Leitsatz (amtlich)

Das Gericht überschreitet die seinem Recht der freien Beweiswürdigung (SGG § 128 Abs 1 S 1) gezogenen Grenzen, wenn es einem ärztlichen Zeugnis eine Erklärung entnimmt, die nach seinem klaren Wortlaut nicht in ihm enthalten ist, und aus seiner irrigen Auffassung des Erklärungsinhalts einen unrichtigen Schluß auf den Beweiswert des Zeugnisses zieht.

 

Leitsatz (redaktionell)

§ 58 Abs 2 BVG knüpft schon die Zulässigkeit der Anmeldung, die ein sachlich-rechtliches Erfordernis für das Entstehen des Rentenanspruchs ist, an besondere Voraussetzungen, die strenger sind als die des § 58 Abs 1 BVG für eine erst nach Beginn des zweiten Weltkrieges eingetretene Schädigung. Die rechtswirksame Anmeldung ist nur eines von mehreren Tatbestandsmerkmalen, an die der Anspruch auf Hinterbliebenenrente gebunden ist. Die weiteren Voraussetzungen, die zu einem fristgerechten und zulässigen Antrag hinzukommen müssen, sind in § 38 BVG geregelt und erst dann zu prüfen, wenn der Anspruch nach § 58 BVG rechtswirksam angemeldet ist.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 58 Abs. 1 Fassung: 1953-08-07, Abs. 2 Fassung: 1950-12-20, § 38 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. Oktober 1954 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach dem BVG zusteht. Die Klägerin führt den Tod ihres am 30. Dezember 1950 an einer Schilddrüsenerkrankung (maligne Struma) gestorbenen Ehemannes auf Gesundheitsstörungen zurück, die er sich nach ihrer Darstellung als Angehöriger der Kaiserlichen Schutztruppe in Afrika in den Jahren 1911-1916 und während der darauffolgenden Teilnahme am Feldzug gegen Frankreich zugezogen hat. Während seines Dienstes bei der Schutztruppe sei er an Malaria, Tropenruhr, Schwarzwasserfieber, Psoriasis und Filarienkrankheit erkrankt gewesen, deren Folgen er während seines ganzen späteren Lebens gespürt habe.

In einer Bescheinigung vom 5. November 1942 hat das Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsamt Stettin dem Ehemann der Klägerin bescheinigt, daß er infolge Kriegsdienstbeschädigung in seiner Erwerbsfähigkeit um 60% gemindert ist. Der Rat der Landeshauptstadt Schwerin - Sozialamt - hat ihm am 10. Januar 1948 einen Schwerbeschädigtenausweis - für die Inanspruchnahme bestimmter Vergünstigungen - ausgestellt und darin zum Ausdruck gebracht, daß bei dem Beschädigten infolge "Chronischer Arthrosis deformans am rechten Fußknöchelgelenk, Leberinsuffizienz usw." eine Körperbeschädigung in einem Grade von 80% bestehe. Die Sozialversicherungsanstalt Schwerin hat ihm nach einem Rentenbescheid vom 8. November 1950 eine Kriegsinvalidenrente gezahlt.

Der Antrag der Klägerin vom 16. April 1951, ihr Hinterbliebenenrente zu gewähren, wurde im Verwaltungsverfahren abgelehnt. Klage und Berufung der Klägerin blieben erfolglos.

Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin hat das die Berufung der Klägerin zurückweisende Urteil vom 5. Oktober 1954 zunächst damit begründet, es habe nicht feststellen können, daß der Ehemann der Klägerin an einer Wehrdienstbeschädigung gestorben ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1 BVG). Es hat außerdem angenommen, daß die Klägerin nach § 58 Abs. 2 BVG ihren Versorgungsanspruch nur dann noch hätte anmelden können, wenn das Schilddrüsenleiden entweder als Schädigungsfolge anerkannt war oder mit einer anerkannten Schädigungsfolge in ursächlichem Zusammenhang stand. Das LSG. hat beide Fälle verneint. Es hat hierbei dem von der Klägerin vorgelegten schriftlichen Zeugnis des Prof. G. von B vom 20. Mai 1952, in dem die Ursächlichkeit zwischen dem Wehrdienst und der tödlich verlaufenen Schilddrüsenerkrankung im Sinne der Verschlimmerung bejaht wird, keine Bedeutung beigemessen; denn es war der Ansicht, Prof. von B gehe von der Annahme aus, das Schilddrüsenleiden sei als Schädigungsfolge anerkannt gewesen, während nach der Auffassung des LSG. ein solches Anerkenntnis nicht besteht. Nach den Feststellungen des LSG. waren als Schädigungsfolgen nur Arthrosis deformans des rechten Fußknöchels und Leberinsuffizienz anerkannt; keine dieser beiden Schädigungsfolgen habe das Schilddrüsenleiden verursacht. Das LSG. hat schließlich geprüft, ob etwa eine nach § 85 Satz 1 BVG rechtsverbindliche Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Schilddrüsenleiden und einer Schädigung vorliege. Es hat auch diese Frage, und zwar aus rechtlichen Erwägungen verneint.

Gegen das am 3. November 1954 zugestellte Urteil des LSG. Berlin, in dem die Revision nicht zugelassen worden war, hat die Klägerin am 26. November 1954 Revision eingelegt mit dem Antrag,

1. die angefochtenen Urteile sowie die ihnen zugrundeliegenden Bescheide des Versorgungsamts und Landesversorgungsamts Berlin aufzuheben,

2. den Beklagten zu verurteilen, dem Antrag der Klägerin auf Gewährung von Versorgung nach dem BVG stattzugeben, hilfsweise, die Sache an das LSG. zurückzuverweisen.

In der am 22. Dezember 1954 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Revisionsbegründung vom 20. Dezember 1954 beruft sich die Klägerin für die Statthaftigkeit der Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG. Sie greift die tatsächlichen Feststellungen des LSG., daß der Wehrdienst des Ehemannes der Klägerin für das tödliche Schilddrüsenleiden nicht ursächlich gewesen und daß dieses Leiden nicht als Schädigungsfolge anerkannt sei, als unrichtig an. Sie macht geltend, das LSG. habe sich mit dem Zeugnis des Prof. von B vom 20. Mai 1952 nicht auseinandergesetzt, obwohl er als einziger Arzt ihren Ehemann seit vielen Jahren behandelt und untersucht habe; nur er verfüge über die notwendige Kenntnis des Krankheitsbildes ihres Ehemannes. Sie beanstandet insbesondere die Ansicht des LSG., dieses Zeugnis gehe davon aus, daß das Schilddrüsenleiden schon als Versorgungsleiden anerkannt worden sei; Prof. von B spreche aber nur davon, daß die Verschlimmerung des Schilddrüsenleidens als Versorgungsleiden anerkannt werden müsse. Auf jeden Fall stünde nach der Revisionsbegründung das Schilddrüsenleiden mit Gesundheitsstörungen, die als Versorgungsleiden anerkannt waren, in ursächlichem Zusammenhang. Die Klägerin hält die Einholung eines ärztlichen Obergutachtens durch einen Universitätsprofessor für erforderlich.

Der Beklagte hat beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, da das angefochtene Urteil eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG nicht enthalte.

Die Revision der Klägerin ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist auch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, da die Klägerin einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat und dieser Mangel vorliegt.

Die Revisionsangriffe richten sich gegen die Feststellung des LSG., daß das tödliche Leiden weder auf den Wehrdienst ursächlich zurückzuführen noch als Schädigungsfolge anerkannt sei. Mit der Rüge, das LSG. habe dem Zeugnis des Prof. von B vom 20. Mai 1952 zu Unrecht keinen Beweiswert beigemessen, macht die Klägerin eine Verletzung der für die Beweiswürdigung maßgebenden Grundsätze geltend. Unerheblich hierbei ist, daß sie die verletzte Rechtsnorm nicht ausdrücklich bezeichnet hat. Es genügt, daß sich nach Lage des Falles aus den angeführten Tatsachen für das BSG. ohne weiteres ergibt, welche Rechtsnorm die Klägerin insoweit für verletzt ansieht (BSG. 1 S. 231).

Das Vorbringen der Klägerin, seine Richtigkeit unterstellt, ergibt auch, daß das LSG. die gesetzlichen Vorschriften über die Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) verletzt hat. Diese Vorschriften gewähren dem Tatrichter nicht uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit, sondern nur die Befugnis, innerhalb der Grenzen frei zu entscheiden, die ihm durch die Pflicht gezogen sind, alle Umstände sachgemäß abzuwägen (BSG. 1 S. 196 f.). Wenn, wie die Revision rügt, das LSG. dem Zeugnis des Prof. von B vom 20. Mai 1952 entnommen hat, der Arzt gehe davon aus, daß das Schilddrüsenleiden als Versorgungsleiden anerkannt war, obwohl der klare Wortlaut des Zeugnisses diese Annahme nicht zuläßt, so hat es den durch das schriftliche Zeugnis vermittelten klaren Inhalt der Erklärung seines Ausstellers nicht fehlerfrei in seine Vorstellung aufgenommen. Das LSG. hat aus seiner irrigen Auffassung des Erklärungsinhaltes den Schluß abgeleitet, daß dem Zeugnis kein Beweiswert zukomme. Dieser Grund ist daher nicht geeignet, die richterliche Überzeugung zu tragen. Da das LSG. die Würdigung des ärztlichen Zeugnisses auf einen offensichtlichen Irrtum über seinen klaren Inhalt stützte und damit von dem vorgeschriebenen Weg, bei der richterlichen Überzeugungsbildung alle Umstände sachgemäß abzuwägen, abgekommen ist, hat es die Grenzen überschritten, die seinem Recht der freien Beweiswürdigung gezogen sind.

Der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Es trifft nicht zu, daß das Zeugnis von der Annahme ausgeht, die Schilddrüsenerkrankung sei schon früher als Schädigungsfolge anerkannt worden. Das Zeugnis befaßt sich nur mit der Frage, ob die Schilddrüsenerkrankung durch den Wehrdienst verschlimmert worden ist. Um die Bejahung dieser Frage auszudrücken, schreibt Prof. von B: "Die Verschlimmerung des Schilddrüsenleidens muß als Versorgungsleiden anerkannt werden." Das LSG. hat daher auch seine Folgerung, dieses Zeugnis sei bedeutungslos, unter Verletzung des § 128 SGG gezogen. Dieser wesentliche Verfahrensmangel macht die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Die Revision der Klägerin ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensmangel (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG. anders entschieden hätte, wenn ihm die Rechtsverletzung bei der Beweiswürdigung nicht unterlaufen wäre. Die Möglichkeit einer anderen Entscheidung genügt für die Annahme der Ursächlichkeit (SozR. Nr. 29 zu § 162 SGG). Hätte das LSG. das Zeugnis des Prof. von B auf Grund seines wirklichen Inhalts sachgemäß gewürdigt, so ist nicht von der Hand zu weisen, daß das LSG. dem Zeugnis nicht jeden Beweiswert abgesprochen, sondern zu einer der Klägerin günstigen Beurteilung gelangt wäre, sei es auch, daß es zunächst nur weitere Ermittlungen darüber vorgenommen hätte, ob das Schilddrüsenleiden als Versorgungsleiden anerkannt war oder mit einem anerkannten Leiden zusammenhing. Möglicherweise wäre dann das LSG. auch dazu geführt worden, über den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst und dem Tod des Ehemannes der Klägerin weitere Aufklärung sich zu verschaffen. Das LSG. scheint selbst die Frage des ursächlichen Zusammenhangs für aufklärungsbedürftig gehalten zu haben; denn es hat hierüber ein fachärztliches Gutachten von Prof. Dr. F eingeholt, das am 8. Juni 1954 erstattet wurde. Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das Gutachten in dem Urteil des LSG. nicht gewürdigt und nicht einmal erwähnt wurde.

Die tatsächlichen Feststellungen des LSG., daß ein Anerkenntnis im Sinne des § 58 Abs. 2 BVG nicht vorliegt und daß der behauptete ursächliche Zusammenhang nicht besteht, binden den Senat nicht, da die gegen sie gerichteten Revisionsangriffe begründet sind (§ 163 SGG). Auf Feststellungen in dieser Richtung kommt es aber gerade an.

In welchem Umfange im einzelnen der Sachverhalt feststellungsbedürftig ist, ergibt sich aus den materiell-rechtlichen Vorschriften des BVG. Gesetzliche Grundlage des Anspruches auf Hinterbliebenenrente ist § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG i. V. m. § 58 Abs. 2 BVG, da die Klägerin die Gesundheitsstörung, die den Tod ihres Ehemannes herbeigeführt hat, auf eine Schädigung im Sinne des § 1 BVG stützt, die vor dem 1. September 1939 eingetreten ist. In diesem Fall ist die Anmeldung des Anspruchs nach § 58 Abs. 2 BVG nur zulässig, wenn die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt war oder mit einer anerkannten Gesundheitsstörung in ursächlichem Zusammenhang steht. Hieraus ergibt sich, daß § 58 Abs. 2 BVG die Voraussetzungen des Hinterbliebenenrentenanspruchs nicht vollständig regelt. Vielmehr knüpft er allein schon die Zulässigkeit der Anmeldung, die ein sachlich-rechtliches Erfordernis für das Entstehen des Rentenanspruches ist (SozR. Nr. 5 zu § 1 BVG), an besondere Voraussetzungen. Sie sind strenger als die Vorschriften über die Anmeldung von Ansprüchen aus Anlaß einer Schädigung, die erst nach Beginn des zweiten Weltkrieges eingetreten ist (§ 58 Abs. 1 BVG). Die rechtswirksame Anmeldung ist nur eines von mehreren Tatbestandsmerkmalen, an die der Anspruch auf Hinterbliebenenrente gebunden ist. Die weiteren Voraussetzungen, die zu einem fristgerechten und zulässigen Antrag hinzukommen müssen, sind in § 38 BVG geregelt. Sie sind erst dann zu prüfen, wenn feststeht, daß der Anspruch gemäß § 58 BVG rechtswirksam angemeldet ist. Die Befristung und Beschränkung der Zulässigkeit der Anmeldung wollen gerade verhindern, daß dann, wenn überhaupt keine Anerkennung eines Leidens vorlag, über den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Tod und einem zeitlich weit zurückliegenden Ereignis noch Ermittlungen angestellt werden müssen, die manchmal kaum mehr durchführbar sind.

Für den hier streitigen Anspruch kommt es hiernach zunächst darauf an, ob das Schilddrüsenleiden nach früherem Versorgungsrecht als Schädigungsfolge anerkannt war oder mit einer anerkannten Gesundheitsstörung ursächlich zusammenhing. Erst nach Bejahung einer dieser Fragen ist es weiterhin rechtserheblich, ob das tödliche Schilddrüsenleiden die Folge einer Schädigung im Sinne des § 38 BVG gewesen ist. Da gegen die Feststellungen des LSG., daß das Schilddrüsenleiden nicht als Schädigungsfolge anerkannt war und daß es mit dem Wehrdienst nicht ursächlich zusammenhing, begründete Revisionsgründe vorgebracht sind, können diese Feststellungen für das Revisionsgericht nicht Grundlage einer rechtlichen Beurteilung des streitigen Anspruchs sein. Der Senat konnte daher in der Sache selbst nicht entscheiden, sondern mußte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen die Sache an das Berufungsgericht zurückverweisen.

Die Entscheidung im Kostenpunkt bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324579

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