Entscheidungsstichwort (Thema)

Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Schriftliche Sprachprüfung. maßgebender Zeitpunkt

 

Orientierungssatz

1. Bei der Prüfung der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ist das ausschließliche Abstellen auf eine Schriftprobe rechtsfehlerhaft (vgl BSG vom 16.2.1982 - 12 RK 56/80 = SozR 5070 § 20 Nr 4).

2. Bei der Bewertung einer Schreibprobe ist zu prüfen, ob sie verläßliche Rückschlüsse darauf zuläßt, wie sich der Kläger in der maßgebenden Zeit, also in der Zeit vor dem Verlassen des Vertreibungsgebietes schriftlich in der deutschen Sprache auszudrücken vermochte.

 

Normenkette

WGSVG § 20 Abs 1 S 2 Fassung: 1989-12-18, § 20 Abs 1 S 1 Fassung: 1989-12-18, § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 Fassung: 1989-12-18

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.07.1989; Aktenzeichen L 4 J 155/87)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 25.06.1987; Aktenzeichen S 11 J 55/86)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob das Altersruhegeld des Klägers unter Anrechnung tschechoslowakischer Versicherungszeiten zu erhöhen ist.

Der im Jahre 1920 in Bosace/Slowakei geborene Kläger ist als Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Nach seinen Angaben war er von 1936 bis 1940 und von 1945 bis 1949 in der Tschechoslowakei als Friseurlehrling und als Friseur beschäftigt. Von 1941 bis 1945 war er als Jude nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. 1949 wanderte er nach Israel aus.

Im Dezember 1981 beantragte der Kläger, ihm Altersruhegeld zu gewähren. Die Beklagte ließ durch das israelische Finanzministerium eine Sprachprüfung beim Kläger durchführen. Mit Bescheid vom 25. Februar 1985 lehnte sie es ab, dem Kläger Altersruhegeld zu gewähren, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Der Kläger gehöre nicht zu dem vom Fremdrentengesetz (FRG) erfaßten Personenkreis, und § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) könne hier nicht angewendet werden. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 1986).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Juni 1987). Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte mit Bescheid vom 22. Februar 1989 dem Kläger Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres gewährt. Dabei sind ausschließlich Versicherungszeiten berücksichtigt worden, für die der Kläger freiwillige Beiträge ab 1956 nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (DISVA) nachentrichtet hat. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 3. Juli 1989). Die Voraussetzungen des § 20 WGSVG seien schon deshalb nicht erfüllt, weil der Kläger beim Verlassen des Vertreibungsgebietes nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 20 WGSVG. Das LSG sei von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen. Auch hätte das Berufungsgericht weiteren Beweis erheben müssen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und ihm das gewährte Altersruhegeld unter zusätzlicher Berücksichtigung seiner tschechoslowakischen Versicherungszeiten zu gewähren; hilfsweise beantragt er, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung noch nicht zu.

Der Kläger beansprucht eine rentensteigernde Berücksichtigung seiner tschechoslowakischen Versicherungszeiten von November 1936 bis März 1940 und von Oktober 1945 bis März 1949 sowie seiner Verfolgungszeit als Ersatzzeit. Sein Altersruhegeld könnte um diese Versicherungszeiten zu erhöhen sein, wenn sie nach dem FRG anzurechnen sind. Dann könnten sie gemäß § 15 Abs 1 FRG nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt sein. Der Kläger ist nicht als Vertriebener iS des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt, so daß das FRG nicht für ihn als Vertriebenen gilt (§ 1 Buchst a FRG). § 15 FRG könnte dennoch über § 20 WGSVG oder § 17a FRG nF, der durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I 2261) mit Wirkung ab 1. Juli 1990 in das FRG eingefügt worden ist (Art 15 Abschnitt A Nr 4 iVm Art 85 Abs 6 RRG 1992), anzuwenden sein. § 17a FRG nF ist nachrangig im Verhältnis zu § 20 WGSVG (vgl Urteil des BSG vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88 -). Dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 - Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 RRG 1992) bestimmt, daß bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen vertriebene Verfolgte gleichstehen, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Gemäß Satz 2 dieser Vorschrift gilt § 19 Buchstabe a zweiter Halbsatz entsprechend. Soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, genügt es, wenn die Verfolgten dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben (§ 20 Abs 1 Satz 2 iVm § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG).

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist im Regelfall für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis von ausschlaggebender Bedeutung, ob die deutsche Sprache im persönlichen Lebensbereich zumindest überwiegend gebraucht worden ist. Bei einer Mehrsprachigkeit muß der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht haben (vgl BSGE 50, 279, 281 sowie das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 105/88 - und das bereits erwähnte Urteil vom 28. Juni 1990 mwN).

Das LSG hat ausgeführt, der Senat könne insbesondere angesichts der aus der Sprachprüfung vorliegenden Schreibproben des Klägers nicht feststellen, daß er die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht habe. Auch wenn man nach dem Ergebnis der Sprachprüfung davon ausgehe, der Kläger könne - wenn auch mit Fehlern - die deutsche Sprache sprechen, so könne aufgrund der Schriftproben in keiner Weise von einem Beherrschen dieser Sprache die Rede sein. Die Schreibproben wiesen eine derartige Vielzahl elementarster Fehler auf, daß die Texte kaum noch verständlich seien. Da gravierende Mängel der intellektuellen Fähigkeiten des Klägers nicht ersichtlich seien, erscheine es bei diesem Ergebnis der schriftlichen Prüfung auch bei bescheidenen Anforderungen als ausgeschlossen, Deutsch als seine Muttersprache anzusehen. Letztlich sei hier dem Ergebnis der schriftlichen Sprachprüfung entscheidende Bedeutung beizumessen.

Mit dieser Entscheidung ist das LSG vom Urteil des BSG vom 16. Februar 1982 (SozR 5070 § 20 Nr 4) abgewichen. Dort ist ausgeführt worden, das Tatsachengericht räume selbst ein, die Angaben jenes Versicherten sprächen zunächst für eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, meine dann aber, diese sei wegen der erheblichen Mängel im schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache zu verneinen. Dieses ausschließliche Abstellen auf eine Schriftprobe sei rechtsfehlerhaft. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH in RzW 1980, 22) hat das BSG gefordert, es dürfe nicht danach unterschieden werden, welche Bereiche des kulturellen Lebens sich der Angehörige einer dieselbe Sprache sprechenden Gemeinschaft durch den Gebrauch der Sprache erschließe. Anderenfalls würden die Angehörigen gehobener Schichten bevorzugt behandelt. Selbst Analphabeten, bei denen naturgemäß nur auf die mündliche Ausdrucksfähigkeit abgestellt werden könne, oder Kinder, die noch keine Gelegenheit gehabt hätten, die Sprache in Schriftform zu erlernen, könnten dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehören. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an.

Das LSG hat sich im Falle des Klägers auf das Sprachprüfungsprotokoll vom 5. April 1983 gestützt. Nach § 19 Abs 2 Buchstabe a 2. Halbsatz WGSVG kommt es darauf an, ob er "im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört" hat. Der Kläger ist im Jahre 1949 nach Israel ausgewandert. Die Schriftprobe ist also rund 34 Jahre später niedergeschrieben worden. Möglicherweise ist für die Frage nach der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis auch ein früherer Zeitpunkt als 1949 maßgebend. Nach § 20 Abs 2 Satz 1 WGSVG idF ab 1. Januar 1990 (nF) wird vermutet, daß die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis eine wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebietes ist. Durch eine verfolgungsbedingte Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis wird diese Vermutung nicht widerlegt (§ 20 Abs 2 Satz 3 WGSVG nF). Der maßgebende Zeitpunkt für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis muß dann vor dem Verlassen des Vertreibungsgebietes liegen, etwa beim Abwenden vom deutschen Sprach- und Kulturkreis. Bei der Bewertung der Schreibprobe ist zu prüfen, ob sie verläßliche Rückschlüsse darauf zuläßt, wie sich der Kläger in der maßgebenden Zeit schriftlich in der deutschen Sprache auszudrücken vermochte. Hat er über lange Zeit die deutsche Schriftsprache nicht mehr benutzt, so kann seine Fähigkeit, diese Sprache zu beherrschen, darunter gelitten haben. Hat der Kläger hingegen auch schon während der behaupteten Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis für Aufzeichnungen und den Schriftverkehr eine andere Sprache benutzt, dann ist es zweifelhaft, ob er die deutsche Sprache wie eine Muttersprache im persönlichen Lebensbereich überwiegend gebraucht hat.

Sollten die Voraussetzungen des § 20 WGSVG im Falle des Klägers nicht erfüllt sein, wird das LSG nunmehr auch diejenigen des § 17a FRG nF zu prüfen haben, der am 1. Juli 1990 in Kraft getreten ist (Art 85 Abs 6 RRG 1992). Nach § 17a Buchstabe a FRG nF sind nun die für die gesetzliche Rentenversicherung maßgebenden Vorschriften dieses Gesetzes - also auch § 15 Abs 1 FRG - auf Personen anzuwenden, die die Vertreibungsgebiete nach § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG verlassen haben. Dazu zählt auch die Tschechoslowakei. Voraussetzung ist, daß die Betreffenden bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf ihr Heimatgebiet erstreckt hat, 1. dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben, 2. das 16. Lebensjahr vollendet hatten und 3. sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben. Die Vorschrift des § 17a FRG ist auf Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung in den Entwurf des RRG 1992 eingefügt worden. Im Bericht des Ausschusses heißt es dazu (BT-Drucks 11/5530 Seite 65 zu Nr 3a - § 17a FRG -), Personen, die bis zum Beginn der allgemeinen Verfolgungsmaßnahmen durch den Nationalsozialismus zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört hätten, seien bisher nur deshalb nicht vom FRG erfaßt worden, weil sie sich nicht zum deutschen Volkstum, sondern zum Judentum bekannt hätten. Diesen Personen seien durch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft das familiäre Umfeld und die soziale Großgruppe entzogen worden, und sie könnten im Verlauf der Zeit bis zur Ausreise aus ihren Heimatgebieten auch die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach-und Kulturkreis verloren haben. Durch die Neuregelung solle dieser Personenkreis in das FRG einbezogen werden. In diesem Zusammenhang ist maßgebend für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis der Zeitpunkt, zu dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf das Heimatgebiet des Klägers erstreckt hat.

Die somit noch erforderlichen Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650337

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