Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines unanfechtbar gewordenen Ablehnungsbescheides
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Wiederauflebens des Versicherungsschutzes bei einer Unterbrechung des Weges von der Arbeitsstätte, wenn die Kreuzungsanlage erreicht ist, von welcher der Weg vom Ort der Tätigkeit abzweigt (Anschluß an BSG 30.8.1979 8a RU 96/78 = BSGE 49, 16 = SozR 2200 § 550 Nr 41).
Orientierungssatz
Im Rahmen von § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 ist die Rechtsanwendung wie bei einer ersten Entscheidung - also ohne Rücksicht auf die Unanfechtbarkeit des früher erteilten Bescheides - zu handhaben.
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs 1 S 1 Fassung: 1980-08-18; RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 27.10.1983; Aktenzeichen L 6 U 154/82) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 17.02.1982; Aktenzeichen S 11 U 37/81) |
Tatbestand
Die Beklagte wendet sich im Revisionsverfahren gegen ihre Verurteilung zur Zahlung von Verletztenrente durch das Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 27. Oktober 1983). Nach ihrer Überzeugung hat der Kläger am 20. Juli 1973 keinen Arbeitsunfall erlitten.
Er war seinerzeit als Lehrling beschäftigt und benutzte für den Weg zur Arbeitsstätte und zurück gewöhnlich ein Moped. Dabei hatte er auf dem Weg von dem Ort der Tätigkeit eine höhengleiche Kreuzungsanlage mit zwei durch Verkehrsinseln getrennten Rechtsabbiegespuren zu befahren. Am Unfalltag benutzte er auf dem Heimweg entgegen seiner Übung nicht die Fahrspur für Rechtsabbieger, sondern fuhr zur Erledigung privater Angelegenheiten über die Fahrspur für Linksabbieger stadteinwärts. Als er nach etwa fünf Minuten zurückkam und die Kreuzung bei dem Signal "grün" geradeaus überfahren wollte, wurde er von einem PKW angefahren. Dem Kläger mußte das linke Bein im Unterschenkel amputiert werden.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil der Kläger an der Unfallstelle seinen üblichen Heimweg vom Ort der Tätigkeit aus noch nicht wieder erreicht hatte (Bescheid vom 26. September 1974). Im sozialgerichtlichen Verfahren ist der Kläger aus denselben Gründen ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 8. Januar 1975 und des LSG vom 21. Juli 1975).
Der Träger der gesetzlichen Krankenkasse, bei welchem der Kläger im Unfallzeitpunkt versichert war und der im Berufungsverfahren als Beigeladener ebenfalls die Gewährung von Verletztenrente an den Kläger beantragt hatte, beantragte nach Bekanntwerden der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. August 1979 - 8a RU 96/78 - (BSGE 49, 16) mit Schreiben vom 5. September 1980 die Neufeststellung der Leistung gemäß § 627 Reichsversicherungsordnung (RVO). Nachdem seine Klage durch Urteil des SG vom 17. Februar 1982 abgewiesen worden war, nahm er die hiergegen eingelegte Berufung zurück.
Den Antrag des Klägers vom 8. Juni 1983 auf Rücknahme des Bescheides vom 26. September 1974 und Gewährung von Leistungen wegen der Folgen seines Unfalles am 20. Juli 1973 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 27. Juni 1983). Diesen Bescheid hat das LSG in dem nunmehr angefochtenen Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Rücknahme des Bescheides vom 26. September 1974 ab 1. Januar 1976 Verletztenrente zu gewähren. Der Kläger habe am Unfallort den öffentlichen Verkehrsraum wieder erreicht gehabt, den er für eine private Besorgung verlassen hatte. Zu ihm hätte die gesamte Kreuzungsanlage nebst Abbiegespuren gehört. Die Stelle, an welche der Kläger nach dem Zusammenstoß gerutscht sei, habe sich 18 bis 20 m von seinem üblichen Heimweg befunden. Hierauf komme es jedoch nicht an; denn Versicherungsschutz habe im gesamten Kreuzungsbereich bestanden. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Überzeugung hat der Kläger bei seinem Unfall am 20. Juli 1973 nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden, weil er den üblichen Heimweg noch nicht wieder erreicht hatte. Die Verkehrsregelung im Kreuzungsbereich hätte die Benutzung der durch eine Verkehrsinsel getrennten Rechtsabbiegerspur vorgeschrieben. Diese habe der Kläger gewöhnlich auch befahren. Der Unfall habe sich außerhalb des zulässigen Weges auf der Mitte der Kreuzungsanlage etwa 30 m vor Erreichen der üblichen Strecke ereignet. Damit sei die aus privaten Gründen vorgenommene Unterbrechung des Heimweges noch nicht beendet gewesen. Angesichts seines Antrages aus dem Jahre 1983 durfte dem Kläger die begehrte Leistung nach Meinung der Beklagten frühestens ab 1. Januar 1979 zugesprochen werden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Oktober 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Überzeugung verkennt die Beklagte, daß der Kläger auf dem gesamten Kreuzungsbereich gehörigen öffentlichen Verkehrsraum unfallversicherungsrechtlich geschützt war und nicht nur auf einer einzelnen Verkehrsspur. Eine solche Auslegung sei im Interesse der Rechtssicherheit erforderlich; die Entscheidung über den Versicherungsschutz dürfe nicht von dem zufälligen Abstand der Unfallstelle von der Einmündung der Rechtsabbiegerspur abhängen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nur insoweit begründet, als dem Kläger die begehrte Leistung erst ab 1. Januar 1979 zusteht. Im übrigen war sie zurückzuweisen, weil der Kläger am 20. Juli 1973 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß es keine unzulässige Klageänderung war, als die AOK im Berufungsverfahren entgegen ihrer ursprünglich erhobenen Klage auf Ersatzleistung später die Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung des Unfalles des Verletzten als Entschädigungsansprüche begründender Arbeitsunfall beantragt hat (BSGE 22, 240, 241). Das Berufungsgericht hat auch zu Recht diese kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage als zulässig erachtet, da im maßgebenden Zeitpunkt des Urteil des LSG (s BSGE 43, 1, 5; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 240q III; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 54 RdNr 32) ein Verwaltungsakt der Beklagten vorgelegen hat (s zum nachträglich ergangenen Widerspruchsbescheid ua BSG SozR 1500 § 78 Nrn 8, 16; BSGE 55, 250, 252). Die Berufung und die Revision des Verletzten als notwendigen Streitgenossen der AOK sind nicht deshalb unzulässig, weil die AOK nach Erlaß des Verwaltungsaktes ihre Berufung zurückgenommen hat. Das Urteil des Senats vom 30. Juli 1971 (SozR Nr 7 zu § 62 ZPO) betrifft den, wie der Senat hervorgehoben hat, besonderen, hier nicht gegebenen Fall, daß der Streitgenosse, der den Prozeß weiterführen will, vorher selbst durch Rücknahme seines Rechtsbehelfs erklärt hatte, den Prozeß nicht weiter zu betreiben.
Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist die Entscheidung der Beklagten in ihrem Bescheid vom 27. Juni 1983, ihren früher erteilten ablehnenden Bescheid vom 29. Juni 1974 nicht zurückzunehmen. Das LSG und die Verfahrensbeteiligten gehen zutreffend davon aus, daß die Entscheidung der Beklagten ebenso wie der Antrag des Klägers vom 8. Juni 1983 und sein Begehren im sozialgerichtlichen Verfahren auf § 44 Abs 1 und 4 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) beruhen. Nach Abs 1 dieser Vorschrift ist ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich ergibt, daß das Recht bei seinem Erlaß unrichtig angewandt worden ist und aus diesem Grunde Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Das LSG hat daher zutreffend geprüft, ob die Beklagte bei Erteilung des Bescheides vom 29. Juni 1974 das Recht richtig angewandt hat, ohne daß insoweit eine Begrenzung der Prüfungs-und Beurteilungsverpflichtung der Beklagten und der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gegeben ist (BSG SozR 1300 § 44 Nr 4; Brackmann aaO S 232e). Vielmehr ist im Rahmen von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X die Rechtsanwendung wie bei einer ersten Entscheidung - also ohne Rücksicht auf die Unanfechtbarkeit des früher erteilten Bescheides - zu handhaben. Infolgedessen hatte der Senat - ebenso wie das LSG - zu prüfen, ob der Kläger am 20. Juli 1973 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Dies hat das LSG zutreffend bejaht.
Nach § 550 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gilt ua ein Unfall auf einem mit dem Lehrverhältnis zusammenhängenden Weg von dem Ort der Tätigkeit als Arbeitsunfall. Auf einem solchen Weg befand der Kläger sich, als er am 20. Juli 1973 seinen Lehrbetrieb verließ, um nach Hause zu fahren. Mit Recht haben das LSG und die Beklagte den Umstand besonders gewürdigt, daß der Kläger den Weg zum Zwecke privater Verrichtungen verließ, so daß der Heimweg, auf welchem Versicherungsschutz bestand, unterbrochen wurde. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß zwar während der privaten Zwecken dienenden Unterbrechung kein Versicherungsschutz besteht, daß aber nach Beendigung der Unterbrechung Versicherungsschutz auf dem weiteren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit wieder gegeben ist (s ua BSG SozR 2200 § 550 Nr 12 mwN und Nr 42; s auch Brackmann aaO S 487a ff; zum Versicherungsschutz bei unerheblichen Unterbrechungen s BSG SozR 2200 § 550 Nr 53 mwN). Demzufolge hängt das Bestehen von Versicherungsschutz im vorliegenden Fall allein von der Beantwortung der Frage ab, ob der Kläger seinen Heimweg am Unfallort bereits wieder aufgenommen hatte. Das war der Fall.
Nach den Feststellungen des LSG befand der Kläger sich im Unfallzeitpunkt zwar noch nicht in demjenigen Bereich der Straße, den er gewöhnlich befuhr; die Einmündung der Rechtsabbiegerspur in die Groner Straße war nämlich noch nicht erreicht. Hierauf kommt es indes nicht an. Wie in der gesetzlichen Unfallversicherung schon immer entschieden worden ist, ist Versicherungsschutz nicht nur auf einer bestimmten Straßenseite gegeben, sondern es bleibt dem Versicherten vielmehr, ohne daß dies versicherungsrechtliche Auswirkungen hat, überlassen, in welchem Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes er sich bewegt (RVA EuM 30; 321; BSGE 20, 219, 221; 22, 7, 9; BSG SozR Nr 28 zu § 543 RVO aF; BSG SozR 2200 § 550 Nrn 20, 27 und 44; BSG BG 1965, 196, 197; 1967, 478, 479; BSG USK 72162; Brackmann aaO § 487c mwN). Demzufolge hängt der Versicherungsschutz im vorliegenden Fall nicht davon ab, daß sich der Unfall des Klägers nicht im Bereich der Abbiegespur bzw der Einmündung dieser Spur in die Groner Straße ereignete. Da der Versicherungsschutz hier nicht anders zu beurteilen ist als bei einem Fußgänger (BSGE 20, 219, 222; BSG USK aaO), ist allein rechtserheblich, ob der Unfall des Klägers sich in dem seinem Heimweg zuzurechnenden öffentlichen Verkehrsraum ereignet hat.
Die so erzielte örtliche Abgrenzung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit wird den unterschiedlichen Fallgestaltungen, mit denen die Rechtsprechung bisher befaßt worden ist, am ehesten gerecht. Sie ermöglicht andererseits eine klare Entscheidung über das Bestehen von Versicherungsschutz, ohne daß jeweils geprüft zu werden braucht, welche Motive dem Betreten oder Befahren des Unfallortes im Unfallzeitpunkt zugrunde gelegen haben. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen die Art der Verletzung oder der Tod des Versicherten die Aufklärung des subjektiven Sachverhalts ausschließt. Die Notwendigkeit, das Vorhandensein von Unfallversicherungsschutz so weit wie möglich anhand objektiver Maßstäbe festzustellen, ist in der Rechtsprechung häufig betont (BSG SozR 2200 § 550 Nr 12; BSG SGb 1977, 506 mit insoweit zustimmender Anmerkung von Wickenhagen) und von dem LSG Baden-Württemberg (Breithaupt 1964, 477, 478) insbesondere bezüglich der Begrenzung des öffentlichen Verkehrsraumes einer Kreuzungsanlage begründet worden (s auch Hessisches LSG Breithaupt 1979, 869). Demgegenüber ist nach der Überzeugung des Senats der Versuch der Revision, das Bestehen oder Nichtbestehen von Versicherungsschutz anhand von Ordnungsvorschriften abzugrenzen, untauglich. Die Frage, ob im Straßenbereich Versicherungsschutz besteht oder nicht, darf nicht aufgrund bestehender Verkehrsregeln entschieden werden, weil insbesondere § 548 Abs 3 RVO, wonach verbotswidriges Handeln die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht ausschließt, dem entgegensteht.
In der von der Revision kritisierten Entscheidung des BSG (BSGE 49, 16) ist entschieden worden, daß der geschützte öffentliche Verkehrsraum einer höhengleichen Kreuzungsanlage mit getrennten Abbiegespuren den Bereich der Eckausrundungen und Trichter umfaßt, so daß derjenige Versicherte, welcher in diesen Gesamtbereich der Kreuzungsanlage nach einer Unterbrechung des Weges von der Arbeitsstätte einfährt, wieder unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht, ohne Rücksicht darauf, ob er die gewöhnlich benutzte Fahrspur bereits erreicht hat. Diese Abgrenzung hält auch der erkennende Senat für sachgerecht (ebenso Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 550 Anm 17). Sie läuft nur scheinbar auf eine unnötige Ausdehnung des Versicherungsschutzes hinaus. In Wirklichkeit vermeidet sie infolge der verhältnismäßig einfachen Feststellbarkeit der objektiven Voraussetzungen für den Versicherungsschutz ungerechtfertigte Härten und stellt insbesondere Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer gleich. Es wäre schwer einzusehen, warum Fußgängern der so abgegrenzte Kreuzungsbereich ohne Verlust des Versicherungsschutzes zur Verfügung steht, anderen Versicherten dagegen nicht. Die Gebote der Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit gebieten vielmehr eine an objektiven Maßstäben orientierte Entscheidung im vorliegenden Fall.
Da der Kläger nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG auf der Kreuzung verunglückte, erlitt er demgemäß einen Arbeitsunfall. Sein auf die Zahlung einer Verletztenrente gerichtetes Begehren ist allerdings, worauf die Revision zutreffend hinweist, erst ab 1. Januar 1979 dem Grunde nach gerechtfertigt. Der angefochtene Bescheid vom 27. Juni 1983 erging aufgrund des Antrages des Klägers vom 8. Juni 1983, während das Begehren der Krankenkasse mit ihrer Berufungsrücknahme erledigt war. Nach § 44 Abs 4 Satz 3 SGB X hat die Beklagte die Verletztenrente für einen Zeitraum von vier Jahren vor der Antragstellung rückwirkend, gerechnet vom Beginn des Jahres an, zu zahlen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen