Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. sozialgerichtliches Verfahren. hinreichende Bestimmtheit des Klageantrags. Benennung der Bemessungstatsachen. Angabe einer Größenordnung der verlangten Entschädigung. Auslegung des Klagebegehrens. Höhe des eingezahlten Kostenvorschusses als Indiz. Vertretbarkeit einer gegenseitigen Kostenaufhebung trotz erheblichen Unterliegens
Leitsatz (amtlich)
Der Klageantrag einer Entschädigungsklage wegen unangemessener Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens ist nur dann hinreichend bestimmt, wenn er die für die Bemessung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen benennt und die Größenordnung der verlangten Entschädigung angibt.
Orientierungssatz
1. Bei der Auslegung des Klageantrags sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen, insbesondere der Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten (vgl BSG vom 22.3.1988 - 8/5a RKn 11/87 = BSGE 63, 93 = SozR 2200 § 205 Nr 65). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Kläger unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt, was ihm aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl etwa BSG vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 9).
2. Die Einzahlung eines Kostenvorschusses für einen Streitwert von 5000 Euro kann trotz Regelstreitwerthöhe darauf schließen lassen, dass der Kläger auch eine Entschädigungssumme von 5000 Euro begehrt, wenn Anhaltspunkte für eine gewollte Begrenzung des Kostenrisikos bestehen.
3. Die gegenseitige Kostenaufhebung kann im Einzelfall trotz eines nicht unerheblichen Unterliegens des Klägers (hier zu mehr als 3/4) als noch vertretbare Entscheidung nach § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 155 Abs 1 S 1 VwGO erscheinen.
Normenkette
GVG § 198 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2 Sätze 1, 3; SGG § 92 Abs. 1 Sätze 1, 3, §§ 123, 197a Abs. 1 S. 1 Teils 3; GKG § 52 Abs. 1; GKG 2004 § 52 Abs. 1; GKG § 52 Abs. 2; GKG 2004 § 52 Abs. 2; VwGO § 155 Abs. 1 S. 1; BGB § 133
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 1200 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Entschädigung immaterieller Nachteile wegen der Dauer eines gerichtlichen Verfahrens auf Übernahme der Kosten einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme (Kur) in Höhe von rund 4887 Euro.
Der Kläger erhob am 6.10.2005 vor dem SG Gießen Klage (S 6 KN 146/05 KR). Das Verfahren vor dem SG endete am 13.9.2010 nach einer Reihe medizinischer Ermittlungen mit einem klagabweisenden Urteil. Am 1.10.2010 legte der Kläger Berufung ein, die das LSG am 19.1.2012 mit Beschluss zurückwies (L 1 KR 284/10).
Ein Schreiben des Klägers vom 20.12.2011 im Berufungsverfahren wertete das LSG als Entschädigungsklage und gab die Sache an den Entschädigungssenat des Gerichts (Entschädigungsgericht) ab. Nach einem Schriftwechsel über die zu erwartenden Gerichtskosten entrichtete der Kläger einen Kostenvorschuss nach einem Streitwert von 5000 Euro. Zur Begründung seiner Klage trug er nach Schilderung des Verfahrensablaufs ua vor, das Verfahren habe allein in der ersten Instanz mehr als fünf Jahre unerledigt gelegen und dazu noch mehr als ein Jahr in der zweiten Instanz. Zu der vom Entschädigungsgericht anberaumten mündlichen Verhandlung ist der Kläger nicht erschienen. Das Entschädigungsgericht hat als sinngemäßen Klageantrag angenommen, der Kläger verlange eine angemessene Entschädigung in Geld für die Überlänge des Verfahrens vor dem SG, deren Höhe er in das Ermessen des Gerichts stelle. Es hat den Beklagten daraufhin verurteilt, an den Kläger wegen der überlangen Verfahrensdauer des vor dem SG geführten Verfahrens eine Entschädigung wegen immaterieller Nachteile in Höhe von 1200 Euro zu zahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe das Entschädigungsbegehren der Höhe nach nicht konkretisieren und insbesondere auch keinen Mindestbetrag benennen müssen. Soweit die Rechtsprechung der anderen Bundesgerichte für Entschädigungsklagen nach § 198 GVG zumindest die Angabe der Größenordnung der begehrten Entschädigung und der anspruchsbegründenden Tatsachen verlange, so sei dies unvertretenen Klägern in der Regel kaum möglich. Ein derartiges Substantiierungserfordernis widerspräche dem in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Grundsatz der Klägerfreundlichkeit. In der Sache seien 12 Monate der Inaktivität in der ersten Instanz zu verzeichnen, ohne dass dies durch eine besonders zügige Verfahrensführung in der Berufungsinstanz kompensiert worden sei, die ihrerseits sieben Monate der Inaktivität aufweise. Angesichts der wegen der erforderlichen medizinischen Ermittlungen leicht überdurchschnittlichen Schwierigkeit und der leicht unterdurchschnittlichen Bedeutung des Verfahrens seien die Monate der Inaktivität in der ersten Instanz mit dem gesetzlichen Regelsatz zu entschädigen (Urteil vom 26.10.2016).
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 92 SGG. Das Entschädigungsgericht hätte die Entschädigungsklage als unzulässig abweisen müssen, weil es an einem ausreichend bestimmten Klageantrag fehle. Zumindest die Größenordnung der begehrten Entschädigungssumme und den hierzu erforderlichen Tatsachenvortrag hätte der Kläger angeben müssen, wie in Anlehnung an die zivilgerichtliche Rechtsprechung zum Schmerzensgeld in der Entschädigungsrechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes anerkannt sei. Der Grundsatz der Klägerfreundlichkeit sei auf Sozialleistungen begrenzt und auf den Entschädigungsanspruch nicht übertragbar.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 2016 abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er beruft sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Der Kläger hat gegen den Beklagten nach § 198 Abs 1 S 1 GVG Anspruch auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer des Verfahrens vor dem SG Gießen (S 6 KN 146/05 KR) in der vom Entschädigungsgericht angenommenen Höhe von 1200 Euro.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des Entschädigungsgerichts vom 26.10.2016, soweit es dem Kläger diese Forderung zugesprochen hat.
Die Entschädigungsklage des Klägers ist zulässig (1) und zumindest im vom Entschädigungsgericht angenommenen Umfang begründet (2).
1. Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs 5 SGG ; s hierzu Senatsurteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R - BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9, RdNr 15 mwN) und auch sonst zulässig. Dem Vorbringen des Klägers lässt sich ein hinreichend bestimmter Klageantrag iS von § 92 Abs 1 S 3 SGG entnehmen. Entgegen der Ansicht der Revision genügt die Klage daher den Anforderungen des § 92 Abs 1 SGG.
Nach § 92 Abs 1 S 1 SGG muss die Klage den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen; nach S 3 der Vorschrift soll dafür jede Klage einen bestimmten Antrag enthalten. Dieser Antrag und die zu seiner Begründung angeführten Tatsachen bestimmen das Klagebegehren und damit den prozessualen Streitgegenstand (vgl Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 2/13 R - Juris RdNr 9 mwN). Davon hängen sowohl der Umfang der Rechtshängigkeit gemäß § 94 S 1 SGG ab, als auch nach § 141 Abs 1 SGG die spätere Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung (vgl Schütz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 141 RdNr 25 mwN).
In streitwertabhängigen Prozessen wie Entschädigungsklagen nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) richtet sich gemäß § 52 Abs 1 GKG zudem die Höhe der Gerichts- und Anwaltskosten unter Einschluss der gegnerischen Aufwendungen nach dem Klageantrag. Spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung muss daher hinreichend klar bestimmt sein, welches Ziel die Klage mit welcher tatsächlichen Begründung verfolgt (vgl BSG Urteil vom 23.2.2005 - B 6 KA 77/03 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 2 RdNr 15, 20). Aus diesem Bestimmtheitsgrundsatz folgt jedoch nicht, dass bei einer auf eine Geldleistung gerichteten Klage der geforderte Geldbetrag stets genau beziffert werden muss. Das BSG hat für Zahlungsklagen schon vor Inkrafttreten des ÜGG im Einklang mit der Rechtslage im zivil- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren genügen lassen, dass neben dem anspruchsbegründenden Sachverhalt zumindest die ungefähre Höhe des verlangten Geldbetrags angegeben wird (BSG Urteil vom 30.4.1986 - 2 RU 15/85 - BSGE 60, 87, 90 = SozR 1200 § 53 Nr 6 S 16; ebenso Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 92 SGG RdNr 12; Jaritz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 92 RdNr 48 mwN), so dass ausreichend Anhaltspunkte für ein hinreichend bestimmtes Klagebegehren erkennbar werden.
Für Klagen auf Geldentschädigung nach dem ÜGG wegen erlittener immaterieller Nachteile muss dies erst recht ausreichen gemessen daran, dass das Gesetz hierfür im Regelfall einen Pauschsatz vorsieht (§ 198 Abs 2 S 3 GVG) und der Tatrichter über die Höhe der Entschädigung unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls entscheidet (§ 198 Abs 2 S 4 GVG; Senatsurteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R -BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9, RdNr 37 f mwN; hierzu auch Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG RdNr 244). Will der Kläger einen vom Regelsatz abweichenden Entschädigungsbetrag oder den Regelbetrag nur als Mindestbetrag geltend machen, kann er sich darauf beschränken, einen unbezifferten Klageantrag zu stellen.Um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen, muss der Kläger einer Entschädigungsklage dann lediglich die für die Bemessung der Höhe des Anspruchs erforderlichen Tatsachen benennen und die Größenordnung der geltend gemachten Entschädigung (etwa einen Mindestbetrag) angeben. Der Senat stimmt in dieser Frage mit der Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes zu Entschädigungsklagen wegen überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren überein (BFH Urteil vom 2.12.2015 - X K 6/14 - Juris RdNr 19; BVerwG Urteil vom 26.2.2015 - 5 C 5/14 D - Juris RdNr 15; BGH Urteil vom 23.1.2014 - III ZR 37/13 - BGHZ 200, 20 RdNr 56).
Der Senat sieht sich auch mit Blick auf die Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht veranlasst, das Vorlageverfahren gemäß §§ 1, 2 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes einzuleiten (vgl Senatsurteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 22; Senatsurteil vom 15.12.2015 - B 10 ÜG 1/15 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 13 RdNr 16). Die Übereinstimmung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass in Entschädigungsverfahren vor den Sozialgerichten zusätzlich der Grundsatz der Meistbegünstigung gilt (s hierzu Senatsbeschluss vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 8/14 B - SozR 4-1720 § 198 Nr 8 RdNr 6 ff). Entgegen der Revision ist der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) in den einzelnen Verfahrensordnungen mit Rücksicht auf die verschiedenartige Regelungsmaterie der Ausgangsverfahren unterschiedlich ausgestaltet. Für Entschädigungsverfahren wegen unangemessener Dauer sozialgerichtlicher Verfahren ergibt sich dies aus dem unmissverständlichen Normbefehl zur Anwendung des SGG (§ 202 S 2 SGG).
Gemessen an diesen Grundsätzen verfehlt zwar der vom Entschädigungsgericht angenommene Antrag, der die Entschädigungssumme ohne Angabe einer Größenordnung vollständig in das Ermessen des Gerichts stellt, diese Voraussetzungen an einen hinreichend bestimmten Klageantrag für eine Entschädigungsklage nach §§ 198 ff GVG. Indes lässt sich ein solcher Antrag dem gesamten Vorbringen des Klägers im Entschädigungsverfahren sinngemäß noch durch Auslegung entnehmen.
Das Gericht entscheidet nach § 123 SGG über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung seiner Anträge gebunden zu sein. Das Gewollte, also das mit der Klage verfolgte Prozessziel, ist im Wege der Auslegung festzustellen (vgl BSG Urteil vom 8.12.2010 - B 6 KA 38/09 R - Juris RdNr 17 f; BSG Urteil vom 22.3.1988 - 8/5a RKn 11/87 - BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 180). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 BGB ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen, insbesondere der Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten (vgl BSG Urteil vom 22.3.1988 - 8/5a RKn 11/87 - aaO). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Kläger unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt, was ihm aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl etwa BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16). Eine solche Auslegung dient damit zugleich der Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl dazu BVerfG Plenum Beschluss vom 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02 -; BVerfGE 107, 395, 401 ff = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1, RdNr 5 ff). Diese Auslegung hat das Revisionsgericht vorzunehmen, ohne an die von den Tatsachengerichten vorgenommene Auslegung oder die dafür herangezogenen Feststellungen gebunden zu sein (BSG Urteil vom 14.6.2018 - B 9 SB 2/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 4 RdNr 12 mwN).
Wie die Auslegung im Fall des Klägers ergibt, war sein Klageziel auf eine Geldentschädigung in Höhe von 5000 Euro gerichtet. Seine schriftlichen Äußerungen im Entschädigungsverfahren genügen im Gesamtzusammenhang noch den Anforderungen an eine entsprechend genaue Angabe der Entschädigungssumme auf Grundlage der zu ihrer Bemessung erforderlichen Tatsachen. Die erforderliche Größenordnung der Entschädigungssumme lässt sich bereits der Klagebegründung vom 8.4.2013 entnehmen, in der der Kläger die Verfahrensdauer sowohl der ersten Instanz mit mehr als fünf Jahren als auch die der zweiten Instanz mit nochmals mehr als einem Jahr beanstandet hatte. In seinen Schreiben vom 6.11.2013 und 22.4.2014 hatte er angesichts weiterer von ihm als überlang angesehener Verfahren (vgl Aussetzungsbeschluss des Entschädigungsgerichts vom 2.5.2013) sein Begehren schließlich dahin präzisiert, dass sein Entschädigungsantrag sich nur auf das erst- und zweitinstanzliche Verfahren, zuletzt unter L 1 KR 284/10, beziehe, mithin auf die gesamte Verfahrensdauer von insgesamt 74 Kalendermonaten (vgl hierzu Senatsurteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R - BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9, RdNr 34). Gleichzeitig lassen die aktenkundigen Umstände des vom Kläger gezahlten Kostenvorschusses für eine Entschädigungssumme in Höhe von 5000 Euro erkennen, dass er eine darüber hinausgehende Entschädigungssumme im Blick hatte, es ihm aber wegen seiner angespannten wirtschaftlichen Verhältnisse um eine Begrenzung des Kostenrisikos ging. Gemessen an der zwischenzeitlich ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung, an der der Kläger sein Begehren von Anfang an ausdrücklich ebenfalls ausgerichtet sehen wollte, und der danach in Rechnung zu stellenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit (vgl ua Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 43 ff) und der nur ausnahmsweise gegebenen Möglichkeit einer Abweichung vom Pauschsatz (Senatsurteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R - BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9, RdNr 37 ff) stellte sich der Kläger demzufolge nach den erkennbaren Gesamtumständen zuletzt einen Entschädigungsanspruch ungefähr in Höhe von 5000 Euro vor. Dass dieser Betrag dem von der Vorinstanz angenommenen Regelstreitwert bei Fehlen genügender Anhaltspunkte im Sach- und Streitstand (§ 52 Abs 2 GKG) entspricht, ist für die Auslegung des Klagebegehrens durch das Revisionsgericht ohne Bedeutung. Auch das Entschädigungsgericht ist im Übrigen in seinem Urteil davon ausgegangen, der Kläger verlange mehr als die zugesprochene Entschädigung in Höhe von 1200 Euro, weshalb es die Entschädigungsklage teilweise als unbegründet abgewiesen hat.
2. Die Entschädigungsklage war in der vom Entschädigungsgericht zugesprochenen Höhe begründet, was der Beklagte in der Sache zu Recht nicht bestreitet. Der Kläger hat nach § 198 Abs 1 S 1 GVG Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 1200 Euro wegen immaterieller Nachteile durch die unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens vor dem SG.
Nach § 198 Abs 1 S 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Einer Verzögerungsrüge bedurfte es insoweit nach § 198 Abs 3 GVG iVm Art 23 S 4 ÜGG ausnahmsweise nicht.
Das Ausgangsverfahren vor dem SG hat nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts mindestens 12 Monate zu lange gedauert. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs 1 S 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten, des Ausgangsgerichts und Dritter (vgl hierzu ausführlich Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 3 RdNr 28 ff mwN). Das Entschädigungsgericht hat insoweit in Ausfüllung seines weiten tatrichterlichen Beurteilungsspielraums (Senatsurteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 9 RdNr 25 mwN) in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise eine leicht überdurchschnittliche Schwierigkeit und eine leicht unterdurchschnittliche Bedeutung des Verfahrens angenommen. Auch angesichts der regelmäßig anzunehmenden 12-monatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit je Instanz (vgl Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 3 RdNr 45 ff mwN) durfte es aufgrund seiner nicht zu beanstandenden Beurteilung der Prozessleitung einerseits des SG als Ausgangsgericht und andererseits des prozessualen Handelns des Klägers im dort geführten Verfahren von einer entschädigungspflichtigen Untätigkeit des SG von zumindest 12 Monaten ausgehen, die nicht durch eine besonders zügige Verfahrensweise der Berufungsinstanz kompensiert worden ist. Für den als Folge dieser Verzögerung nach § 198 Abs 2 S 1 GVG vermuteten immateriellen Nachteil hat das Entschädigungsgericht dem Kläger zu Recht eine Entschädigung in der Regelhöhe des § 198 Abs 2 S 3 GVG von 1200 Euro für das Jahr der Verzögerung zugesprochen. Nach den von ihm festgestellten Umständen des Einzelfalls war nicht ausnahmsweise eine ausreichende Wiedergutmachung in anderer Weise möglich und erschien eine Entschädigung in Höhe des Regelbetrags nicht unbillig (§ 198 Abs 2 S 2 und 4 GVG; vgl Senatsurteil vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1, RdNr 44 ff mwN). Schließlich hat das Entschädigungsgericht dem Kläger auch zutreffend Prozesszinsen für seinen Entschädigungsanspruch zugestanden (vgl Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 54 mwN).
Der Senat hat nicht zu entscheiden, ob dem Kläger sogar eine noch höhere Entschädigung zugestanden hätte, weil das Entschädigungsgericht weitere Zeiten der Inaktivität im erst- und zweitinstanzlichen Ausgangsverfahren zu berücksichtigen gehabt hätte. Revision hat allein der Beklagte eingelegt.
3. Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren ergibt sich aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO und dem Umstand, dass der Beklagte mit seinem Rechtsmittel vollständig unterlegen ist. Der Senat sieht von einer grundsätzlich zulässigen (Senatsurteil vom 10.9.1987 - 10 RAr 10/86 - BSGE 62, 131 = SozR 4100 § 141b Nr 40 Juris, RdNr 19 mwN) Änderung der Kostenentscheidung des Entschädigungsgerichts ab. Die gegenseitige Kostenaufhebung erscheint trotz des nicht unerheblichen Unterliegens des Klägers als noch vertretbare Entscheidung nach § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 155 Abs 1 S 1 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 47 Abs 1 S 1 GKG. Der Streitwert ergibt sich aus der Entschädigungssumme, die das LSG dem Kläger zugesprochen hat und gegen die sich die Revision des Beklagten richtet.
Fundstellen
NZS 2019, 588 |
SGb 2019, 163 |
Breith. 2019, 796 |