Leitsatz (amtlich)

Zur Frage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bei verzögerlicher Behandlung eines Antrags auf Weitergewährung einer Zeitrente (Fortführung von BSG 30.10.1985 5b RJ 86/84).

 

Normenkette

SGB 1 § 2 Abs 2; RKG § 40a Abs 2; RVO § 1241d Abs 2; RKG § 72 Abs 3; RVO § 1276 Abs 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.12.1983; Aktenzeichen L 2 Kn 183/81)

SG Duisburg (Entscheidung vom 28.10.1981; Aktenzeichen S 4 Kn 41/81)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten Bergmannsrente gemäß § 45 Abs 1 Nr 1 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) für die Zeit vom 1. Januar 1980 bis 1. Juli 1980.

Der 1937 in der Türkei geborene Kläger arbeitete seit Ende 1961 im deutschen Bergbau als Hauer. Am 26. Juli 1978 erlitt er bei einem Verkehrsunfall in der Türkei schwere Wirbelsäulenverletzungen. Seitdem ist er als Bandreiniger unter Tage eingesetzt. Für die Zeit vom 26. Juli 1978 bis 31. Dezember 1979 gewährte ihm die Beklagte Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit auf Zeit (Bescheid vom 28. August 1979). Am 6. September 1979 beantragte der Kläger die Weitergewährung der Bergmannsrente. Die Beklagte veranlaßte daraufhin eine weitere Untersuchung des Klägers durch Ärzte ihres sozialmedizinischen Dienstes. Diese kamen in ihrem Gutachten vom Januar 1980 zu dem Ergebnis, daß der Kläger auch für weitere zwei Jahre nur leichteste Hilfsarbeiten verrichten könne. Vom 27. Mai 1980 bis 24. Juni 1980 (mit anschließender Schonzeit bis 1. Juli 1980) unterzog sich der Kläger einem Heilverfahren. Er erhielt Übergangsgeld, das jedoch teilweise mit Arbeitsentgelt und Krankengeld verrechnet wurde. Die Beklagte gewährte dem Kläger die Bergmannsrente auf Zeit bis zum 31. Dezember 1980 weiter. Sie zahlte ihm die Rente aber erst ab 2. Juli 1980 (Ende des Heilverfahrens), weil sowohl für die Dauer des Heilverfahrens wie für die Zeit davor Übergangsgeld anstelle der Rente zu gewähren sei (Bescheid vom 4. November 1980; Widerspruchsbescheid vom 4. März 1981).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die streitige Zeit die Bergmannsrente weiterzugewähren (Urteil vom 28. Oktober 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 8. Dezember 1983 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Nach § 40d Abs 2 RKG sei die Rente neben dem Übergangsgeld zu gewähren, wenn sie schon vor Beginn der Rehabilitation bewilligt worden sei. Das sei hier der Fall. Denn obwohl der Bescheid, der die Rente ab 1. Januar 1980 weitergewährt habe, erst im November 1980 ergangen sei, habe es sich doch um eine Fortgewährung der bisher schon bewilligten Rente gehandelt.

Die Beklagte rügt mit der vom LSG zugelassenen Revision eine Verletzung der §§ 40d, 72 RKG. Da die Zeitrente am 31. Dezember 1979 weggefallen sei, sei im Frühjahr 1980, als der Kläger in das Heilverfahren eingetreten sei, keine Rente bewilligt gewesen. Erst nachträglich sei eine Rente bewilligt worden.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 28. Oktober 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat das die Beklagte zur Zahlung der Bergmannsrente auch für die Zeit vom 1. Januar bis 1. Juli 1980 verpflichtende Urteil des SG im Ergebnis zu Recht bestätigt. Dabei kann offen bleiben, ob die Verurteilung der Beklagten mit der vom LSG vertretenen Rechtsauffassung begründet werden kann. Unter Beachtung der von der Revision nicht angegriffenen und damit für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts besteht die im angefochtenen Urteil ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten zur Rentenzahlung im streitigen Zeitraum jedenfalls aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs des Klägers.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 21. Februar 1980 in SozR 2200 § 313 Nr 6 mwN und Urteil des 5b Senats vom 30. Oktober 1985 - 5b RJ 86/84 -) entschieden, daß aus dem zwischen Versicherten und Versicherungsträger bestehenden Sozialrechtsverhältnis den Versicherungsträger als Nebenpflicht eine Betreuungspflicht trifft. Er hat den Versicherten mit dem Ziel verständnisvoll zu fördern, dessen soziale Rechte möglichst weitgehend zu verwirklichen (vgl Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil - SGB 1 - § 2 Abs 2). Dieser Verpflichtung des Versicherungsträgers entspricht im Falle der Verletzung der Betreuungspflicht der Anspruch des Versicherten, sozialversicherungsrechtlich so gestellt zu werden, wie er bei ordnungsgemäßer Betreuung stehen würde. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist durch die Bestimmungen des SGB nicht beseitigt worden. Darin ist zwar neben der bereits erwähnten Zielvorgabe des § 2 Abs 2 SGB 1 und der Verpflichtung der Leistungsträger zur Aufklärung und Beratung (SGB 1 §§ 13 und 14) der von ihnen Betreuten keine Regelung der Rechtsfolgen einer Verletzung dieser Pflichten enthalten. Der Gesetzgeber hat vielmehr in Kenntnis der Rechtsprechung des BSG diesen Bereich unberührt gelassen und damit die ihm bekannte Rechtsprechung gebilligt.

Nach den Feststellungen des LSG ist hier eine Verletzung der Beklagten gegenüber dem Kläger obliegenden Betreuungspflicht gegeben. Danach ist dem Kläger die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zunächst bis zum 31. Dezember 1979 gewährt worden, weil er nach den von der Beklagten gehörten Gutachtern aufgrund der bei einem Verkehrsunfall am 26. Juli 1978 erlittenen schweren Wirbelsäulenverletzungen zumindest vorübergehend nur noch leichteste Hilfsarbeiten verrichten könne. Nach den weiteren Feststellungen des LSG hat der Kläger bereits vor Ablauf der ihm gewährten Zeitrente am 6. September 1979 die Weitergewährung der Bergmannsrente beantragt. Unabhängig davon hatte die Beklagte im ersten Rentenbescheid vom 28. August 1979 vermerkt, daß eine Nachuntersuchung des Klägers vor dem Rentenablauf vorgesehen sei. Die von der Beklagten sodann veranlaßte Untersuchung führte zu dem Gutachten der Ärzte des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten vom Januar 1980, in welchem diese zu dem Ergebnis kamen, daß der Kläger auch für weitere zwei Jahre nur leichteste Hilfsarbeiten verrichten könne. Damit stand bereits im Januar 1980 fest, daß die Voraussetzungen für die "nahtlose" Weitergewährung der bisherigen Rente gegeben waren. Gleichwohl hat die Beklagte dies erst elf Monate später mit Bescheid vom 4. November 1980 - abgesandt am 24. November 1980 - ausgesprochen mit der Folge, daß das in der Zeit vom 27. Mai bis 24. Juni 1980 durchgeführte Heilverfahren zeitlich vor der - rückwirkenden - Weiterbewilligung der Rente lag. Diese verzögerliche Behandlung des Rentenantrags des Klägers vom 6. September 1979 muß als pflichtwidrige Säumigkeit der Beklagten gewertet werden (vgl hierzu auch das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des 5b Senats vom 30. Oktober 1985 aaO). Dies gilt um so mehr, als das zwischengeschaltete Heilverfahren nach den weiteren Feststellungen des LSG wegen eines seit vielen Jahren beim Kläger bestehenden rezidivierenden Magenleidens und damit nicht wegen der zur Rentenleistung führenden Unfallfolgen gewährt worden ist.

Bei pflichtgemäßem Verwaltungshandeln hätte demnach der Bescheid über die Weitergewährung der Rente über den 31. Dezember 1979 hinaus jedenfalls vor Beginn des Heilverfahrens ergehen können und zur möglichst weitgehenden Verwirklichung der sozialen Rechte iS des § 2 Abs 2 SGB 1 auch müssen, weil dann eine durch die grundsätzliche Vorrangigkeit des Übergangsgelds gegenüber der Rente bedingte Schlechterstellung des Klägers gemäß § 40d Abs 2 RKG nicht eingetreten wäre. Nach dieser Vorschrift besteht der Anspruch auf Bergmannsrente nach § 45 Abs 1 Nr 1 RKG neben dem Anspruch auf Übergangsgeld, wenn die Rente vor Beginn der Rehabilitation bewilligt war.

Der Kläger hat somit gegen die Beklagte einen Anspruch auf Herstellung eines dahingehenden, der pflichtgemäßen Behandlung seines Rentenweitergewährungsantrages entsprechenden Zustandes. Sein Begehren auf Zahlung der Bergmannsrente auch für die Zeit vom 1. Januar bis 1. Juli 1980 ist danach begründet.

Da die Vorinstanzen im Ergebnis in gleicher Weise entschieden haben, ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663868

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