlußberufung der Klägerin bezüglich der Gewährung von Alg begründet. Die Klägerin, die die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach den deutschen Rechtsvorschriften erfüllt gehabt habe, habe nach Art 69 Abs 2 der EWGV 1408/71 einen Rechtsanspruch auf Weitergewährung von Alg, obwohl sie nicht innerhalb der Dreimonatsfrist des Art 69 Abs 1 Buchst c EWGV 1408/71 nach Deutschland zurückgekehrt sei. Die Beklagte sei nach Art 69 Abs 2 Satz 2 dieser Verordnung zur Fristverlängerung verpflichtet; denn diese Bestimmung räume entgegen ihrem Wortlaut kein Ermessen ein, sondern beinhalte eine Ermächtigung, von der bei Vorliegen der vorgesehenen Voraussetzungen Gebrauch gemacht werden müsse. Es sei nämlich mit der Systematik des deutschen Rechts, wonach ein Rechtsanspruch auf Alg bestehe, unvereinbar, wenn eine zwischenstaatliche Regelung den Alg-Anspruch von einer Ermessensentscheidung der Beklagten abhängig mache. Als einzige Voraussetzung sei in Art 69 Abs 2 Satz 2 EWGV 1408/71 normiert, daß es sich um einen "Ausnahmefall" handeln müsse. Ein solcher sei insofern gegeben, als die Klägerin innerhalb der Dreimonatsfrist in Italien krank geworden und hierdurch an der Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland gehindert worden sei. Die Rechtsordnung verlange nicht, daß der Arbeitslose in krankem Zustand zurückreise, um sich bei der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zu melden. Bei Bettlägerigkeit käme eine solche Reise ohnehin in Betracht; wenn der Versicherte trotz Krankheit ausnahmsweise reisefähig sein sollte, hätte eine solche Reise mit nachfolgender Meldung keinen Sinn, weil er der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe.
Die Beklagte könne die Fristverlängerung bzw den Leistungsanspruch nicht mit der Begründung ablehnen, die Arbeitsuche in Italien sei nicht ernsthaft betrieben worden, weil eine Vermittlungsmöglichkeit in Palermo erkennbar nicht bestanden und die Klägerin lediglich einen Erholungsurlaub in ihrer Heimat verbracht habe. Art 69 Abs 1 Buchst b der EWGV 1408/71 setze für das Tatbestandsmerkmal der Arbeitsuche lediglich voraus, daß sich der Versicherte bei der Arbeitsverwaltung des anderen Mitgliedstaats arbeitslos melde und sich der dortigen Kontrolle unterwerfe. Es stehe ihm frei, die Dreimonatsfrist des Art 69 Abs 1 Buchst c EWGV 1408/71 auszuschöpfen. Andernfalls würde die Freizügigkeit der Arbeitsuchenden im EG-Raum in unzulässiger und von der Verordnung nicht gewollter Weise eingeschränkt.
Deshalb sei die Dreimonatsfrist um die Zeit der Erkrankung (vom 5. März bis 6. April 1975 = 28 Wochentage) bis 10. April 1975 zu verlängern. Da die Klägerin sich bereits wieder am 7. April 1975 arbeitsuchend gemeldet und Antrag auf Alg gestellt habe, habe sie Anspruch auf Alg für die Restdauer von 160 Wochentagen. In diesem Zeitraum sei die Klägerin auch arbeitslos gewesen.
Die Anschlußberufung der Klägerin sei unbegründet, soweit sie darüber hinaus noch die Gewährung von Alhi geltend gemacht habe, denn sie sei nicht bedürftig iS von § 134 Abs 1 Nr 3 iVm § 138 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) gewesen.
Mit der Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe Sinn und Zweck der Regelung des Art 69 EWGV 1408/71 verkannt. Diese Vorschrift räume dem Arbeitslosen die Mitnahme des deutschen Leistungsanspruchs ausschließlich zum Zwecke der Arbeitsuche in dem anderen EG-Land ein. Im Falle der erkennbaren Aussichtslosigkeit der Arbeitsuche sei das Verbleiben in dem anderen Staat nach Sinn und Zweck des Art 69 EWGV 1408/71 nicht mehr erforderlich und damit auch nicht mehr gerechtfertigt. Dies begründe für den Arbeitslosen die Obliegenheit, in den zuständigen Staat zurückzukehren, sobald für ihn erkennbar werde, daß seine Arbeitsuche ohne Aussicht auf Erfolg sei. Schöpfe der Arbeitslose trotz mangelnder Erfolgsaussicht seiner Arbeitsuche die Dreimonatsfrist voll aus und handele er damit dem Zweck der Regelung bewußt zuwider, so müsse er auch das Risiko tragen, durch unvorhergesehene Ereignisse an der rechtzeitigen Rückkehr gehindert zu werden. Diese Auffassung entspreche dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 20. März 1979 - 139/78 - (SozR 6050 Art 69 Nr 3). Danach habe der EuGH ausdrücklich den Gesichtspunkt einer wirksamen Kontrolle bei der Verlängerung der Rückkehrfrist als erheblich angesehen. Das Risiko, durch verspätete Rückkehr den Leistungsanspruch zu verlieren, sei bei mißbräuchlicher Inanspruchnahme der Mitnahme des Anspruchs stets dem Schaden angemessen, der der Versichertengemeinschaft durch das Verhalten des Arbeitnehmers entstehe. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf den der EuGH in seinem Urteil vom 19. Juni 1980 (41/79, 121/79, 796/79) hingewiesen habe, sei daher im vorliegenden Falle gewahrt. Er könne nämlich nur dann zum Tragen kommen, wenn der Grund für die verspätete Rückkehr zu einem Zeitpunkt eingetreten sei, zu dem die Erfolgsaussicht der Arbeitsuche noch nicht festgestanden habe oder aussichtsreiche Arbeitsbemühungen sich über drei Monate hinaus erstreckt hätten. So liege der Fall bei der Klägerin jedoch nicht, weil diese nach ihren Erfahrungen in Sizilien von Anfang an keine Aussicht gehabt habe, alsbald in Arbeit vermittelt zu werden. Dies ergebe sich aus der jetzt vorliegenden Auskunft der italienischen Gemeindevermittlungsstelle vom 23. April 1979. Da mithin die Ausschöpfung der Dreimonatsfrist zweckwidrig gewesen sei, habe sie, die Beklagte, trotz Vorliegens eines Ausnahmefalles, der möglicherweise in der die Rückkehr ausschließenden Erkrankung gelegen habe, die Verlängerung der Frist aufgrund des ihr eingeräumten Ermessens ablehnen können.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil und das Urteil des
Sozialgerichts München vom 15. Dezember 1976
aufzuheben, soweit sie Alg betreffen, und
insoweit die Klage in vollem Umfang abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es
Alg betrifft, und insoweit den Rechtsstreit
zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das
Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, das Urteil der Vorinstanz sei - jedenfalls im Ergebnis - richtig. Es könne dahingestellt bleiben, ob Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 der Beklagten ein Ermessen zur Fristverlängerung in Ausnahmefällen einräume oder nicht, da sich im vorliegenden Falle jedenfalls das Ermessen auf Null reduziert habe. Sie sei unstreitig in Italien erkrankt, so daß sie die Dreimonatsfrist nicht habe einhalten können. Die Beklagte räume selbst ein, daß ein Ausnahmefall jedenfalls dann anzuerkennen sei, wenn eine Erkrankung vorliege, die die rechtzeitige Rückkehr vom ärztlichen Standpunkt aus als unmöglich erscheinen lasse. Dies sei nach den unangegriffenen Feststellungen der Vorinstanz der Fall gewesen. Deshalb sei die Beklagte gezwungen gewesen, den Dreimonatszeitraum zu verlängern und ihr die entsprechenden Leistungen weiter zu gewähren. Im übrigen habe das SG zutreffend festgestellt, daß die Beklagte ihr Ermessen bisher überhaupt noch nicht ausgeübt habe.
Die Auffassung der Beklagten, sie sei auch bei Vorliegen eines Ausnahmefalles zur Fristverlängerung nicht verpflichtet, wenn die Ausschöpfung des Dreimonatszeitraums nicht mehr durch eine aussichtsreiche Arbeitsuche gerechtfertigt gewesen sei, sei durch den Wortlaut des Art 69 der EWGV 1408/71 nicht gedeckt. Die Beklagte unterstelle ohne nähere Begründung, daß ihr Aufenthalt in Sizilien zweckwidrig gewesen sei. Dabei verweise sie hinsichtlich der Arbeitsmarktlage in Sizilien lediglich auf ihre Erfahrungen in den vergangenen Jahren, ohne diese Erfahrungen näher darzulegen. Überdies habe die Beklagte auch nicht schlüssig vorgetragen, daß ihr - der Klägerin - die Aussichtslosigkeit der Arbeitsuche erkennbar gewesen sei.
Rein vorsorglich rüge sie auch, daß Art 69 der EWGV 1408/71 dem EWG-Vertrag widerspreche. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH dürften innerstaatlich erworbene Rechte durch Verordnungen des Rates nicht beeinträchtigt oder beseitigt werden. Nach der inzwischen ergangenen Entscheidung des EuGH vom 19. Juni 1980 (41/79, 121/79, 796/79), dessen Ausführungen zu Art 14 des Grundgesetzes (GG) zwar nicht überzeugten, sei jedenfalls für Fälle wie den vorliegenden ausgesprochen, daß der Arbeitnehmer seinen Leistungsanspruch behalte, wenn ein Ausnahmefall vorliege. Dies sei hier der Fall.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist mit der Maßgabe begründet, daß das Urteil des LSG, soweit es Alg betrifft, aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird.
Zu Recht hat das LSG die Berufungen als zulässig angesehen. Der Zulässigkeit, die das Revisionsgericht bei einer zugelassenen Revision als eine von Amts wegen zu beachtende Verfahrensvoraussetzung zu prüfen hat (vgl für viele BSG SozR 1500 § 150 Nr 11 und 18 mwN), steht § 144 Abs 1 Nr 2 SGG nicht entgegen. Die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung der Klägerin betreffen Leistungen wegen Arbeitslosigkeit ab 7. April 1975. Nach den Feststellungen des LSG umfaßte der durch den Alg-Bezug in Italien nicht verbrauchte Restanspruch 160 Tage; die Klägerin war von dem Tage ab, an dem sie sich wieder arbeitslos meldete (7. April 1975) für diesen Zeitraum arbeitslos iS von § 100 AFG.
Zutreffend hat das LSG zwar erkannt, daß die Klägerin den Anspruch auf Alg, der ihr nach den Vorschriften des AFG noch zugestanden hat, nach Art 69 Abs 2 Satz 1 EWGV 1408/71 an sich wegen Versäumung der Rückkehrfrist verloren hat. Ob jedoch die Voraussetzungen vorgelegen haben, bei deren Vorliegen die Beklagte nach Art 69 Abs 2 Satz 2 EWGV 1408/71 eine Ermessensentscheidung über die Verlängerung der Rückkehrfrist zu treffen hat, läßt sich nach den Feststellungen des LSG nicht entscheiden.
Nach Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 verliert der Arbeitslose, der unter Mitnahme seines Leistungsanspruchs sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, um dort eine Beschäftigung zu suchen, jeden Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates, wenn er nicht vor Ablauf des Zeitraums, in dem ihm der mitgenommene Leistungsanspruch in dem anderen Mitgliedstaat auszuzahlen ist, in den zuständigen Staat zurückkehrt (Satz 1). In Ausnahmefällen kann die zuständige Arbeitsverwaltung diese Frist verlängern (Satz 2). Der Senat hat zu prüfen, ob diese Vorschriften zutreffend angewendet worden sind. Die vom Rat der Europäischen Gemeinschaften erlassene Verordnung ist zwar kein von einem Organ des Bundes erlassenes Recht. Ihr Geltungsbereich, die gesamte Gemeinschaft, erstreckt sich aber über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus. Schon aus diesem Grunde hat das Bundessozialgericht (BSG) nach § 162 SGG zu prüfen, ob die Verordnung nach ihrem eindeutigen Inhalt bzw nach der Auslegung des EuGH, wie vom LSG angenommen, Platz greift (vgl dazu Grunsky in Stein/Jonas, Zivilprozeßordnung -ZPO-, 20. Aufl 1977, § 549 RdNr 57). Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom 13. November 1980 - 7 RAr 44/78) ist Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 geltendes Recht; Bedenken dagegen, daß Vorschriften des primären Gemeinschaftsrechts, insbesondere Art 51 und Art 189 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 (EWG-Vertrag), auf denen die Geltung der EWGV 1408/71 beruht, mit Bestimmungen des GG (Art 79 Abs 3, Art 20) kollidieren, bestehen nicht. Ob und inwieweit die Anwendbarkeit sekundären Gemeinschaftsrechts im Bereich der Bundesrepublik (noch) am Maßstab deutschen Verfassungsrechts zu prüfen ist (vgl dazu BVerfGE 37, 271 ff einerseits, BVerfGE 52, 187, 202 f andererseits), läßt der Senat offen; denn der hier anzuwendende Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 verstößt nicht gegen das GG, insbesondere nicht gegen Art 14 GG, wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat (Urteil vom 13. November 1980 - 7 RAr 44/78 -). Durch Art 69 EWGV 1408/71 werden nämlich die Ansprüche nach dem AFG nicht beschränkt, sondern grundsätzlich erweitert, weil das AFG den Bezug von Alg oder Alhi im Ausland grundsätzlich nicht vorsieht. Die Regelung des Europäischen Rechts greift daher in eine andersartige Regelung des AFG nicht ein, sondern erweitert die Rechte des arbeitslosen Arbeitnehmers, indem ihm zur Arbeitsuche in einem Mitgliedstaat die Mitnahme seines Leistungsanspruchs ermöglicht wird. Verbleibt er in der Bundesrepublik, so verbleiben ihm voll die Rechte, die das AFG vorsieht. Lediglich dann, wenn der Arbeitslose nach eigener Entscheidung einen Leistungsanspruch zur Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft nach den Voraussetzungen des Art 69 EWGV 1408/71 mitnimmt, unterfällt der Anspruch der einschränkenden Regelung des Abs 2. Der arbeitslose Arbeitnehmer setzt sich damit selbst der Gefahr aus, bei nicht rechtzeitiger Rückkehr jeglichen Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit zu verlieren. Diese Regelung, die den Anwendungsbereich des AFG nicht berührt, ist nicht unangemessen, zumal da in Ausnahmefällen der als Folge der Fristversäumnis vorgesehene Verlust aller Ansprüche durch Fristverlängerung abgewendet werden kann. Da mithin durch Art 69 EWGV 1408/71 innerstaatlich erworbene Rechte weder beseitigt noch beeinträchtigt werden, liegt kein Verstoß gegen Art 14 GG vor. Art 69 EWGV verstößt auch nicht gegen den EWG-Vertrag, insbesondere dessen Art 51, wie der EuGH mit Urteil vom 19. Juni 1980 (- 41/79, 121/79, 796/79 -) - für den Senat bindend - entschieden hat.
Nach Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 hat die Klägerin - vorbehaltlich der Verlängerung der Rückkehrfrist - durch verspätete Rückkehr ihre Leistungsansprüche gegen die Beklagte verloren. Nach Satz 1 dieser Bestimmung verliert der Arbeitslose, der - wie die Klägerin - die Vergünstigungen des Art 69 Abs 1 EWGV 1408/71 wahrgenommen und sich unter Mitnahme seines bei der Beklagten erworbenen Leistungsanspruchs für drei Monate zur Arbeitsuche nach Italien begeben hat, jeden weiteren, nach den Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland an sich zustehenden Anspruchs auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit, wenn er nicht vor Ablauf des Zeitraums, für den er den Anspruch mitgenommen hat, in die Bundesrepublik zurückkehrt (vgl EuGH Urteil vom 19. Juni 1980 - 41/79, 121/79, 796/79 -). Der Dreimonatszeitraum hat hier nach Art 69 Abs 1 Buchst c EWGV 1408/71 am 9. Dezember 1974 begonnen. Spätestens im Laufe dieses Tages stand die Klägerin der Beklagten nicht mehr zur Verfügung; denn nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG ist sie am 9. Dezember 1974 nach Sizilien abgereist. Danach liefen die drei Monate bis zum 10. März 1975, wie sich aus Art 3 Abs 1 Unterabs 2 und Abs 2 Buchst c der Verordnung (EWG, Euratom) Nr 1182/71 des Rates vom 3. Juni 1971 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten und Termine (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr L 124 vom 8. Juni 1971 S 1 -EWGV 1182/71-) ergibt (vgl Urteil des Senats vom 13. November 1980 - 7 RAr 44/78 -). Die Klägerin ist erst nach dem 10. März 1975, mithin verspätet, zurückgekehrt. Das LSG hat zwar den Tag der Rückkehr nicht festgestellt; aufgrund seiner - unangegriffenen - Feststellung, daß der behandelnde Arzt die Klägerin am 20. März 1975 in Italien erneut krank geschrieben hat, hat der Senat jedoch davon auszugehen, daß die Klägerin sich noch mindestens bis zu diesem Tage in Italien aufgehalten hat.
Hat die Klägerin mithin die Rückkehrfrist des Art 69 Abs 2 Satz 1 EWGV 1408/71 versäumt, so kommt als einzige Rechtsgrundlage, die ein Fortbestehen des Leistungsanspruchs gegen den zuständigen Staat vorsieht, Art 69 Abs 2 Satz 2 EWGV 1408/71 in Betracht. Nach dieser Bestimmung kann die zuständige Arbeitsverwaltung oder der zuständige Träger die Frist in Ausnahmefällen verlängern. Die Beklagte hat diese Frist nicht verlängert. Sie hat eine Entscheidung hierüber noch nicht getroffen. Weder der ursprüngliche Bescheid noch der Widerspruchsbescheid enthalten Ausführungen über die Verlängerung der Frist. Auch während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte keine Entscheidung über die Fristverlängerung herbeigeführt, sondern nur zur Begründung ihrer Berufung ausgeführt, sie sei im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 zu einer Fristverlängerung nicht verpflichtet gewesen. Ob dies rechtmäßig ist, läßt sich nach den Feststellungen des LSG nicht entscheiden.
Die Fristverlängerung setzt das Vorliegen eines Ausnahmefalles voraus. Ein solcher Fall ist immer dann gegeben, wenn die rechtzeitige Rückkehr durch einen unvorhersehbaren Umstand wie Krankheit, Unfall, Streik oä verhindert worden ist, den der Arbeitnehmer nicht zu vertreten hat, oder wenn die rechtzeitige Rückkehr aus wichtigem Grunde unterblieben ist (vgl dazu das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des Senats vom 13. November 1980 - 7 RAr 44/78 -). Ein Ausnahmefall ist daher gegeben, wenn die Klägerin infolge ihrer Erkrankung nicht rechtzeitig zurückkehren konnte oder durfte. Ob dies tatsächlich so gewesen ist, hat das LSG nicht festgestellt. Es hat sich lediglich auf die Feststellung beschränkt, daß die Klägerin krank gewesen sei, und hat hierzu ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob die Reisefähigkeit durch die Krankheit beeinträchtigt worden sei oder nicht, denn jedenfalls verlange die EWGV 1408/71 nicht, daß der Arbeitslose, um die Rückkehrfrist einzuhalten, im kranken Zustand zurückreise, nur um sich bei der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates arbeitsuchend zu melden. Dieser Auffassung kann nicht beigetreten werden. Sie beruht auf der unzutreffenden Annahme, Art 69 EWGV 1408/71 verlange, daß sich der Versicherte der Arbeitsvermittlung des zuständigen Staates rechtzeitig wieder zur Verfügung stelle bzw arbeitslos melde. Dies ist aber nicht der Fall, denn Art 69 Abs 2 EWGV 1408/71 verlangt lediglich eine rechtzeitige "Rückkehr". Ein Ausnahmefall liegt daher nur dann vor, wenn die rechtzeitige Rückkehr durch Krankheit in dem Sinne "verhindert" worden ist, daß der Kranke wegen seines Zustandes oder wegen einer Behandlungsbedürftigkeit nicht reisen konnte oder durfte. Das LSG wird hierzu nähere Feststellungen zu treffen haben.
Ist ein Ausnahmefall gegeben, hat die Beklagte über die Fristverlängerung eine Ermessensentscheidung zu treffen. Entgegen der Ansicht des LSG begründet Art 69 Abs 2 Satz 2 EWGV 1408/71 keine Verpflichtung der Beklagten, die Fristverlängerung stets dann einzuräumen, wenn der unbestimmte Rechtsbegriff des Ausnahmefalles gegeben ist. Vielmehr steht nach der Rechtsprechung des EuGH, dem im Verhältnis zum BSG nach Art 177 EWG-Vertrag die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft zukommt, die Entscheidung über die Fristverlängerung - beschränkt auf Ausnahmefälle - im Ermessen der zuständigen Arbeitsverwaltung bzw des zuständigen Trägers (EuGH SozR 6050 Art 69 Nr 3; EuGH Urteil vom 19. Juni 1980 - 41/79, 121/79, 796/79 -).
Lehnt die Beklagte bei Vorliegen eines Ausnahmefalles einen Antrag auf Alg (bzw Alhi) ab, ohne ihr Ermessen auszuüben, verletzt sie objektiv den Antragsteller in seinem Recht auf eine Ermessensentscheidung; der Ablehnungsbescheid ist dann rechtswidrig. Solange eine Ermessensentscheidung nicht vorliegt bzw nachgeholt wird, hat das LSG im Prozeß nur zu entscheiden, ob ein "Ausnahmefall" gegeben war; ggf hat es die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, soweit diese durch das SG verurteilt worden ist, über die Gewährung des Alg hinsichtlich der Fristverlängerung einen Bescheid zu erteilen.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt demnach davon ab, ob ein Ausnahmefall gegeben ist, der die Beklagte zu einer Ermessensentscheidung verpflichtet. Da insoweit die erforderlichen Feststellungen fehlen, ist das angefochtene Urteil gem § 170 Abs 2 SGG insoweit aufzuheben, als es den Anspruch auf Alg betrifft, also die Berufung der Beklagten zurückgewiesen worden und auf die Anschlußberufung der Klägerin die Beklagte verpflichtet worden ist, der Klägerin ab 7. April 1975 Alg zu gewähren.
Die Sache ist an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen