Leitsatz (amtlich)
Ist ein Verfolgter mit Kriegsende aus einem SS-Lager in Österreich befreit worden, so ist der anschließende Auslandsaufenthalt bis zum 1949-12-31 Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 4.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 24.01.1977; Aktenzeichen V 3 Bf 129/75) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 03.07.1975; Aktenzeichen S 17 J 1747/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Januar 1977 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Juli 1975 aufgehoben; die Beklagte wird unter Änderung ihres Bescheides vom 31. Oktober 1974 verurteilt, die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Berücksichtigung einer weiteren Ersatzzeit vom 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe der dem Kläger gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, insbesondere darüber, ob die Zeit vom 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzurechnen ist.
Der in Polen geborene Kläger, der von 1920 an in Deutschland gelebt hatte und hier versicherungspflichtig beschäftigt gewesen war, wurde 1938 wegen seines mosaischen Glaubens nach Polen ausgewiesen und 1939 in das Warschauer Getto eingewiesen. Im Jahre 1944 wurde er in ein SS-Lager in Österreich gebracht. Dort wurde er am 8. Mai 1945 von amerikanischen Truppen befreit. Danach war er in verschiedenen Lagern zunächst in Österreich und später in Italien untergebracht, die unter der Aufsicht der UNRRA standen. Im April 1948 kam er nach Großbritannien und wanderte von dort im Mai 1950 in die USA aus, wo er auch jetzt noch lebt. Das Entschädigungsamt Berlin gewährte ihm für die Zeit vom 18. November 1939 bis zum 8.Mai 1945 eine Entschädigung wegen Freiheitsentziehung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Der Kläger hatte bereits den Bescheid über die Gewährung der Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit angefochten, weil er die auch jetzt streitige Zeit als Ersatzzeit geltend machte. Insoweit hatte er in der Berufungsinstanz keinen Erfolg.
Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 31. Oktober 1974 die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Januar 1974 an. Dabei berücksichtigte sie - wie schon im Bescheid über die Rente wegen Berufsunfähigkeit - zwar die Zeit vom 28. Oktober 1938 bis zum 8. Mai 1945, nicht aber die streitige Zeit vom 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil angenommen, der Sachentscheidung stehe nicht entgegen, daß die Anrechnung der streitigen Zeit als Ersatzzeit bereits in einem früheren Verfahren für die Rente wegen Berufsunfähigkeit rechtskräftig abgelehnt worden sei. Die Voraussetzungen des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO lägen aber nicht vor. Der Auslandsaufenthalt des Klägers in der streitigen Zeit sei nicht durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden, sondern im wesentlichen Folge der Nachkriegsverhältnisse. Die Aufnahme des Klägers in die von der UNRRA betreuten Lager sei zwar durch die zuvor geschehene Verschleppung in das SS-Lager bedingt gewesen, jedoch habe es sich nicht um eine Ursache im Rechtssinne gehandelt. Im übrigen habe sich der Kläger bei seiner Befreiung bei Kriegsende nicht im Ausland, sondern auf deutschem Gebiet aufgehalten. Unbeschadet der Frage der staatsrechtlichen Wirksamkeit des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich sei auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen. Danach habe das Gebiet Österreichs zum Deutschen Reich gehört. Die Tatsache, daß sich der Kläger nach der Befreiung während seines Aufenthaltes in UNRRA-Lagern in Österreich nunmehr im Ausland befunden habe, beruhe nicht auf Verfolgungsmaßnahmen, sondern auf der Wiederherstellung der faktischen Eigenstaatlichkeit Österreichs. Er stehe damit insoweit denjenigen Verfolgten gleich, die in Deutschland befreit worden seien und denen nur unter weiteren Voraussetzungen Ersatzzeiten nach dem 8. Mai 1945 angerechnet werden könnten (Urteil vom 25. 1. 1977).
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - auf die Beschwerde vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, der verfolgungsbedingte Auslandsaufenthalt beginne bereits mit der Ausweisung aus Deutschland am 28. Oktober 1938. Er habe danach das Verlassen des Deutschen Reichsgebietes zu keiner Zeit durch eine Rückkehr in das damalige Reichsgebiet rückgängig gemacht. Die Verbringung in das SS-Lager in Österreich habe die 1938 beginnende Ersatzzeit nicht beendet, denn er habe damit weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich genommen, das nach der Rechtsprechung nicht als Ausland angesehen wurde. Im Zeitpunkt der Beendigung seiner Haft habe er sich aber im Ausland befunden, denn zur gleichen Zeit sei die staatsrechtliche Wirksamkeit des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich aufgehoben worden. Für ihn sei mit der Ausweisung nach Polen im Oktober 1938 die Verbindung zu seiner Wahlheimat Deutschland zerrissen und der Auslandsaufenthalt begründet worden. Es sei kein Grund ersichtlich, warum ihm die vom Gesetzgeber zugebilligte Überlegungsfrist bis zum 31. Dezember 1949 versagt bleiben solle.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Umwandlungsbescheid vom 31. Oktober 1974 abzuändern und dem Kläger unter Anrechnung einer weiteren Ersatzzeit vom 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 eine höhere Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren;
hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen;
hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat auch Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf eine höhere als die festgestellte Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Berücksichtigung der geltend gemachten weiteren Ersatzzeit vom 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949.
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, steht die rechtskräftige Ablehnung der streitigen Zeit als Ersatzzeit bei der Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit durch das Urteil des LSG vom 11. August 1972 einer Sachentscheidung nicht entgegen, weil in diesem Verfahren über einen anderen Streitgegenstand - die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit - zu entscheiden ist, auf den sich die Rechtskraft des früheren Urteils nicht erstreckt.
Nach § 1253 Abs 2 iVm 1258 Abs 1 und § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO ist die streitige Zeit als Ersatzzeit rentensteigernd anzurechnen, weil es sich um einen durch Verfolgungsmaßnahmen iS des BEG hervorgerufenen Auslandsaufenthalt eines Verfolgten handelt. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, der Aufenthalt des Klägers in Österreich, Italien und Großbritannien sei nicht durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden. Es mag dahingestellt bleiben, ob der verfolgungsbedingte Auslandsaufenthalt - wie der Kläger meint - ununterbrochen von 1938 bis 1949 fortbestanden hat oder ob er zunächst dadurch beendet worden ist, daß der Kläger im Jahre 1944 in ein Gebiet gebracht wurde, das damals faktisch dem Deutschen Reich angehörte. Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß die Aufnahme des Klägers in die von der UNRRA betreuten Lager durch die zuvor geschehene Verschleppung in das SS-Lager in Österreich bedingt gewesen sei. Der Aufenthalt in Österreich, Italien und Großbritannien ist also ursächlich auf eine Verfolgungsmaßnahme zurückzuführen. Wenn das LSG gleichwohl den Ursachenzusammenhang im Rechtssinne verneint, so hat es damit den festgestellten Sachverhalt unrichtig unter den auch im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung geltenden Begriff der wesentlichen Ursächlichkeit (vgl. BSGE 32, 203, 205) subsumiert. Wesentlich ursächlich ist jede aber auch nur diejenige Bedingung, die nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (vgl. BSGE 13, 175, 176). In diesem Sinne sind die gegen den Kläger gerichteten Verfolgungsmaßnahmen, insbesondere die Aufnahme in das SS-Lager in Österreich im Jahre 1944 wesentlich dafür gewesen, daß er sich nach Kriegsende im Ausland befunden hat. Zwar ist - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - noch eine weitere Ursache hinzugetreten, nämlich die Verselbständigung Österreichs. Das bedeutet aber nicht, daß dies die allein wesentliche Ursache gewesen ist und die Verfolgungsmaßnahmen für den späteren Auslandsaufenthalt rechtlich unbedeutend gewesen sind. Die Situation des Klägers ist auch nicht mit einem Verfolgten vergleichbar, der in Deutschland befreit worden und dann ins Ausland gegangen ist. Der Kläger hat das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Kriege nicht verlassen, sondern befand sich aufgrund der Verfolgungsmaßnahmen bei Kriegsende in einem Gebiet, dessen faktische Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit seiner Befreiung beendet wurde, das also Ausland iS des § 1251 Abs 1 Nr. 4 RVO war. Der Auslandsaufenthalt des Klägers begann also nicht nach dem Kriege (vgl. hierzu BSG SozR Nr 46 zu § 1251), sondern mit dem Kriegsende. Der Kläger befand sich nach seiner Befreiung ohne sein eigenes Zutun im Ausland, so daß die Verfolgungsmaßnahme als wesentliche Ursache angesehen werden muß. Während die in Deutschland befreiten Verfolgten die Möglichkeit hatten, durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung deutsche Versicherungszeiten zu erwerben, hätte es dazu im Falle des Klägers erst der Rückkehr nach Deutschland bedurft. Hier für hat der Gesetzgeber den Verfolgten, die sich bei Kriegsende im Ausland befanden, aber eine Überlegungsfrist bis zum 31. Dezember 1949 eingeräumt, so daß es nur darauf ankommt, daß der Auslandsaufenthalt zu seinem Beginn durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden ist, nicht aber darauf, ob die Verfolgungsmaßnahmen für das Fortdauern des Auslandsaufenthaltes ursächlich gewesen sind. Da vor der Ersatzzeit eine Versicherung bestanden hat und der Kläger während der Ersatzzeit nicht versicherungspflichtig gewesen ist, liegen die Voraussetzungen des § 1251 Abs 2 Satz 1 RVO für die Anrechnung der Ersatzzeit vor.
Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers die vorinstanzlichen Urteile aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung einer höheren Rente verurteilt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen