Leitsatz (amtlich)
Das Urteil eines SG betrifft nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse iS des SGG § 148 Nr 3 aF, wenn es über einen nach dem BVG geltend gemachten Anspruch auf Gewährung der Pflegezulage (BVG § 35) entscheidet und die Versorgungsverwaltung vorher über einen Antrag auf Gewährung einer Pflegezulage lediglich nach früheren, vor dem Inkrafttreten des BVG geltenden Versorgungsgesetzen erkennbar entschieden hat. (Fortführung BSG 1957-12-12 10 RV 1035/55 = SozR Nr 17 zu § 148 SGG).
Normenkette
BVG § 35 Fassung: 1957-07-01; SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz in Mainz vom 9. November 1959 aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der im Jahre 1898 geborene Kläger bezieht wegen seiner im ersten Weltkrieg erlittenen, als Schädigungsfolgen anerkannten Verletzungen
"1. Verlust des linken Beines im mittleren Drittel des Oberschenkels,
2. Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenks bei erheblichen Gelenkdeformierungen bei Schädigung des Kniegelenkstreckapparates,
Stecksplitter reizlos in den Weichteilen der Kniebeugeseite eingekapselt,"
Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. seit dem Jahre 1919.
Am 20. Januar 1932 hatte der Kläger die Gewährung von Pflegezulage beantragt. Dieser Anspruch war durch Urteil des Bayerischen Landesversorgungsgerichts vom 5. Juni 1935 rechtskräftig verneint worden, da eine Hilflosigkeit im Sinne des § 31 des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) nicht vorliege.
Anläßlich der Wiedergewährung von Versorgungsbezügen nach Ende des zweiten Weltkrieges (Bescheid vom 24. Mai 1947), der Neufeststellung nach dem Landesversorgungsgesetz Rheinland-Pfalz (Bescheid vom 26. September 1949) und der Umanerkennung nach dem Bundesversorgungsgesetz - BVG - (Bescheid vom 31. Juli 1951) ist dem Kläger ausschließlich Beschädigtenrente nach den jeweils gültigen Vorschriften gewährt worden; Entscheidungen über die Gewährung oder Nichtgewährung von Pflegezulage sind in dieser Zeit nicht erfolgt.
Am 22. Juni 1954 beantragte der Kläger die Gewährung von Pflegezulage nach dem BVG unter Hinweis auf die Verwaltungsvorschriften zu § 35 BVG. Das Versorgungsamt (VersorgA) L lehnte nach Beiziehung eines orthopädischen Gutachtens mit Bescheid vom 30. Oktober 1954 den Anspruch ab, weil der Kläger nicht hilflos im Sinne des § 35 BVG sei. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt ( LandesversorgA ) Rheinland-Pfalz mit Bescheid vom 7. Februar 1955 zurück.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Speyer mit Urteil vom 22. Mai 1956 die angefochtenen Bescheide abgeändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger Pflegezulage nach Stufe I vom 1. Juni 1954 an zu gewähren, weil der Kläger durch seine Verletzungen stärker betroffen sei als viele Doppelamputierte, denen die Pflegezulage stets gewährt werde, er zudem ständig fremder Hilfe bedürfe.
Die hiergegen eingelegte Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 9. November 1959 als unzulässig verworfen und in den Gründen ausgeführt, es handele sich bei dem ablehnenden Bescheid vom 30. Oktober 1954 um eine Neufeststellung von Versorgungsbezügen wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse, so daß die Berufung gemäß § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen sei. Das VersorgA habe das Urteil des Bayerischen Landesversorgungsgerichts vom 5. Juni 1935 stillschweigend zum Gegenstand des Umanerkennungsbescheides vom 31. Juli 1951 gemacht, so daß der angefochtene Bescheid als Neufeststellung anzusehen und somit die Berufung ausgeschlossen sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses ihm am 23. Dezember 1959 zugestellte Urteil hat der Beklagte unter dem 9. Januar 1960 Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Rheinland-Pfalz vom 9. November 1959 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Mit der gleichzeitig vorgelegten Revisionsbegründung rügt der Beklagte die Verletzung des § 148 Nr. 3 SGG. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei dem angefochtenen Bescheid nicht um eine Neufeststellung, sondern um eine Erstfeststellung, da der Umanerkennungsbescheid als der hier allein maßgebende keine Entscheidung über die Gewährung oder Nichtgewährung von Pflegezulage enthalte, über diesen Anspruch vielmehr durch den angefochtenen Bescheid vom 30. Oktober 1954 erstmalig befunden worden sei. Die Berufung sei daher zulässig gewesen, so daß das LSG in der Sache selbst habe entscheiden müssen.
Der Kläger hat schriftsätzlich mitgeteilt, daß er Anträge nicht zu stellen und Erklärungen zur Sache nicht abzugeben habe.
Die Beteiligten haben sich gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist mithin zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Entgegen der Ansicht des LSG ist die Berufung des Beklagten gegen das die Pflegezulage zusprechende Urteil des SG nicht durch den hier in der Fassung vor dem Zweiten Änderungsgesetz zum SGG anwendbaren § 148 Nr. 3 SGG aF (BSG 8, 135; BSG SozR § 143 Bl. Da 2 Nr. 2 und 3) ausgeschlossen gewesen, so daß die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen und eine Sachentscheidung zu Unrecht nicht getroffen worden ist. Denn das mit der Berufung angefochtene Urteil des SG betrifft nicht eine Neufeststellung im Sinne dieser Vorschrift.
Eine Neufeststellung im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG aF setzt - ebenso wie des § 62 Abs. 1 BVG - begrifflich voraus, daß über den Anspruch, der Gegenstand der Entscheidung ist, bereits eine frühere Entscheidung vorliegt, die geeignet ist, eine Vergleichsgrundlage für die Prüfung der Frage abzugeben, ob sich die für die - frühere - Feststellung maßgebend gewesenen Verhältnisse geändert haben (vgl. BSG 3, 271, 273; 8, 97; BSG SozR SGG § 148 Bl. Da 5 Nr. 13 und Da 6 Nr. 17). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
Entgegen der Auffassung des LSG bietet zunächst der Bescheid vom 31. Juli 1951, durch den die Versorgungsbezüge des Klägers nach dem BVG umanerkannt worden sind, nicht eine solche Vergleichsgrundlage. Denn dieser Bescheid hat lediglich den Rentenanspruch des Klägers entsprechend den Vorschriften des BVG neu geregelt, eine Entscheidung über die Gewährung von Pflegezulage jedoch nicht getroffen. Wenn das LSG demgegenüber angenommen hat, die Umanerkennung habe auch die frühere Ablehnung der Pflegezulage durch das rechtskräftige Urteil des Bayerischen Landesversorgungsgerichts vom 5. Juni 1935 übernommen, so kann dem nicht gefolgt werden. Der Umanerkennungsbescheid selbst enthält nichts, was eine solche Deutung zulassen würde. Der Annahme einer stillschweigenden Übernahme der Ablehnung der Pflegezulage steht schon die im Versorgungsrecht seit jeher gebotene Schriftform von Bescheiden entgegen, so daß eine etwa von der Verwaltung gewollte stillschweigende diesbezügliche Regelung wegen Formmangels nichtig wäre (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 7. Aufl. S. 218 ff). Darüber hinaus bietet auch der Sachverhalt keinen Anlaß zu einer solchen Auslegung. Seit der Ablehnung seines Anspruchs auf Pflegezulage durch das Urteil des Bayerischen Landesversorgungsgerichts hat der Kläger die Gewährung von Pflegezulage bis zu dem der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Antrag nicht mehr begehrt. Demgemäß ist dem Kläger schon durch Bescheid vom 24. Mai 1947, durch den seine Versorgungsgebührnisse nach Beendigung des zweiten Weltkrieges erstmals wieder gewährt worden sind, eine Pflegezulage nicht zugesprochen worden, ohne daß er hiergegen einen Rechtsbehelf eingelegt oder dem sonstwie widersprochen hätte. Ein gleiches gilt für die Neufeststellung der Bezüge des Klägers nach dem Landesversorgungsgesetz Rheinland-Pfalz. Deshalb war für die Versorgungsverwaltung auch kein Anlaß gegeben, in dem Umanerkennungsbescheid vom 31. Juli 1951 über eine Leistung zu entscheiden, die der Kläger bis dahin nicht bezogen und erkennbar auch nicht beansprucht hatte. Unter solchen Umständen aber kann, wenn nicht außergewöhnliche Umstände eine andere Auslegung zwingend erfordern, der Verwaltung nicht unterstellt werden, sie habe über die Pflegezulage ablehnend entscheiden wollen; vielmehr ist in einem solchen Falle grundsätzlich davon auszugehen, daß eine dahingehende Entscheidung überhaupt nicht hat getroffen werden sollen, wie dies im übrigen der Rechtsprechung des BSG in solchen Fällen entspricht, in denen die Versorgungsverwaltung den im Vordruck für die Zubilligung von Pflegezulage vorgesehenen Raum mit einem Strich versehen hat (vgl. BSG 3, 271, 273).
Das Urteil des Bayerischen Landesversorgungsgerichts vom 5. Juni 1935 kann aber auch nicht unmittelbar als eine frühere Entscheidung gewertet werden, der gegenüber der angefochtene als Neufeststellung im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG aF anzusehen wäre. Diese Entscheidung könnte allenfalls auf tatsächlichem Gebiet geeignet sein, eine Vergleichsgrundlage dafür abzugeben, ob sich die damals für die Ablehnung maßgebend gewesenen Verhältnisse geändert haben; aus Rechtsgründen kann sie jedoch nicht herangezogen werden. Sie äußert für das jetzige Begehren des Klägers nach dem BVG keine Rechtswirkungen mehr und hat dadurch ihre Eignung als Vergleichsgrundlage verloren. Denn es ist davon auszugehen, daß das BVG das Recht der Kriegsopferversorgung auf eine völlig neue Rechtsgrundlage gestellt hat; daher sind die auf dem Boden früherer Rechtsquellen ergangenen Entscheidungen mit Inkrafttreten des BVG gegenstandslos und damit rechtlich wirkungslos geworden, soweit das BVG eine Weitergeltung während der Übergangszeit nicht ausdrücklich vorgeschrieben hat. Das ergibt sich einmal aus § 84 Abs. 2 BVG, mit dem die früheren Versorgungsgesetze ausdrücklich außer Kraft gesetzt worden sind, zum anderen im Wege des Umkehrschlusses aus § 85 BVG, wonach Entscheidungen nach den bisherigen gesetzlichen Vorschriften nur zur Frage des Ursachenzusammenhangs nach dem BVG rechtsverbindlich sind (vgl. BSG SozR BVG § 85 Bl. Ca 2 Nr. 4; BSG 11, 209, 210).
Haben aber die nach früherem Recht ergangenen Entscheidungen - mit Ausnahme der hier nicht einschlägigen, in § 85 BVG ausdrücklich anders geregelten Fälle - mit dem Inkrafttreten des BVG ihre rechtliche Wirkung auf das Versorgungsrechtsverhältnis des Berechtigten verloren und bestimmen sich die Ansprüche des Berechtigten nunmehr ausschließlich nach den Vorschriften des BVG, so können derartige frühere Entscheidungen als Vergleichsgrundlage für eine Neufeststellung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG und damit auch des § 148 Nr. 3 SGG aF nicht herangezogen werden. Vielmehr ist, wenn ein Bescheid über den - neu - geltend gemachten Anspruch nach dem BVG noch nicht ergangen ist, dieses Begehren unter Außerachtlassung der nach altem Recht ergangenen Entscheidungen ausschließlich nach den Vorschriften des BVG zu prüfen und zu bescheiden. Eine so ergehende Entscheidung ist dann aber nicht als Neufeststellung, sondern als "Erstfeststellung" - nämlich als Erstfeststellung nach neuem Recht - zu beurteilen, so daß in diesen Fällen die Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG aF nicht ausgeschlossen ist. Nur wenn über den geltend gemachten Anspruch bereits eine Entscheidung nach dem BVG vorliegt, die als Vergleichsgrundlage auch auf tatsächlichem Gebiet geeignet ist, können weitere diesbezügliche Bescheide als eine Neufeststellung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG bzw. des § 148 Nr. 3 SGG angesehen werden.
Da demnach das LSG die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 22. Mai 1956 infolge unzutreffender Anwendung der Vorschrift des § 148 Nr. 3 SGG aF zu Unrecht als unzulässig verworfen hat, unterliegt sein Urteil der Aufhebung. Der Senat vermochte jedoch in der Sache selbst nicht zu entscheiden, da das LSG die für eine abschließende Entscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen hat. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen