Leitsatz (amtlich)

Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn das Landessozialgericht die Vernehmung von Zeugen mit der Begründung ablehnt, Zeugen vermöchten sich an die genauen Zeiten von Ereignissen, die mehr als 50 Jahre zurückliegen, nicht mehr zu erinnern.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 22. Oktober 1954 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der ... 1887 geborene Kläger beantragte "die Knappschafts- bzw. Knappschaftsvollrente". Die Beklagte gewährte ihm die Knappschaftsvollrente durch Bescheid vom 9. April 1951. Streitig ist noch, ob für die Zeit von 1903 bis 1905 der Leistungszuschlag gewährt werden muß. In seinem Antrag hatte der Kläger hinsichtlich seines früheren Beschäftigungsverhältnisses u. a. angegeben, daß er von 1903 bis 1905 als Schlepper auf der Zeche … beschäftigt gewesen und anschließend auf der Zeche ... als Lehrhauer angelegt worden sei. Die Zeche ... gab auf Anfrage der Beklagten an, daß der Kläger vom 30. Juli 1903 bis 25. Juli 1905 bei ihr als Pferdetreiber beschäftigt und nach Arbeitergrad-Schlüsselnummer 140 entlohnt worden sei. In einem früheren Antrag auf Gewährung der Knappschaftsrente aus dem Jahre 1945 hatte der Kläger angegeben, daß er auf der Zeche ... von 1902 bis 1903 als Pferdeführer, von 1904 bis 1905 als Schlepper und im Jahre 1905 als Lehrhauer beschäftigt gewesen sei. Als er am 28. Dezember 1946 einen Antrag auf Gewährung des Knappschaftssoldes stellte, hatte er angegeben, daß er von 1903 bis 1905 als Schlepper auf der Zeche ... beschäftigt gewesen sei und im Jahre 1905 als Lehrhauer auf der Zeche ... angelegt worden sei.

In seinem Einspruch gegen den Bescheid der Beklagten gab der Kläger an, daß er bereits ab April 1903 als Lehrhauer auf der Zeche ... beschäftigt gewesen sei; er sei nach seiner Anlegung zunächst drei Monate Pferdejunge, dann drei Monate Anschläger gewesen und sei dann anschließend vor Kohle verlegt worden. Er überreichte eine von ihm selbst abgegebene eidesstattliche Erklärung, nach welcher er schon ab Januar 1904 im Gedinge tätig gewesen sei, außerdem eine des ..., in welcher dieser bestätigt, daß der Kläger im Jahre 1904 mit ihm auf der Zeche ... im Gedinge gearbeitet habe. Der Geschäftsausschuß wies den Einspruch des Klägers als unbegründet zurück. Gegen den ihm daraufhin erteilten Bescheid der Beklagten legte der Kläger Berufung beim Knappschaftsoberversicherungsamt (KOVA.) in Dortmund ein und überreichte eine eidesstattliche Erklärung des ..., daß der Kläger Anfang des Jahres 1904 im Gedinge gearbeitet habe. Das Knappschaftsoberversicherungsamt wies durch Urteil vom 27. Juni 1952 die Berufung zurück. Gegen das Urteil erhob der Kläger Klage beim Landesverwaltungsgericht Gelsenkirchen. Diese ging gemäß § 215 Abs. 7 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 1. Januar 1954 auf das Landessozialgericht Essen als Berufung über. Das Landessozialgericht holte noch eine weitere Auskunft bei der Zeche ... über die Beschäftigungsverhältnisse des Klägers in der Zeit von 1903 bis 1904 ein. Die Zeche bestätigte ihre frühere Auskunft, daß der Kläger vom 30. Juli 1903 bis 25. Juli 1905 als Pferdetreiber beschäftigt gewesen sei. Der Kläger reichte noch eine weitere eidesstattliche Erklärung seines Bruders ... ein, worin dieser angab, der Kläger habe ab 1904 im Gedinge gearbeitet. Der Kläger beantragte, noch die Zeugen ... zu vernehmen. Dieser Antrag wurde von dem Landessozialgericht durch Beschluss abgelehnt. Die Berufung wurde durch das angefochtene Urteil u. a. mit folgender Begründung zurückgewiesen:

"Als eindeutige Unterlage über die Tätigkeit des Klägers in dem jetzt noch strittigen Zeitraum vom 23. März 1904 bis 25. Juli 1905 liegt lediglich die Auskunft der Zeche ... vom 25. August 1950 vor, wonach der Kläger in dieser Zeit als Pferdetreiber (Lohnordnung Nr. 140) im Untertagebetrieb beschäftigt gewesen ist. Diese Auskunft hat die Zeche auf Grund einer Anfrage des Senats mit Schreiben vom 26. Februar 1954 ausdrücklich bestätigt, nachdem die Zeche auf die entgegengesetzten Behauptungen des Klägers hingewiesen worden ist. Die Auskunft der Zeche kann zwar durch andere, überzeugendere Beweismittel widerlegt werden. Dazu sind aber Aussagen von Zeugen, die über einen Zeitraum aussagen sollen, der nunmehr 51 Jahre zurückliegt, im vorliegenden Falle nicht geeignet. Es ist eine gerichtsbekannte Tatsache, daß sich die Erinnerungsbilder nach so langen Zeiträumen stark verschieben können, zumal wenn es sich um den genauen Zeitpunkt für lange zurückliegende Ereignisse handelt. Aus diesem Grunde hat der Senat den Antrag des Klägers, die von ihm angebotenen Zeugen zu vernehmen, abgelehnt, weil er den Aussagen keine widerlegende Beweiskraft gegenüber der eindeutigen Auskunft der Zeche beimessen kann. Diese Feststellung wird auch durch die wechselnden eigenen Angaben des Klägers gestützt. Diese beweisen, daß sich das Erinnerungsbild des Klägers selbst im Hinblick auf die lange zurückliegende Zeit verschoben hat. Ist dies schon beim Kläger der Fall, dessen Erklärungen sich auf seine eigenen Angelegenheiten beziehen, so muß dies noch viel mehr für die Zeugen gelten, die über fremde Angelegenheiten aussagen sollen. Wie das angefochtene Urteil (des KOVA.) zutreffend festgestellt hat, bleibt daher als sichere Unterlage für die Berechnung des Leistungszuschlages nur die Auskunft der Zeche ... über die Tätigkeit des Klägers. Das Gericht hat keinen Anlaß gesehen, an der Zuverlässigkeit dieser Angaben zu zweifeln, zumal die Zeche auf erneute Anfrage ihre früheren Angaben ausdrücklich bestätigt hat. Es ist daher mit ausreichender Sicherheit erwiesen, daß der Kläger in dem strittigen Zeitraum als Pferdetreiber tätig war, also eine Arbeit ausgeführt hat, die nach den Bestimmungen zu § 4 Abs. 3 der Verordnung über die Neuregelung der Rentenversicherung im Bergbau vom 4. Oktober 1942 nicht leistungszuschlagsberechtigt ist."

Das Landessozialgericht hat die Revision nicht zugelassen.

Gegen das am 13. November 1954 zugestellte Urteil hat der Kläger durch Rechtsanwalt Dr. ..., ..., am 13. Dezember 1954 Revision eingelegt und beantragt:

1. das angefochtene Urteil aufzuheben,

2. die Sache zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen,

3. nach den im Berufungsverfahren gestellten Anträgen zu erkennen.

Die Revisionsbegründungsfrist wurde bis zum 13. Februar 1955, einem Sonntag, verlängert. Am 14. Februar 1955 wurde die Revision begründet.

Der Kläger rügt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens, der darin zu erblicken sei, daß das Landessozialgericht die von ihm benannten Zeugen nicht vernommen habe.

Die Beklagte beantragt, die Revision kostenpflichtig als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen. Sie vertritt den Standpunkt, daß das Landessozialgericht die Zeugen nicht habe zu vernehmen brauchen und daher ein wesentlicher Verfahrensmangel nicht vorliege.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist auch statthaft.

Wie der erkennende Senat bereits anderweitig entschieden hat, sind Urteile der Landessozialgerichte in Rechtsstreitigkeiten, die nach § 215 Abs. 7 SGG von den allgemeinen Verwaltungsgerichten des ersten Rechtszuges als Berufungen auf die Landessozialgerichte übergegangen sind, nicht endgültig, können vielmehr angefochten werden, wenn die Revision nach § 162 Abs. 1 SGG statthaft ist (Beschl. v. 14.9.1955 in Sachen ... ./. Bergbauberufsgenossenschaft - 5 RKn 5/54 -). Das Landessozialgericht hat zwar die Revision nicht zugelassen; sie ist aber nach § 162 Abs. 1 Ziff. 2 SGG statthaft. Das Verfahren vor dem Landessozialgericht leidet, wie der Kläger schlüssig gerügt hat, an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil das Landessozialgericht die vom Kläger beantragte Zeugenvernehmung nicht durchgeführt hat. Zwar ist das Landessozialgericht nach § 103 Satz 2 SGG an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden, darf jedoch nicht außer Acht lassen, daß es nach § 103 Satz 1 SGG verpflichtet ist, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Soweit es sich über den aufzuklärenden Lebensvorgang eine feste Überzeugung gebildet hat, kann es allerdings nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheiden, daß eine weitere Zeugenvernehmung nicht erforderlich ist, darf aber hierbei weder sein Ermessen sachwidrig anwenden noch die Grenzen seines Ermessens überschreiten.

Das Landessozialgericht hat zwar auf Grund der Zechenauskunft geglaubt annehmen zu können, daß der Kläger in dem strittigen Zeitraum nur als Pferdetreiber tätig gewesen ist, hat aber selbst zum Ausdruck gebracht, daß diese Auskunft durch andere, überzeugendere Beweise widerlegt werden könne. Es war also selbst der Auffassung, daß weitere geeignete Beweise erhoben werden mußten, wenn solche zur Verfügung standen. Die beantragten Zeugenvernehmungen hat es abgelehnt, weil nach seiner Ansicht Zeugen nicht in der Lage sind, sich an Vorgänge, bei denen es - wie im vorliegenden Falle - auf den genauen Zeitpunkt der Vorgänge ankommt, zu erinnern, wenn diese über 50 Jahre zurückliegen. Diese Begründung widerspricht aber in dieser uneingeschränkten Form allgemeiner Erfahrung. Sicherlich ist das Erinnerungsvermögen an so weit zurückliegende Umstände vielfach geschwächt, besonders wenn es von Bedeutung ist, in welchen Jahren sie sich ereignet haben, aber es darf nicht übersehen werden, daß sich andererseits Zeugen doch häufig auch hieran noch erinnern können, besonders wenn gewisse Gedächtnisstützen vorhanden sind oder wenn es sich um hervorstechende, für sie selbst bedeutsame Ereignisse handelt. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, wie ihn das Landessozialgericht aufstellt, besteht daher nicht. Vor allem der Zeuge Reichsbahnoberzugführer a. D. hätte hiernach vernommen werden müssen. Dieser Zeuge ist, wie sich aus seiner eidesstattlichen Erklärung vom 14. Juni 1951 ergibt, im Jahre 1905 aus dem Bergbau ausgeschieden und in die Dienste der damaligen Eisenbahnverwaltung getreten. Für den Zeugen stellt die Tatsache und der Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Bergbau eine Gedächtnisstütze in diesem Sinne dar. Wenn er entsprechend seiner eidesstattlichen Erklärung glaubhaft aussagen könnte, daß er mit dem Kläger zusammen im Gedinge gearbeitet habe, würde daraus der Schluss gezogen werden müssen, daß der Kläger vor dem Ausscheiden des Zeugen aus dem Bergbau, also gerade in der strittigen Zeit, zumindest zeitweise im Gedinge gearbeitet hat. Ob diese Aussage als glaubhaft angesehen werden kann und daher gegenüber der Zechenauskunft von ausschlaggebender Bedeutung ist, kann natürlich erst nach der Vernehmung des Zeugen gesagt werden. Immerhin hätte gerade dieser Zeuge vernommen werden müssen. Da das Landessozialgericht die Vernehmung der Zeugen mit einer gegen allgemeine Erfahrungssätze verstoßenden Begründung abgelehnt hat, muß die Zeugenvernehmung als ohne zureichenden Grund unterlassen angesehen werden. Das Verfahren leidet somit wegen Verstoßes gegen die Vorschriften der §§ 103 Satz 1 und 128 Abs. 1 Satz 1 SGG an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Die Revision ist daher statthaft.

Sie ist auch begründet (§ 162 Abs. 2 SGG), da das angefochtene Urteil anders hätte ausfallen können, wenn diese Verfahrensvorschriften richtig angewandt worden wären; denn die Ergebnisse der unterlassenen Zeugenvernehmung hätten u. U. zu einer anderen Tatsachenfeststellung führen können.

Das angefochtene Urteil war daher mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der erkennende Senat konnte in der Sache selbst nicht entscheiden, da der Sachverhalt noch nicht genügend aufgeklärt ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2373474

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