Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluß eines Rechtsmittels
Orientierungssatz
1. Zur Auslegung der Formulierung "eine Berufung findet nicht statt" im Gegensatz zu einer "nicht zulässigen Berufung".
2. Die Endgültigkeit eines erstinstanzlichen Urteils ist mit dem Rechtsstaatsgrundsatz (GG Art 20) und mit dem Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt (GG Art 19 Abs 4) vereinbar.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs. 6 S. 4 Fassung: 1976-06-14; SGG § 143 Fassung: 1953-09-03, § 150 Fassung: 1974-07-30; GG Art. 20, 19 Abs. 4 S. 1
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 31. Mai 1978 aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 24. Oktober 1977 als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger die Vergünstigung der unentgeltlichen Beförderung im Nachverkehr zusteht.
Die Versorgungsverwaltung stellte bei dem 1940 geborenen Kläger mehrere Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einer MdE um 100 vH sowie mehrere Vergünstigungen nach § 3 Abs 1 und 4 SchwbG fest (Bescheid vom 1. Juli 1977). Mit der Klage begehrt der Kläger, ihm eine erhebliche Gehbehinderung und die damit verbundene Vergünstigung für die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr zuzuerkennen. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage insoweit stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das LSG meint, die Berufung sei zwar gemäß § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG ausgeschlossen, wohl aber nach § 150 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Außerdem seien die gesundheitlichen Merkmale der Behinderung im Sinne des § 2 Abs 1 Nr 6 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr (UnBefG) nicht gegeben. Das LSG hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Er ist der Meinung, die Berufung sei nicht statthaft.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung des Beklagten als unzulässig zu verwerfen. Das LSG hat zu Unrecht in der Sache entschieden.
Streitgegenstand ist die nach § 3 Abs 4 SchwbG idF vom 29. April 1974 (Bundesgesetzblatt I 1005) und des Gesetzes vom 14. Juni 1976 (Bundesgesetzblatt I 1481) zu treffende Feststellung einer bestimmten Behinderung, die zur unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr nach dem UnBefG vom 27. August 1965 (Bundesgesetzblatt I 978) berechtigt. Das Begehren des Klägers geht letztlich dahin, einen Schwerbehindertenausweis für Körperbehinderte im Sinne des § 39 Abs 1 Nr 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) aF mit orangefarbenem Flächenaufdruck zu erhalten. Dieser berechtigt nach § 1 Abs 1 und § 2 Abs 1 Nr 6 UnBefG zur unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr. Die gesundheitlichen Feststellungen, die ua Voraussetzung für die fragliche Vergünstigung sind, müssen unanfechtbar getroffen worden sein (§ 3 Abs 5 SchwbG). Ob die Berufung hinsichtlich der vom SG getroffenen Feststellungen statthaft ist, hat das Revisionsgericht als Sachurteilsvoraussetzung bei einer zugelassenen Revision auch ohne Verfahrensrüge selbständig zu prüfen (BSGE 37, 177). Im übrigen stützt sich die Revision gerade hierauf.
Wie der erkennende Senat schon mehrfach entschieden hat (SozR 387O § 3 Nr 2; SozR 1500 § 161 Nr 23; SozSich 1979, 223, 224 und Urteil vom 5. Juli 1979 - 9 RVs 2/77) ist die Berufung, über deren Zulässigkeit hier zu entscheiden ist, nach § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG ausgeschlossen. Der erkennende Senat hat aus dem Wortlaut dieser Vorschrift "eine Berufung gegen Urteile der Sozialgerichte, die Feststellungen nach Abs 4 treffen, findet nicht statt" gefolgert, daß der weitere Rechtsweg abgeschnitten ist. Für diese Auffassung war ferner die Gegenüberstellung der hier in Betracht kommenden Gesetzesstelle mit den ihr vorangehenden Sätzen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes wichtig. Insoweit wird auf die Gründe der zitierten Urteile des Senats verwiesen.
Entgegen der Rechtsauffassung des LSG bedeutet auch nach dem üblichen juristischen Sprachgebrauch die Formulierung "eine Berufung findet nicht statt" den völligen Ausschluß des Rechtsmittels. Ansonsten wird es als an sich statthaft bezeichnet (zB § 143 SGG). Eine Berufung kann auch unter bestimmten Voraussetzungen "nicht zulässig sein", wie dies in den §§ 144 bis 149 SGG bestimmt ist. Dann ist die Berufung aber - vorausgesetzt, der Tatbestand des § 150 SGG liegt vor - statthaft. In solchen Fällen bezeichnet das Gesetz "die" Berufung als nicht zulässig. Im Unterschied dazu findet nach der hier maßgebenden Vorschrift "eine" Berufung unter keinen Umständen statt. Das bestätigt, daß beide Sprachanwendungen nicht dasselbe besagen wollen. Nach einer Regel der Gesetzgebungstechnik und Gesetzesauslegung trägt die Stetigkeit des Wortgebrauchs zur Erleichterung des Verständnisses bei. Eine andere Wortwahl legt den Schluß nahe, daß nicht das gleiche gemeint ist (Erler, Die Sprache des BGB, 1896, 13; Dölle, Vom Ziel der Rechtssprache, 1949, 59). Davon ist auch hier auszugehen.
Das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 (Bundesgesetzblatt I 989) ist am 1. Oktober 1979 in Kraft getreten (Artikel 10 Abs 1). Es ist auf den zugrundeliegenden Streitfall nicht anwendbar. Gleichwohl sind die in Artikel 1 Nr 3 des Gesetzes enthaltenen Vorschriften aufschlußreich. Danach werden in § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG die Worte "findet nicht statt" gestrichen und durch die Worte "ist nicht zulässig; § 150 SGG gilt entsprechend" ersetzt. Der nunmehr gewählte Wortgebrauch "nicht zulässig" sowie die entsprechende Anwendbarkeit des § 150 SGG bestätigt gerade die vom erkennenden Senat vertretene Rechtsansicht, daß der Wortwahl "nicht statthaft" und "unzulässig" eine unterschiedliche Bedeutung zukommt.
Das Verfassungsrecht steht nach der Entscheidung des erkennenden Senats vom 9. Mai 1979 - 9 RVs 15/78 - (SozSich 1979, 223, 224) der hier vertretenen Rechtsansicht nicht entgegen. Die Endgültigkeit eines erstinstanzlichen Urteils ist mit dem Rechtsstaatsgrundsatz (Artikel 20 des Grundgesetzes - GG -) und mit dem Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt (Artikel 19 Abs 4 GG) vereinbar (BVerfGE 19, 323, 327 f; 41, 23, 26; NJW 1979, 154, 155). Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe in dem oben genannten Urteil des erkennenden Senats verwiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen