Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Berufung. Überzahlung von Rente. Mehrere Ansprüche. Bei mehreren in einer Klage zusammengefaßten selbständigen Ansprüchen ist die Statthaftigkeit der Berufung für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen. Berufung bei mehreren prozessual selbständigen Ansprüchen
Leitsatz (amtlich)
Hat das SG die Klage gegen einen Bescheid des Versicherungsträgers abgewiesen, in welchem dieser eine erfolgte Rentenüberzahlung während eines bereits abgelaufenen Zeitraumes feststellt und deshalb gleichzeitig eine Rückforderung geltend macht, die den Betrag von 1000 DM übersteigt, dann ist die Berufung wegen der Feststellung der Rentenüberzahlung nach SGG § 146 nicht zulässig; zulässig ist die Berufung nur noch nach SGG § 149 wegen der Rückforderung (Anschluß an BSG 1957-09-17 9 RV 146/54 = BSGE 6, 11, 15 und BSG 1971-05-26 5/12 RJ 270/68 = SozR Nr 14 zu § 149 SGG).
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei mehreren in einer Klage zusammengefaßten selbständigen Ansprüchen ist die Statthaftigkeit der Berufung für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen. Berufung bei mehreren prozessual selbständigen Ansprüchen:
2. Bei mehreren in einer Klage zusammengefaßten selbständigen Ansprüchen ist die Statthaftigkeit der Berufung grundsätzlich für jeden Anspruch gesondert zu prüfen; eine Ausnahme gilt nur, wenn sich der eine Anspruch präjudiziell für den anderen auswirkt.
3. Wird in einem Bescheid gleichzeitig das Nichtbestehen eines Rentenanspruchs und die daraus resultierende Rückforderung zu Unrecht geleisteter Zahlungen geltend gemacht, so kann das Nichtbestehen des Rentenanspruchs präjudiziell für den Rückforderungsanspruch sein.
Normenkette
SGG § 1 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1974-07-30; RVO § 1301 Fassung: 1965-06-09; SGG § 143 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 28.02.1977; Aktenzeichen L 3 J 77/76) |
SG Kiel (Entscheidung vom 22.01.1976; Aktenzeichen S 10 J 253/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 28. Februar 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten besteht Streit darüber, ob dem am 15. Juni 1909 geborenen Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1973 bis zum 31. Dezember 1973 das flexible Altersruhegeld zu Unrecht gezahlt worden ist und deshalb von ihm die für diese Zeit gezahlte Rente und der Beitragszuschuß zur Krankenversicherung (§ 381 Abs 4 Reichsversicherungsordnung - RVO -) in Höhe von insgesamt 6.665,20 DM zurückgefordert werden kann.
Der Kläger ist selbständiger Friseurmeister. In seinem Friseurgeschäft arbeiten seine Ehefrau, die selbst keine gelernte Friseuse ist, an einigen Tagen in der Woche und noch weitere Hilfskräfte mit. Im Jahre 1970 hatte der Kläger nach dem Einkommensteuerbescheid vom 29. August 1972 Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb in Höhe von 9.612,- DM; 1971 nach dem Steuerbescheid vom 27. August 1973 Einkünfte von 12.092,- DM und 1972 gemäß dem Steuerbescheid vom 21. Mai 1974 Einkünfte in Höhe von 11.371,- DM.
Am 11. Mai 1973 beantragte der Kläger bei der Beklagten Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebensjahres und gab sein Brutto-Arbeitseinkommen mit 600,- DM monatlich an. Aufgrund seines Gesundheitszustandes habe er seinen Herrensalon bereits geschlossen, den Damensalon könne er nur noch mit vermindertem Einsatz aufrechterhalten; in der ersten Hälfte des Kalenderjahres 1974 müsse er ihn ganz schließen.
Durch Bescheid vom 2. September 1973 gewährte ihm die Beklagte das beantragte flexible Altersruhegeld vom 1. Mai 1973 an und wies den Kläger darauf hin, daß ihm dieses neben einer Erwerbstätigkeit nur zustehe, wenn sein Arbeitseinkommen durchschnittlich im Monat 3/10 der für Monatsbezüge geltenden Beitragsbemessungsgrenze - für 1973: 690,- DM monatlich - nicht überschreite. Das Altersruhegeld falle mit dem Beginn des Monats weg, in dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werde, die die Arbeitseinkommensgrenze überschreite. Die danach ohne Rechtsgrund gewährten Leistungen könnten zurückgefordert werden.
Nachdem sich aus dem Einkommensteuerbescheid vom 27.Februar 1975 für das Jahr 1973 Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 10.035,- DM ergaben, forderte die Beklagte mit Bescheid vom 6. Mai 1975, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 29. August 1975, die für den Zeitraum vom 1. Mai 1973 bis 31. Dezember 1973 gezahlten Bezüge sowie den mit Bescheid vom 12. Oktober 1973 für die Zeit vom 11. Mai bis 30. September 1973 gewährten Beitragszuschuß zurück, weil das monatliche Durchschnittseinkommen 836,- DM betragen habe.
Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SGG - vom 22. Januar 1976). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben (Urteil vom 28. Februar 1977). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es u.a. ausgeführt, das SG habe zu Unrecht angenommen, daß der Kläger die zulässige Zuverdienstgrenze überschritten habe.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt, mit der es die Berechnungsweise des zulässigen Zuverdienstes des Klägers zum flexiblen Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Dezember 1973 beanstandet.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Februar 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 22. Januar 1976 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision unter Aufrechterhaltung des angefochtenen Urteils kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Darüber hinaus sei die Rückforderung deshalb nicht berechtigt, weil seine Ehefrau immer im Friseurgeschäft mitgearbeitet habe. Das Nettoeinkommen hätte deshalb durch zwei oder drei geteilt werden müssen; dann hätte er mit dem ihm verbliebenen Nettoeinkommen auf jeden Fall unter der Grenze von 690,- DM gelegen. Außerdem habe er aber beim Empfang der Leistung auch nicht gewußt oder wissen müssen, daß ihm die gewährten Leistungen nicht zustanden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen wird.
Das SG hat mit Urteil vom 22. Januar 1976 die Klage abgewiesen. Es ist zunächst zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger für die Zeit vom Mai bis Dezember 1973 keinen Anspruch auf das flexible Altersruhegeld gehabt habe, weil sein monatliches Durchschnittseinkommen über der Freigrenze von 3/10 der Beitragsbemessungsgrenze des § 1385 Abs 2 RVO gelegen habe. Die Zahlungen für diese Monate seien daher zu Unrecht erfolgt. Es hat dann aber auch entschieden, daß der Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Beträge die in § 1301 RVO getroffene Regelung nicht entgegenstehe, so daß die Rückforderung der für die Monate Mai bis Dezember 1973 erfolgten Zahlungen zu Recht erfolgt sei.
Im Berufungsverfahren hat das LSG unzulässigerweise auch die Entscheidung des SG, daß der Kläger für die Zeit von Mai bis Dezember 1973 keinen Anspruch auf das flexible Altersruhegeld gehabt habe, überprüft. Insoweit war aber die Berufung nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unzulässig, weil sie insoweit nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betraf. Die Berufung war also nur noch wegen der Rückerstattung der Leistungen nach § 149 SGG zulässig, denn der Beschwerdewert überstieg den Betrag von 1.000,- DM. Die Beschränkung der materiellen Überprüfungsmöglichkeit durch das LSG - infolge der hier nur teilweise vorliegenden Prozeßvoraussetzung der Zulässigkeit der Berufung - hatte der erkennende Senat im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen.
Bei mehreren in einer Klage zusammengefaßten selbständigen Ansprüchen ist die Statthaftigkeit der Berufung für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen (vgl. BSGE 3, 135, 139; 6, 11, 15). Wenn die Beklagte in einem ersten Bescheid nur festgestellt hätte, daß der Kläger in der Zeit von Mai bis Dezember 1973 keinen Anspruch auf das Altersruhegeld gehabt habe und dieses zu Unrecht gezahlt worden sei und dann erst nach rechtskräftiger Entscheidung über diesen Bescheid den Rückforderungsanspruch in einem weiteren Bescheid geltend gemacht hätte, wäre die Entscheidung des SG über den ersten Bescheid nicht mehr anfechtbar gewesen. Dieses Ergebnis kann aber nicht dadurch verändert werden, daß die Beklagte über die beiden selbständigen Ansprüche in einem Bescheid entschieden und daher auch die Klage gegen beide Ansprüche erhoben worden ist. Die Rechtsprechung hat von dem Grundsatz der gesonderten Prüfung der Berufungszulässigkeit für selbständige Ansprüche nur dann eine Ausnahme zugelassen, wenn zwei selbständige Ansprüche derart voneinander abhängig sind, daß der eine präjudiziell für den anderen ist und die Berufung an sich lediglich für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist (vgl. BSG in SozR 2200 § 146 Nr 4 und Nr 5 jeweils mit weiteren Nachweisen). Da das Nichtbestehen eines Rentenanspruchs für den Rückforderungsanspruch präjudiziell ist, könnte diese Ausnahme nur zutreffen, wenn - umgekehrt als im vorliegenden Fall - die Berufung hinsichtlich des Rentenanspruchs statthaft und hinsichtlich der Rückforderung wegen Nichtübersteigens des Beschwerdewertes gemäß § 149 SGG unzulässig wäre (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 26. Mai 1971 in SozR Nr 14 zu § 149 SGG).
Das LSG ist somit zu Unrecht nicht von einer bindend festgestellten Überzahlung der Rente ausgegangen. Da es die Überzahlung nicht als gegeben angesehen hat, hat es die für die Rückforderung entscheidende Frage, ob die Voraussetzungen des § 1301 Satz 2 RVO gegeben sind, nicht geprüft. Der erkennende Senat konnte im Revisionsverfahren die hierfür erforderlichen Feststellungen und Beweiswürdigungen nicht vornehmen. Daher mußte das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen werden.
Das LSG wird bei der erneuten Entscheidung auch zu prüfen haben, ob die Ausführungen der Beklagten bei der Rentenbewilligung so ausgelegt werden können, daß die Beklagte nur unter Vorbehalt gezahlt hat, ob ggf ein solcher Vorbehalt zulässig und wirksam wäre und ob er eine Rückforderung der gezahlten Beträge unabhängig von den Voraussetzungen oder von einzelnen Voraussetzungen des § 1301 Satz 2 RVO ermöglichen würde. Ggf wird auch zu prüfen sein, ob und ggf welche Folgerungen sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Anwendung des § 1301 RVO (zB SozR Nr 11, 12, 14, 15 und 18 zu § 1301 RVO; SozR 2200 § 628 Nr 1 und § 1301 Nr 4) für die Entscheidung des vorliegenden Falles ergeben. Dabei kann auch rechtserheblich sein, ob der Kläger bei Bezug der Rente subjektiv davon ausgehen konnte, daß ein Teil des aus dem Friseurgeschäft erwirtschafteten Gewinns bei der Prüfung des zulässigen Hinzuverdienstes zum flexiblen Altersruhegeld unberücksichtigt bleibe, weil dieser womöglich im "Innenverhältnis" (vgl. hierzu BSG in SozR 2200 § 1266 Nr 1 und Nr 3) seiner Ehefrau für die Mitarbeit im Geschäft zusteht.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen