Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletztenrente. MdE. Teilrente. kleine Verletztenrente, Stützrente. Rentenherabsetzung, Rentenentziehung. wesentliche Besserung. Anspruchsgegenstand, eigenständig. Anhörungsfrist. Verkürzung
Leitsatz (amtlich)
Zur Befugnis des Unfallversicherungsträgers, eine Verletztenrente nach § 581 Abs. 1 RVO zunächst unabhängig von den Voraussetzungen eines Stützrententatbestandes zu entziehen.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1, 3; SGB X § 48 Abs. 1, § 24 Abs. 1, § 20; SGG § 96 Abs. 1; SGB I § 44
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 13.05.1992; Aktenzeichen L 2 U 577/91) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 01.02.1992; Aktenzeichen S 14 U 1585/90) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Mai 1992 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Verletztenrentenentziehung.
Der Kläger war in einer Polstermöbelfabrik als Schreiner beschäftigt. Am 12. Oktober 1983 erlitt er eine Kreissägenverletzung rechts an Handgelenk und Hand. Im Rentenfeststellungsverfahren erklärte der Kläger der Beklagten, daß er an anerkannten Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) leide, aber keine Beschädigtenrente erhalte, weil die schädigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 20 vH betrage. Die Schädigungsfolgen waren zuletzt mit Bescheid vom 13. September 1974 mit einer MdE unter 25 vH bewertet worden.
Mit Bescheid vom 6. April 1984 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 12. Oktober 1983 eine vorläufige Rente nach einer unfallbedingten MdE um 20 vH. Im Jahre 1985 ließ die Beklagte den Kläger neurologisch und fachchirurgisch nachuntersuchen. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, daß die Unfallfolgen nur noch eine MdE um 10 vH bedingten. Dazu wurde der Beklagten von ihrem Beratungsarzt dargelegt, daß die unfallbedingte MdE seiner Meinung nach gar nicht mehr meßbar sei. Letzteres teilte die Beklagte dem Kläger in einem Anhörungsschreiben vom 5. September 1985 mit, entzog die vorläufige Rente und lehnte zugleich die Gewährung einer Dauerrente ab (Bescheid vom 24. September 1985). Diesen Bescheid hob das Sozialgericht (SG) Karlsruhe auf, weil die Anhörung ohne Hinweis auf das Nachuntersuchungsergebnis mit einer unfallbedingten MdE von 10 vH erfolgt und deshalb mangelhaft gewesen sei (rechtskräftiges Urteil vom 26. Juni 1986).
Die daraufhin von der Beklagten eingeholten Gutachten, ein nervenärztliches und eine handchirurgisches, kamen zu dem Ergebnis, daß die Folgen des Arbeitsunfalles eine MdE von 10 vH bedingten und „eine Behinderung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes durch KB-Schaden” nicht festgestellt werden könne. Die Beklagte übersandte dieses Gutachten dem Kläger, benannte die wesentliche Besserung, bewertete die verbliebene unfallbedingte MdE mit 10 vH und kündigte an, sie werde die Rente entziehen. Die Rentenentziehung folgte sodann mit Bescheid vom 13. Januar 1987 zum Ablauf des Monats Februar 1987. Auch diesen Bescheid hob das SG wegen fehlerhafter Anhörung des Klägers auf (rechtskräftiges Urteil vom 20. Februar 1990). Aus dem Anhörungsschreiben habe der Kläger nicht ersehen können, daß auch das Vorliegen der Schädigungsfolgen nach dem BVG und der dadurch bedingte Grad der MdE entscheidungserheblich sei.
Mit Anhörungsschreiben vom 9. Mai 1990 teilte die Beklagte dem Kläger erneut mit, sie beabsichtige, die bisher nach einer MdE um 20 vH gewährte Verletztenrente zu entziehen, weil eine wesentliche, von ihr genau bezeichnete Besserung in den Unfallfolgen eingetreten sei und die MdE durch die verbliebenen Unfallfolgen nur noch 10 vH betrage. Sie fügte hinzu, die Unfallfolgen wären nur dann zu entschädigen, wenn die Schädigungsfolgen nach dem BVG mindestens eine MdE um 10 vH bedingten. Das müsse von ihr in eigener Zuständigkeit noch ermittelt werden. Nach Abschluß dieser Ermittlungen erhalte der Kläger darüber einen weiteren Bescheid.
Mit dem im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheid vom 28. Mai 1990 entzog die Beklagte die Verletztenrente in vollem Umfang zum Ablauf des Monats Juni 1990 mit dem Hinweis auf einen weiteren Bescheid über den durch die Schädigungsfolgen nach dem BVG bedingten Grad der MdE.
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte den weiteren angefochtenen Bescheid vom 5. November 1990 erlassen, in dem sie aufgrund eines fachorthopädischen Gutachtens vom 5. September 1990 festgestellt hat, daß die (anerkannten) Schädigungsfolgen nach dem BVG keine MdE mehr bedingten.
Das SG hat auch diese beiden Bescheide aufgehoben (Urteil vom 1. Februar 1991), weil sie wegen Verstoßes gegen die Anhörungsvorschrift des § 24 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren (SGB X) rechtswidrig seien. Aus dem Anhörungsschreiben vom 9. Mai 1990 habe der Kläger entnehmen müssen, daß die Beklagte erst nach Abschluß ihrer auf die Schädigungsfolgen nach dem BVG bezogenen Ermittlungen den angekündigten Bescheid erlassen wolle. Der Bescheid vom 28. Mai 1990 sei deshalb eine Überraschungsentscheidung gewesen. Derjenige vom 5. November 1990 werde als nachträgliche Begründung des Entziehungsbescheides vom 28. Mai 1990 von dem Anhörungsmangel erfaßt; außerdem sei er auch deswegen rechtswidrig, weil ihm selbst keine eigenständige Anhörung des Klägers vorausgegangen sei. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zurückgewiesen (Urteil vom 13. Mai 1992). Der Entziehungsbescheid sei rechtswidrig. Nach § 48 SGB X sei es der Beklagten verwehrt, zuerst die Rente vollständig zu entziehen und erst später zu prüfen, ob ein Stütztatbestand iS des § 581 Abs. 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) vorliege. Da die Beklagte diese Prüfung im Entziehungsverfahren nicht vorgenommen habe, könne diese – unter Beachtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung – vom Gericht nicht nachgeholt werden. Einer solchen Anhörung stünde auch § 24 SGB X entgegen. Denn zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen gehörten im Entziehungsverfahren auch die Tatsachen, aufgrund deren die Beklagte das Vorliegen eines Stütztatbestandes verneine. Dazu sei der Kläger aber nicht vor der Entziehung gehört worden und das könne auch im Gerichtsverfahren nicht mehr nachgeholt werden. Die Anhörungspflicht betreffe auch die Formen der Entziehung, bei denen eine Kompensation durch andere gesetzliche Merkmale möglich sei.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil des LSG zugelassen (Beschluß vom 28. Januar 1993).
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 24, 48 SGB X und des § 581 RVO. Sie habe den Kläger vor Erlaß des Rentenentziehungsbescheides ordnungsgemäß angehört. Die Dauerrente habe auch ohne Verstoß gegen § 48 SGB X entzogen werden können, ohne daß zugleich die Entscheidung über die Gewährung einer Stützrente nach einer MdE um 10 vH habe getroffen werden müssen. Nachdem ihre Ermittlungen eine wesentliche Besserung der tatsächlichen Verhältnisse wegen der gesundheitlichen Folgen des Arbeitsunfalles durch Herabsinken der MdE auf 10 vH ergeben habe, sei allein wegen des Arbeitsunfalles keine Verletztenrente mehr zu gewähren gewesen. Bei einer MdE von 10 vH aus Anlaß eines Arbeitsunfalles sei nur ausnahmsweise eine Verletztenrente zu zahlen. Die Behauptung einer stützenden MdE genüge hierfür nicht. Der Bescheid vom 5. November 1990 sei auch nicht Teil des Entziehungsbescheides, sondern eine eigenständige Prüfung, ob die verbliebene MdE gemäß § 581 Abs. 3 RVO zu entschädigen sei.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1. Februar 1991 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Mai 1992 aufzuheben und die Klagen gegen die Bescheide vom 29. Mai und 5. November 1990 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die angefochtenen Bescheide seien auch deswegen unter Verstoß gegen § 24 SGB X erlassen worden, weil das Anhörungsschreiben vom 9. Mai 1990 eine zu kurze Äußerungsfrist gesetzt habe, die selbst durch Zuwarten nicht habe geheilt werden können, und weil es nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen erschöpfend dargelegt habe. Zu § 581 Abs. 3 RVO verkenne die Beklagte, daß sie gemäß § 20 SGB X vor Erlaß eines Bescheides alle Voraussetzungen einer Entziehung zu prüfen habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Es fehlen tatsächliche Feststellungen des LSG darüber, ob die beim Kläger noch vorhandenen Schädigungsfolgen nach dem BVG seine Erwerbsfähigkeit wenigstens um 10 vH mindern.
Der Entziehungsbescheid der Beklagten vom 28. Mai 1990 erweist sich als rechtmäßig. Die Beklagte hat die dem Kläger wegen der Folgen seines Arbeitsunfalls vom 12. Oktober 1983 nach § 581 Abs. 1 RVO gewährte Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH zu Recht entzogen. Sie war dazu verpflichtet, weil sich die Unfallfolgen derart wesentlich gebessert haben, daß die Voraussetzungen des § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO als bisherige Entscheidungsgrundlage für die Rentengewährung völlig weggefallen sind.
Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, als Verletztenrente der Teil der Vollrente gewährt, der dem Grade der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entspricht (Teilrente). Die Folgen des Arbeitsunfalls des Klägers haben im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 6. April 1986 eine MdE um 20 vH bewirkt.
Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs. 1 SGB X). Nach den von den tatsächlichen Feststellungen des LSG mitumfaßten, unbestrittenen medizinischen Ermittlungen der Beklagten, gegen die keine begründeten Revisionsrügen vorgebracht worden und die deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), bedingen die Unfallfolgen nur noch eine MdE um 10 vH. Damit ist die wesentliche Voraussetzung, die nach dem maßgeblichen Bescheid vom 6. April 1984 zur Gewährung der Verletztenrente gemäß § 581 Abs. 1 RVO geführt hat, aufgrund einer wesentlichen Besserung der Folgen des Arbeitsunfalls entfallen. Das begründete die Rechtspflicht der Beklagten nach § 48 Abs. 1 SGB X, die Verletztenrente in vollem Umfang zu entziehen.
Nach § 581 Abs. 3 RVO ist allerdings, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert wird und die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten Minderung zusammen wenigstens die Zahl Zwanzig erreichen, für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall Verletztenrente zu gewähren. Die Folgen eines Arbeitsunfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 vH mindern. Den Arbeitsunfällen stehen ua Entschädigungsfälle nach dem BVG gleich. Der Senat hat bereits entschieden, daß der Anspruch auf Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO derartige Besonderheiten aufweist, daß er dem Grunde, dh dem Gegenstand nach wesentlich von demjenigen nach § 581 Abs. 1 RVO verschieden ist (Urteil des Senats vom 28. Februar 1986 – 2 RU 23/84 – in HV-Info 1986, 841; s. auch BSG Urteil vom 18. März 1993 – 8 RKnU 4/92 – in HV-Info 1993, 1304), auch wenn für beide gleichermaßen § 580 RVO gilt (BSGE 32, 191, 193). Der Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH gemäß § 581 Abs. 3 RVO ist nicht nur ein Anspruch auf eine geringere Rente als nach einer MdE um mindestens 20 vH gemäß § 581 Abs. 1 RVO. Die erstere Vorschrift ist nicht lediglich eine Auslegungsregel zum Abs. 1 Nr. 2 aaO, wie Watermann meint (s. Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 13 zu § 581 RVO). Es reicht für den Anspruch auf die kleine Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO nicht aus, daß dem Grunde nach dieselben Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, die § 581 Abs. 1 RVO vorschreibt, nur eben dem Grad der arbeitsunfallbedingten MdE nach verringert auf weniger als 20 vH. Mit einer solchen geringen MdE wird vielmehr grundsätzlich die rentenberechtigende Grenze in der gesetzlichen Unfallversicherung unterschritten. Eine durch einen Arbeitsunfall bedingte MdE um 10 vH vermag nach geltendem Recht allein niemals den Anspruch auf eine Verletztenrente zu begründen. Hinzukommen muß vielmehr eine weitere, von § 581 Abs. 1 RVO und dem Arbeitsunfall, auf den diese Vorschrift es insoweit abstellt, grundverschiedene Tatbestandsvoraussetzung, um den eigenständigen Verletztenrentenanspruch nach § 581 Abs. 3 RVO entstehen zu lassen. Ein Verletzter, der in seiner Erwerbsfähigkeit insgesamt um mindestens 20 vH gemindert ist, soll jedenfalls dann auch für geringe Unfallfolgen, die einen Grad der MdE um weniger als 20 vH, aber mindestens um 10 vH bedingen, Verletztenrente erhalten, wenn der übrige Teil der MdE durch bestimmte andere Entschädigungsfälle (nach deutschem Recht, s. BSGE 49, 92) verursacht worden ist. Diese zusätzliche Anspruchsvoraussetzung prägt den Verletztenrentenanspruch nach § 581 Abs. 3 RVO derart, daß ihm eigenständige Bedeutung im Verhältnis zu § 581 Abs. 1 RVO zukommt. Sie bedeutet eine eigenständige Art des Anspruchsgegenstandes, die sich umgekehrt auch darin zeigt, daß eine nach § 581 Abs. 1 RVO gewährte Rente vom Eintritt weiterer Unfälle iS des § 581 Abs. 3 RVO völlig unberührt bleibt und insbesondere nicht erhöht wird.
Die besondere rechtliche Gestaltung der Voraussetzungen für die kleinen Renten sind auch im Rahmen des § 48 SGB X zu beachten. Ebenso wie die Beklagte nach § 48 Abs. 1 SGB X verpflichtet war, den Rentenanspruch des Klägers wegen der wesentlichen Besserung der Unfallfolgen neu festzustellen, traf sie zwar ebenfalls die Pflicht, im Hinblick auf die ihr als solche bekannte Schädigung nach dem BVG eine mögliche Teilkompensation durch einen Rentenanspruch nach § 581 Abs. 3 RVO zu überprüfen und insoweit auch über die bisher nicht festgestellte MdE durch die Schädigungsfolgen nach dem BVG zu entscheiden (BSG SozR 2200 § 581 Nrn 15 und 20). Aber obwohl die unfallbedingte MdE nicht vollkommen weggefallen war, sondern noch 10 vH betragen hatte, war die Beklagte unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht befugt, die bisherige Rente nach einer MdE um 20 vH zunächst bis zur Entscheidung über die Höhe der durch andere Unfälle oder Entschädigungsfälle iS des § 581 Abs. 3 RVO bedingten MdE trotz der nachgewiesenen Änderung in den für die Feststellung der Verletztenrente nach § 581 Abs. 1 RVO maßgebenden Verhältnissen weiter zu zahlen. § 48 Abs. 1 SGB X zwang sie vielmehr zur Neufeststellung nach Maßgabe der wesentlichen
Änderung auch in zeitlicher Hinsicht. Die Beklagte durfte ebensowenig die Rentenentziehung nur auf eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH beschränken. Denn damit hätte sie dem Kläger einen dem Gegenstand nach neuen Rentenanspruch gemäß § 581 Abs. 3 RVO entsprechend einer MdE um 10 vH zugesprochen, obwohl der Sachverhalt zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 581 Abs. 3 RVO noch nicht entscheidungsreif war. Eine solche Verfahrensweise ist rechtswidrig. Dadurch hätte die Beklagte gegen ihre verfahrensmäßigen Pflichten zur Prüfung der Voraussetzungen und Vorbereitung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung (§§ 8 ff, insbesondere § 20 SGB X; vgl. auch BSGE 67, 104) verstoßen.
Wollte man stattdessen nach den Umständen des vorliegenden Falles eine teilweise Rentenentziehung auf eine Dauerrente nach einer MdE um 10 vH für rechtens halten, müßte man das Ergebnis akzeptieren, daß die Trägerin der Unfallversicherung gegebenenfalls die zu Unrecht gewährte Rente jedenfalls mit Wirkung für die Vergangenheit nicht entziehen könnte, wenn sich nachträglich herausstellen sollte, die Schädigungsfolgen nach dem BVG hätten vom Zeitpunkt der Rentenentziehung nach § 48 SGB X an keine MdE um wenigstens 10 vH bedingt. Es lägen dann weder die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X für die Rücknahme dieser Rentenfestsetzung mit Wirkung für die Vergangenheit vor, noch hätten sich die für die Feststellung der Verletztenrente nach einer MdE von 10 vH maßgebenden Verhältnisse nachträglich geändert, wie § 48 SGB X voraussetzt, und auch ein Widerrufsvorbehalt erlaubte keinen Widerruf mit Wirkung für die Vergangenheit (§ 47 SGB X). Das verletzte die Interessen der Trägerin der Unfallversicherung endgültig, während die Verfahrensweise der Beklagten dahin, die Verletztenrente nach § 48 Abs. 1 SGB X vollständig zu entziehen und zugleich einen weiteren Bescheid über den durch die Schädigungsfolgen nach dem BVG bedingten Grad der MdE anzukündigen, die Interessen des Klägers in zumutbarer Weise gewahrt hat. Selbst wenn ihm eine kleine Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO ununterbrochen zugestanden hätte, bedeutete eine vorübergehende totale Rentenentziehung im Hinblick darauf, daß es sich nur um eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH handeln könnte, keinen – zudem nur zeitlich beschränkten – Ausfall einer existenzsichernden Leistung, und die Leistungsfähigkeit der Beklagten als deutsche Trägerin der Unfallversicherung garantierte ihm, daß er im für ihn positiven Falle tatsächlich auch die vollständige Nachzahlung der ihm zustehenden Leistung – gegebenenfalls unter Beachtung des § 44 SGB I (Verzinsung) – erhielte.
Aus den gesamten Erwägungen ist auch ersichtlich, daß die Auffassung des Senats nicht im Widerspruch zu seinem Urteil vom 28. Februar 1986 (aaO) und dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 18. März 1993 (aaO) steht, in denen neben der besonderen rechtlichen Gestaltung der Voraussetzungen für die kleinen Renten auch die notwendige einheitliche Entscheidung über die (kleine) Verletztenrente und die Folgen anderer Arbeitsunfälle oder zu berücksichtigenden Unfälle iS des § 581 Abs. 3 RVO betont ist. Der Notwendigkeit dieser einheitlichen Entscheidung wird nach der Entziehung der bisher nach § 581 Abs. 1 RVO gewährten Verletztenrente bei der unmittelbar daran anschließenden Prüfung und Entscheidung der Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO Rechnung getragen.
Mag auch die Ansicht des Klägers zutreffen, daß die Beklagte die Feststellung der durch seine Schädigungsfolgen nach dem BVG verursachten MdE und die Entscheidung über seinen Anspruch auf eine kleine Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO unverhältnismäßig lange verschleppt hat, eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide kann daraus jedenfalls nicht folgen. Nur mit einem frühen Antrag auf beschleunigte Vornahme eines derartigen Verwaltungsaktes und gegebenenfalls mit einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG kann sich der Verletzte gegen eine solche Verschleppung wirksam wehren. Außerdem hat die Beklagte – wie bereits erwähnt – auch § 44 SGB I (Verzinsung) zu beachten.
Die Beklagte hat den angefochtenen Entziehungsbescheid vom 28. Mai 1990 nicht unter Verletzung ihrer Anhörungspflicht nach § 24 Abs. 1 SGB X erlassen. Ihr Anhörungsschreiben an den Kläger vom 9. Mai 1990 enthielt entgegen der Meinung des Klägers den Hinweis auf alle – oben dargelegten – für die beabsichtigte restlose Rentenentziehung erheblichen Tatsachen einschließlich der allgemein verständlichen und ausreichenden Belehrung über die Voraussetzungen einer kleinen Rente nach § 581 Abs. 3 RVO (insoweit in Übereinstimmung mit BSG SozR 3-1300 § 32 Nr. 1), zu denen sie ausgeführt hatte, es müsse noch ermittelt werden, ob die Schädigungsfolgen nach dem BVG mindestens eine MdE um 10 vH bedingten; nach Abschluß dieser Ermittlungen erhalte der Kläger darüber einen weiteren Bescheid. Im Hinblick auf dieses Anhörungsschreiben war der Zusatz in dem angefochtenen Entziehungsbescheid vom 28. Mai 1990 unter Zugrundelegung vernünftiger Maßstäbe auch nur dahin zu verstehen, daß der Kläger über den Anspruch auf eine kleine Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO später nach Abschluß der weiteren Ermittlungen noch einen zweiten Bescheid erhalten werde.
Die dem Kläger in dem Anhörungsschreiben vom 9. Mai 1990 eingeräumte Anhörungsfrist von „zwei Wochen nach Zugang dieses Schreibens” war unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles nicht zu kurz, um eine Anhörung iS des § 24 SGB X zu gewährleisten. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß die Anhörungsfrist zur Äußerung iS des § 24 SGB X keine gesetzliche Verfahrensfrist, sondern eine behördliche Frist ist (BSG SozR 1300 § 24 Nr. 4). Zutreffend hat der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden, daß diese Anhörungsfrist generell zwei Wochen unter Ausschluß der Postlaufzeiten betragen sollte. Sie gilt in der Regel als Mindestfrist für Sachverhalte, bei denen dem Betroffenen die Einholung einer ärztlichen Ansicht ermöglicht werden muß. Beim Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalles kann die Verwaltung auch verpflichtet bzw berechtigt sein, ausnahmsweise eine längere bzw kürzere Äußerungsfrist einzuräumen (BSG SozR 3-1300 § 24 Nr. 7). Solche besonderen Umstände hat das LSG im vorliegenden Fall festgestellt. Bereits im Anhörungsschreiben vom 22. Dezember 1986 hatte die Beklagte dem Kläger die entscheidungserheblichen Tatsachen mitgeteilt und ihm Abschriften der maßgeblichen medizinischen Gutachten übersandt. Dieses Schreiben hat das SG in seinem Urteil vom 20. Februar 1990 deshalb als unzureichend angesehen, weil der Kläger nicht darauf hingewiesen wurde, daß auch die durch die Kriegsbeschädigung bedingte MdE entscheidungserheblich sein könnte. Schon durch dieses Urteil war der Kläger insoweit vorab über den Inhalt des späteren Anhörungsschreibens vom 9. Mai 1990 informiert. Die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen waren dem Kläger noch länger bekannt. Das rechtfertigt es im vorliegenden Fall, ausnahmsweise eine Anhörungsfrist von zwei Wochen ohne zusätzliche Berücksichtigung der Postrücklaufzeit zu setzen.
Der ebenfalls angefochtene Bescheid vom 5. November 1990, mit dem die Beklagte entschieden hat, daß des Klägers Schädigungsfolgen nach dem BVG keine MdE um mindestens 10 vH bedingen und ihm deshalb vom Zeitpunkt der umstrittenen Rentenentziehung an auch nach § 581 Abs. 3 RVO kein Verletztenrentenanspruch mehr zusteht, hat den ursprünglich angefochtenen Entziehungsbescheid ergänzt und ist deshalb nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Auch dieser Bescheid ist nicht unter Verletzung der Anhörungspflicht nach § 24 Abs. 1 SGB X ergangen, weil er nicht etwa über den bisherigen Umfang hinaus in die Rechte des Klägers eingegriffen, sondern stattdessen erstmals entschieden hat, daß ihm der eigenständige Anspruch auf eine kleine Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO nicht zusteht.
Der Senat kann jedoch nicht abschließend über den Rechtsstreit entscheiden, weil das LSG – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – noch nicht über die vom Kläger angefochtene Entscheidung der Beklagten entschieden hat, daß seine Schädigungsfolgen nach dem BVG nicht wenigstens eine MdE um 10 vH bedingen.
Das LSG wird diese Feststellungen nachzuholen haben. Die Prüfung der Voraussetzungen des § 581 Abs. 3 RVO durch das LSG ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auf Seite 8 seines Urteils schon deshalb keine Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, weil die Beklagte darüber in ihrem Bescheid vom 5. November 1990 entschieden hat, der – wie bereits erwähnt – nach § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden ist.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 927598 |
BSGE, 175 |
Breith. 1994, 380 |