Orientierungssatz

1. Soweit auf Grund der dem AVG § 17 idF vom 1924-05-28 entsprechenden früheren Vorschrift (AVG § 14 aF) und auf Grund des RVO § 1242 aF oder der RVO §§ 174 und 1226 idF der Verordnung vom 1945-03-17 (RGBl 1 1945, 41) oder der diesen Vorschriften sinngemäß entsprechenden früheren Vorschriften auf Antrag des Arbeitgebers eine Freistellung von der Versicherungspflicht erfolgt ist, verbleibt es dabei auch nach Inkrafttreten des AnVNG und ArVNG, solange nicht die nach AVG § 6 Abs 2 nF und RVO § 1229 Abs 2 nF zuständigen Stellen die Freistellung widerrufen, weil ihre Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind (AnVNG Art 2 § 3, ArVNG Art 2 § 2).

2. Eine Freistellung von der Versicherungspflicht ist nur dann "erfolgt", wenn der Beschäftigte bereits vor Inkrafttreten des AnVNG und ArVNG angestellt bzw beschäftigt war und damit zugleich die Freistellung von der Versicherungspflicht bestand (vergleiche BSG 1964-02-18 11/1 RA 370/62 = BSGE 20, 202 und 1969-02-21 3 RK 37/66 SozR Nr 3 zu Art 2 § 2 ArVNG). Nur wenn ein konkretes Beschäftigungsverhältnis eines Angestellten oder Arbeiters vorliegt, kann eine allgemeine pauschale Freistellung die Befreiung von der Versicherungspflicht tatsächlich herbeiführen.

Der erkennende Senat legt die Übergangsvorschriften des AnVNG Art 2 § 3 und des ArVNG Art 2 § 2 ebenfalls in diesem Sinne aus (vergleiche auch BSG 1974-07-31 12 RK 1/73).

3. Der Begriff "erfolgte" Freistellung ist auf den einzelnen Beschäftigten, dessen Versicherungspflicht oder Befreiung von der Versicherungspflicht jeweils umstritten ist, bezogen.

 

Normenkette

AVG § 17 Fassung: 1924-05-28, § 14; RVO § 1242 Fassung: 1945-03-17, § 174 Fassung: 1945-03-17, § 1226 Fassung: 1945-03-17; AVG § 6 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1229 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 3 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. März 1973 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte als Einzugsstelle i.S. der §§ 1399 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), 121 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu Recht vom Kläger Beiträge zur Angestelltenversicherung (AV) und zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) für die Beigeladenen zu 1 bis 55 verlangt.

Der Kläger - das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg - hat die Rechtsform einer öffentlich-rechtlichen Stiftung und ist Mitglied des Bayerischen Versorgungsverbandes. Die Beigeladenen zu 1 bis 55 traten nach dem 28. Februar 1957 beim Kläger ihren Dienst als Beamte an. Die Beklagte forderte vom Kläger unter Berücksichtigung der Verjährungsvorschrift des § 29 RVO Beiträge vom 1. Januar 1966 an, und zwar zur AV bis zum 12. Januar 1967 und zur ArV bis zum 29. Dezember 1968, weil die nach dem 28. Februar 1957 in das Beamtenverhältnis übernommenen Bediensteten, die Beigeladenen Nrn. 1 bis 55, auf Grund der Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 18. Dezember 1967 - Nr. IV/2-7/142 676 - ab 13. Januar 1967 von der Angestelltenversicherungspflicht und sodann auf Grund der weiteren Ministerialentschließung vom 26. März 1969 - Nr. IV/2-7/317 - erst ab 30. Dezember 1968 auch von der Arbeiterrentenversicherungspflicht befreit worden seien. Die bisherige Freistellung von der Versicherungspflicht auf Grund des Gleichstellungsbeschlusses des früheren Bundesrates vom 16. Mai/26. Juli 1917 und des Gewährleistungsbescheides des Königlich-Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 7. April 1914 gelte nach Art. 2 § 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) bzw. nach Art. 2 § 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nur für Beschäftigte, die vor dem Inkrafttreten dieser Gesetze - 1. März 1957 - Beamte geworden seien (Bescheid vom 6. September 1968, Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1970). Während des erstinstanzlichen Verfahrens bezifferte die Beklagte mit dem weiteren Bescheid vom 2. Oktober 1970 die Höhe der geltend gemachten Beitragsnachforderung mit 98.533,04 DM.

Die Klage hatte in den voraufgehenden beiden Rechtszügen keinen Erfolg. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Nürnberg vom 21. Dezember 1970 zurückgewiesen und außerdem die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 1970 abgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 8. März 1973).

Das LSG hat u.a. ausgeführt, der Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 1970 sei gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Die Nachforderung der Beiträge sei unter Berücksichtigung der zutreffenden Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Februar 1964 (BSGE 20, 202) und vom 21. Februar 1969 (SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG) rechtens. Danach seien die Art. 2 § 3 AnVNG und 2 § 2 ArVNG so zu verstehen, daß die vor Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze erlassenen Gleichstellungsbeschlüsse und pauschalen Gewährleistungsbescheide die Freistellung von der Versicherungspflicht über den 1. März 1957 hinaus nur bei solchen Personen begründen könnten, die - anders als die Beigeladenen zu 1 bis 55 - schon vor diesem Zeitpunkt eingestellt worden seien. Da die Verjährung durch den ersten Bescheid der Beklagten vom 6. September 1968 unterbrochen worden sei, könne die Beklagte die der Höhe nach nicht streitigen Beiträge auch noch mit Erfolg geltend machen. Entgegen der Ansicht des Klägers sei die Forderung der Beiträge auch nicht deshalb verwirkt, weil die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in einem Schreiben vom 25. Juli 1957 gegenüber dem Ministerium des Innern des Landes Rheinland-Pfalz einen ihrer jetzigen Auffassung widersprechenden Standpunkt vertreten habe. Dies müsse schon deswegen gelten, weil nicht die BfA, sondern die Beklagte als Einzugsstelle über die Beitragspflicht in der AV und ArV zu entscheiden habe (§§ 121 Abs. 3 AVG, 1399 Abs. 3 RVO). Bei der Verwirkung handele es sich nur um Fälle des Rechtsmißbrauchs, die auf illoyaler Verzögerung der Rechtsausübung beruhten. Der bloße Zeitablauf könne deshalb den Rechtsverlust durch Verwirkung nicht herbeiführen (Hinweis auf BSGE 7,199; 16, 79). Die Beklagte habe gegenüber dem Kläger kein Verhalten an den Tag gelegt, das die spätere Beitragsnachforderung für den Kläger als unzumutbar erscheinen lasse.

Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er rügt Verletzung des Art. 2 § 3 AnVNG. Hilfsweise macht er geltend, die Beitragsforderung zur AV sei verwirkt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG und das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. September 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 1970 und den Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 1970 aufzuheben.

Die Beklagte und die beigeladene BfA beantragen,

Die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die beigeladene Landesversicherungsanstalt O und M sowie die Beigeladenen zu 1 bis 55 haben keinen Antrag gestellt.

Sämtliche Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die früheren Entschließungen, aus denen der Kläger die Fortgeltung mit der Folge der Freistellung von der Versicherungspflicht ableitet, sind für die Bediensteten des Klägers (Beigeladene Nrn. 1 bis 55) nicht wirksam geblieben.

In der AV und ArV sind der Gleichstellungsbeschluß des früheren Bundesrates vom 16. Mai/26. Juli 1917 und der Gewährleistungsbescheid des Königlich-Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 7. April 1914 keine Entscheidungen über die Befreiung von der Versicherungspflicht i.S. der §§ 8 Abs. 1 Sätze 3 und 5 AVG nF, 1231 Abs. 1 Sätze 3 und 5 RVO nF. Dies ergeben die übereinstimmenden Übergangsvorschriften in Art. 2 § 3 AnVNG für die AV und Art. 2 § 2 ArVNG für die ArV. Soweit auf Grund der dem § 17 AVG idF vom 28. Mai 1924 entsprechenden früheren Vorschrift (§ 14 AVG aF) und auf Grund des § 1242 RVO aF oder der §§ 174 und 1226 RVO idF der Verordnung vom 17. März 1945 (RGBl I 41) oder der diesen Vorschriften sinngemäß entsprechenden früheren Vorschriften auf Antrag des Arbeitgebers eine Freistellung von der Versicherungspflicht erfolgt ist, verbleibt es dabei auch nach Inkrafttreten des AnVNG und des ArVNG, solange nicht die nach §6 Abs. 2 AVG nF und § 1229 Abs. 2 RVO nF zuständigen Stellen die Freistellung widerrufen, weil ihre Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind (Art. 2 § 3 AnVNG, Art. 2 § 2 ArVNG). Nach der Auslegung dieser beiden Vorschriften in der Rechtsprechung des BSG (BSGE 20, 202 und SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG) ist eine Freistellung von der Versicherungspflicht nur dann "erfolgt", wenn der Beschäftigte bereits vor Inkrafttreten des AnVNG und ArVNG angestellt bzw. beschäftigt war und damit zugleich die Freistellung von der Versicherungspflicht bestand. Nur wenn ein konkretes Beschäftigungsverhältnis eines Angestellten oder Arbeiters vorliegt, kann eine allgemeine pauschale Freistellung die Befreiung von der Versicherungspflicht tatsächlich herbeiführen.

Der erkennende Senat legt die Übergangsvorschriften des Art. 2 § 3 AnVNG und des Art. 2 § 2 ArVNG ebenfalls in diesem Sinne aus (vgl. auch das Urteil des Senats vom 31. Juli 1974 - 12 RK 1/73 -). Die gegen die Rechtsprechung des BSG gerichteten Ausführungen des Klägers können zu keiner anderen Beurteilung führen.

Der Begriff "erfolgte" Freistellung ist auf den einzelnen Beschäftigten, dessen Versicherungspflicht oder Befreiung von der Versicherungspflicht jeweils umstritten ist, bezogen. Der Kläger hingegen versteht den Begriff nur aus der Sicht des Beschäftigungsgebers und sieht eine Freistellung schon dann als "erfolgt" an, wenn die zuständige oberste Verwaltungsbehörde die Gewährung der Anwartschaften usw. pauschal für bereits tätige und künftige Inhaber bestimmter Stellen ausgesprochen hat; er sieht zu Unrecht den Sinn des Art. 2 § 3 AnVNG und des Art. 2 § 2 ArVNG nur darin, den zuständigen Stellen den Widerruf früherer Freistellungen unter bestimmten Voraussetzungen zu ermöglichen.

Es entspricht dem Sinn und Zweck des neuen Rechts, daß die Voraussetzungen der Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 8 AVG nF und § 1231 RVO nF möglichst einheitlich Geltung für Beschäftigungsverhältnisse erlangen. Dies bedingt eine einschränkende Auslegung der Übergangsvorschrift, um ein Nebeneinander von versicherungsrechtlich verschieden zu behandelnden Beschäftigten nach Möglichkeit zu verhindern. Bei der Auslegung der Übergangsvorschrift sind auch die allgemeinen Grundsätze über die Verfassungsmäßigkeit von rückwirkenden Gesetzen heranzuziehen. Insbesondere ist die Unterscheidung zwischen in der Vergangenheit bereits abgeschlossenen und gegenwärtigen, noch nicht abgeschlossenen Sachverhalten von Bedeutung (echte und unechte Rückwirkung). Dem entspricht auch die Auslegung des Begriffs der "erfolgten" Freistellung dahingehend, daß die früheren Freistellungsbescheide nur in solchen Fällen weiterhin die Grundlage der Befreiung von der Versicherungspflicht bilden, in denen die Beschäftigten bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts angestellt worden sind und damit zugleich von der Versicherungspflicht freigestellt waren; d.h. nur in Fällen, in denen der rechtserhebliche Sachverhalt - der Eintritt der Befreiung von der Versicherungspflicht - in einem konkreten Beschäftigungsverhältnis bereits vor Inkrafttreten des AnVNG und des ArVNG abgeschlossen war, verbleibt es bei der Befreiung von der Versicherungspflicht. Insofern spielt es bei Beginn von Beschäftigungsverhältnissen nach Inkrafttreten des AnVNG und des ArVNG keine Rolle, ob der Arbeitgeber, der den früheren Freistellungsbescheid erhalten hat, zu dem nach § 8 AVG nF und § 1231 RVO nF begünstigten, gegenüber dem früheren Recht kleineren Kreis von Arbeitgebern gehört oder nicht.

Die Auffassung des Klägers, die Entscheidungen des BSG (BSGE 20, 202; SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG) kämen hier nicht zum Zuge, weil dort die Arbeitgeber nicht zu dem nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AVG und § 1231 Abs. 1 Satz 1 RVO nF begünstigten Kreis gehörten, trifft somit nicht zu. Die Bediensteten sind also nicht auf Grund des früheren Gleichstellungsbeschlusses und der früheren Gewährleistungsbescheide von der Versicherungspflicht in der AV und ArV befreit.

Da somit die Beitragsforderungen der Beklagten an sich dem Recht des AVG und der RVO entsprechen, ist das Vorbringen des Klägers zur Verwirkung von Bedeutung. Der Senat kann jedoch hierzu keine Entscheidung treffen. Dazu reichen die tatsächlichen Feststellungen nicht aus; denn das LSG hat nicht im einzelnen festgestellt, welche Handlungen die Beklagte gegenüber dem Kläger und der Kläger gegenüber der Beklagten im Hinblick auf die Beitragspflicht in den verschiedenen Versicherungszweigen vorgenommen haben. Wegen des bei Verwirkung bedeutsamen Zeitmoments sind zunächst Verjährung und Verwirkung voneinander abzugrenzen. Hinsichtlich der für eine Verwirkung notwendigen besonderen Umstände wird das LSG zu beachten haben, daß das Gesamtverhalten beider Beteiligter - des Klägers und der Beklagten - in gleicher Weise von Bedeutung und daher in allen Einzelheiten festzustellen und gegeneinander abzuwägen ist (vgl. Palandt, BGB, 33. Aufl., Anm. 9 zu § 242 BGB mit Hinweisen auf die Rechtsprechung; aus der Rechtsprechung des BSG vgl. zuletzt BSGE 34, 211; 35, 91, 94 95 mit Hinweisen auf weitere Entscheidungen).

Bei den insoweit noch zu treffenden Feststellungen wird das LSG sein besonderes Augenmerk darauf zu richten haben, wann und wie in den Zeiten vor den streitigen Zeiträumen die Beklagte und ihre Bediensteten, insbesondere ihre Prüfer, sei es bei Prüfungen, Gesprächen, Ferngesprächen oder sonstigen Anlässen, sich zur Frage der Freistellung von der Versicherungspflicht der Bediensteten des Klägers erklärt haben.

Aus diesen Gründen muß das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung über die Beitragsforderungen der Beklagten zu den Versicherungszweigen der AV und der ArV an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648737

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