Leitsatz (amtlich)
Maßnahmen zur Verhütung der übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit sind nur auf Grund einer normativen Regelung im Honorarverteilungsmaßstab - und nicht schon unmittelbar nach RVO § 368f Abs 1 S 5 RVO - zulässig.
Normenkette
RVO § 368f Abs. 1 S. 5 Fassung: 1955-08-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, ein Kassenarzt in Stuttgart, rechnete mit der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV) 1462 Reichsversicherungsordnungs-Kassenfälle (RVO-Kassenfälle) im 2. Vierteljahr 1959 ab. Der Prüfungsausschuß kürzte die Gesamtforderung um 1462,- DM - um eine DM je Fall -,
"weil die Vielzahl der Beratungen unter Berücksichtigung der großen Zahl von kleinen Fällen und von Diagnosen aus gesehen über das Notwendige hinausgehe" (Beschluß vom 7. Oktober 1959).
Der Beschwerdeausschuß wies durch Bescheid vom 29. Februar 1960 den Widerspruch des Klägers zurück, weil bei insgesamt 1834 Behandlungsfällen (einschließlich der übrigen Fälle) eine übermäßige Ausdehnung der Kassenpraxis vorliege, die das Einhalten des in der Gebührenordnung (GebO) für jede Behandlung vorgesehenen Zeitaufwandes unmöglich mache, und weil diese Ausdehnung zur Benachteiligung der Ärzte mit einer weniger ausgedehnten Praxis führe und sich in deren geringerer Honorierung auswirke.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Mai 1962). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG und den Honorarkürzungsbescheid vom 7. Oktober 1959 aufgehoben und die Revision zugelassen (Urteil vom 21. März 1963). Es hat im angefochtenen Urteil dargelegt, Honorar dürfe - nach den zur Zeit des Erlasses des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehenden Vorschriften - nur bei unwirtschaftlicher Behandlungsweise gekürzt werden; dafür seien die Prüfinstanzen eingerichtet. Von der Überwachung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungsweise sei die Funktion der Verteilung der Gesamtvergütung zu unterscheiden. Aus § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO lasse sich nicht die Berechtigung der Prüfungsinstanzen herleiten, das Honorar wegen übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis zu kürzen. Nach dieser Vorschrift solle der Honorarverteilungsmaßstab (HVM) zugleich sicherstellen, daß eine übermäßige Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes verhindert werde. Die ordnungsgemäße und sorgfältige Behandlung der Kassenpatienten solle nicht durch eine übermäßige Praxisausdehnung gefährdet werden. Aber auch in einer übergroßen Praxis könnten einerseits die Sozialversicherten von einem befähigten und verantwortungsbewußten Arzt wirtschaftlich behandelt werden; andererseits sei jedoch unwirtschaftliche Behandlungsweise kein ausreichendes Merkmal für die Annahme einer übermäßigen Ausdehnung der Kassenpraxis. Der Zweck des § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO bestehe somit darin, die Kassenärztlichen Vereinigungen zu ermächtigen, durch geeignete im HVM festzulegende Maßnahmen sicherzustellen, daß eine übermäßige Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit verhütet werde.
Demgemäß habe die beklagte KV in ihrer Satzung vom 5. September 1956 (§ 2 Ziff 6) im Zusammenhang mit der Verteilung der Gesamtvergütung bestimmt, sie könne Maßnahmen gegen eine übermäßige Ausdehnung der ärztlichen Tätigkeit treffen und einen sozialen Ausgleich in der Vergütung der Ärzte herbeiführen. Die Vertreterversammlung der KV habe am 18. September 1957 einen HVM mit Prüfungsordnung beschlossen und dazu bestimmt, daß die Prüfungsausschüsse bei Maßnahmen zur Verhütung einer übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit an die Bestimmungen gebunden seien, die die Vertreterversammlung hierzu beschließe. Solche Bestimmungen seien aber bisher nicht beschlossen worden. Wenn die Vertreterversammlung den "Grundsätzen für die ärztliche Prüfung" einen neuen Absatz des Inhalts hinzugefügt habe, die Grundsätze der Prüfungsordnung sicherten in Verbindung mit Erfahrungszahlen die Verhütung übermäßiger Ausdehnung kassenärztlicher Tätigkeit, so stelle diese Erklärung nur eine programmatische Feststellung, nicht aber eine Ermächtigung zur Kürzung der Honorare wegen übermäßiger Kassenpraxisausdehnung dar. Demnach dürften die Prüfungsinstanzen nicht zur Verhütung der übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit Honorare kürzen.
Der angefochtene Kürzungsbescheid sei auch nicht wegen Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers gerechtfertigt; denn der Gesamtdurchschnitt der Arztkosten des Klägers läge unter dem Fachgruppendurchschnitt. Eine Überhöhung von nur 20 v. H. gegenüber dem Fachgruppendurchschnitt für Beratungen könne nicht als offensichtliches Mißverhältnis, das eine Honorarkürzung wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise rechtfertige, angesehen werden. Bei Besuchen liege der Kläger unter dem Fachgruppendurchschnitt; für Überweisungen an Fachärzte habe die Beklagte keine belegten Vergleichszahlen angeführt. Die verhältnismäßig hohe Zahl von 1462 RVO-Scheinen sei noch keine hinreichende Grundlage für die Annahme unwirtschaftlicher Behandlungsweise und rechtfertige nicht eine Honorarkürzung.
Mit der Revision hat die beklagte KV beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG vom 21. März 1963 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 16. Mai 1962 zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO die Prüfungsinstanzen unmittelbar zu Honorarkürzungen wegen übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis ermächtige. Schematische Kürzungsmaßnahmen in Gestalt von Fall- und Ertragsstaffelkürzungen durch den HVM seien weit weniger als individuelle Prüfungen geeignet, den mit § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO angestrebten Gesetzeszweck zu erreichen.
Der Kläger hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der beklagten KV ist unbegründet.
Wie das LSG im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt hat, läßt sich der angefochtene Kürzungsbescheid nicht mit der Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers rechtfertigen. Die Revision hat ihre Rüge auch auf die Frage beschränkt, ob § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO die Möglichkeit gebe, zur Verhütung übermäßiger Ausdehnung kassenärztlicher Tätigkeit Honorarkürzungen vorzunehmen. Der Sinngehalt dieser Vorschrift läßt sich nur aus dem Zusammenhang erschließen, in den sie gestellt ist. In den Sätzen 2 und 3 des § 368 f Abs. 1 RVO ist festgelegt, daß die KV die Gesamtvergütung unter die Kassenärzte verteilt und dabei den im Benehmen mit den Verbänden der Krankenkassen festgesetzten Verteilungsmaßstab anwendet. Die nachfolgenden Sätze 4 und 5 des § 368 f Abs. 1 schreiben vor, welche Gesichtspunkte der HVM berücksichtigen muß oder soll. Hieraus ergibt sich zwingend, daß der Aufgabe, sicherzustellen, daß eine übermäßige Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes verhütet wird (§ 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO), nur im Rahmen der Festsetzung des HVM genügt werden kann. § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO verlangt somit einen Akt autonomer Rechtsetzung, der einen sehr weitgespannten unbestimmten Rechtsbegriff der "übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes" näher konkretisiert und normativ Voraussetzungen und Rechtsfolgen festlegt. Im voraus soll für den einzelnen Kassenarzt übersehbar sein, wie in der für ihn maßgeblichen KV nach der Überzeugung der für die Beschlußfassung über Satzungsrecht verantwortlichen Vertreterversammlung der Begriff der übermäßigen Ausdehnung der Kassenpraxis verstanden wird und welche Rechtsfolgen bei übermäßiger Ausdehnung eintreten, und zwar mit der aus dem Gesetz klar erkennbaren Zielsetzung, daß nicht erst gegen eine von Fall zu Fall festzustellende übermäßige Ausdehnung eingeschritten zu werden braucht, sondern diese nach Möglichkeit verhütet wird. Nur in diesem Sinn - als Ermächtigung zur normativen Regelung im Rahmen des HVM - kann daher die Bestimmung in der Satzung der beklagten KV (§ 2 Nr. 6 Abs. 2 Satz 2) verstanden werden, sie, die beklagte KV, könne Maßnahmen gegen eine übermäßige Ausdehnung der ärztlichen Tätigkeit treffen und einen sozialen Ausgleich in der Vergütung der Ärzte herbeiführen, wobei in diesem Zusammenhang auf sich beruhen kann, ob es Aufgabe einer KV sein kann, einen sozialen Ausgleich in der Vergütung der Ärzte herbeizuführen.
Hiernach ist es ausgeschlossen, daß die KV ohne rechtssatzmäßige Regelung im Rahmen des HVM - allein gestützt auf § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO - gegen einzelne Kassenärzte im Wege individueller Maßnahmen zur Verhütung der übermäßigen Ausdehnung der Kassenpraxis vorgehen darf. Insbesondere kann diese Aufgabe nicht mit dem den Prüfungsorganen nach § 368 n Abs. 4 RVO erteilen Auftrag zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen verquickt werden. Wie bereits das LSG zutreffend dargelegt hat, muß eine übermäßige Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit nicht mit Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise verbunden sein. Ob die Prüfungsinstanzen neben der ihnen nach § 368 n Abs. 4 RVO übertragenen Aufgabe, die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen zu überwachen, überhaupt mit der Durchführung von Maßnahmen zur Verhütung übermäßiger Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit betraut werden könnten, erscheint angesichts der klaren Begrenzung des Prüfungsauftrags in § 368 n Abs. 4 RVO sehr fraglich. Der Senat braucht diese Frage jedoch nicht abschließend zu entscheiden, da jedenfalls auch die Prüfungsinstanzen insoweit nur auf Grund einer normativen Regelung im Rahmen des HVM tätig werden könnten.
Eine solche rechtssatzmäßige Regelung liegt aber nicht vor. Das LSG hat den von der Vertreterversammlung beschlossenen "Honorarverteilungsmaßstab mit Prüfordnung" dahin ausgelegt, daß er keine allgemeingültigen Bestimmungen enthalte, die Grundlage für Maßnahmen des Einzelfalles zur Verhütung der übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit sein könnten: Im HVM (Abschnitt VI Buchst. j) sei vorgesehen, daß die Prüfausschüsse bei Maßnahmen zur Verhütung einer übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit an die Bestimmungen gebunden seien, die die Vertreterversammlung hierzu als einen Teil des HVM beschließe. Derartige Bestimmungen habe die Vertreterversammlung aber bisher nicht beschlossen. Wenn sie statt dessen dem Abschnitt VI einen neuen Absatz (Buchst. k) des Inhalts angefügt habe:
"Diese Grundsätze der Prüfordnung sichern in Verbindung mit Erfahrungszahlen die Verbreitung übermäßiger Ausdehnung kassenärztlicher Tätigkeit",
so werde damit nur eine programmatische Feststellung getroffen, nicht aber den Prüfungsinstanzen die Ermächtigung erteilt, mit der Begründung, es liege eine übermäßige Praxisausdehnung vor, eine Honorarkürzung vorzunehmen.
An diese Auslegung der Bestimmungen des HVM ist das Revisionsgericht gebunden, da sie Vorschriften betrifft, deren Geltungsbereich sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt (vgl. § 162 Abs. 2 SGG). Demnach ermangelt der angefochtene Verwaltungsakt der Grundlage, die § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO vorschreibt. Zu Recht hat das LSG ihn daher aufgehoben.
Die Revision der beklagten KV war somit als unbegründet zurückzuweisen. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 2379938 |
BSGE, 235 |