Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Neufeststellung einer Dauerrente wegen wesentlicher Änderung iS einer Besserung genügt der bloße Hinweis auf den Zeitablauf nicht.
2. Werden zur Begründung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse iS des RVO § 622 Abs 1 Erfahrungssätze der medizinischen Wissenschaft herangezogen, so müssen konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben sein, daß sich die medizinischen Erfahrungssätze im konkreten Fall bewahrheitet haben. Der bloße Hinweis auf den Zeitablauf genügt für den Nachweis einer wesentlichen Besserung nicht.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Oktober 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin erlitt am 29. Januar 1964 bei ihrer Tätigkeit als landwirtschaftliche Arbeiterin einen Unfall und zog sich dabei einen Schläfenbeinbruch, eine Gehirnerschütterung und einen Kniegelenkserguß links zu. Der Facharzt für Neurologie Dr. E untersuchte die Klägerin am 16. August 1965 und stellte bei ihr als Unfallfolgen noch Kopfschmerzen mit gelegentlichen Schwindelanfällen und Übelkeit sowie eine Merk- und Konzentrationsschwäche fest. Er kam zu dem Ergebnis, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei dadurch um 20 v. H. gemindert. Die Beklagte gewährte daraufhin der Klägerin mit Bescheid vom 1. Oktober 1965 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. und stellte als Unfallfolgen "postcommotionelle Beschwerden" fest.
Am 24. Januar 1967 ließ die Beklagte die Klägerin nachuntersuchen. Der Facharzt Dr. E kam dabei zu dem Ergebnis, bei einem Vergleich der früheren mit den jetzigen Beschwerden ergebe sich eine Besserung; die postcommotionellen Beschwerden seien wesentlich zurückgegangen. Es sei eine Besserung durch Gewöhnung anzunehmen, und die MdE betrage 10 v. H. Daraufhin entzog die Beklagte mit Bescheid vom 21. März 1967 die Dauerrente.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 9. September 1969 den Entziehungsbescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin auch weiterhin die Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren. Das SG hat sich dabei auf ein von ihm eingeholtes Gutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. E vom 25. September 1968 gestützt. Diese Sachverständige hatte erklärt, es lasse sich eine Änderung der Verhältnisse nicht objektivieren. Es seien nur subjektive Beschwerden bei der Bewilligung der Dauerrente anerkannt worden, die sich inzwischen nicht gebessert hätten. Ein objektiver Änderungsnachweis sei auch nicht zu erwarten gewesen, weil der Befund schon bei der Feststellung der ersten Dauerrente praktisch normal gewesen sei.
Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 8. Oktober 1970 zurückgewiesen. Es hat dazu ausgeführt: Eine wesentliche Änderung der bei der Bewilligung der Dauerrente maßgebend gewesenen Verhältnisse i. S. des § 622 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nicht festzustellen. Eine solche Änderung müsse entgegen der Auffassung der Beklagten objektiv bewiesen werden. Der Hinweis auf ein allgemeines ärztliches Erfahrungsgut, auf einen sogenannten typischen Geschehensablauf oder auf eine empirisch gesicherte rückläufige Tendenz bestimmter Gesundheitsschädigungen könne für eine Anwendung des § 622 RVO nicht genügen, weil die auf solchen allgemeinen Erwägungen beruhenden Beurteilungen keine Feststellungen seien, wie sie das Gesetz verlange. Sie seien vielmehr nur Annahmen, die keineswegs auf jeden Einzelfall zutreffen müßten. Ebensowenig lasse sich eine Änderung i. S. des § 622 RVO mit dem Hinweis auf eine zwischenzeitlich eingetretene Anpassung und Gewöhnung begründen, wie sie der von der Beklagten gehörte Arzt Dr. E offenbar angenommen habe. Konkrete Anhaltspunkte für eine Gewöhnung müßten objektiv vorliegen. Solche seien hier aber gerade nicht ersichtlich.
Gegen das Urteil des LSG hat die Beklagte - die vom Berufungsgericht zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung des § 622 RVO und führt dazu aus: Der Wortlaut des § 622 RVO gebe nichts dafür her, daß der Nachweis für eine Veränderung eines Krankheitszustandes nur in der vom Berufungsgericht geforderten strengen Form durchgeführt werden müsse. Wo Gesundheitsschäden vorlägen, die sich nur im subjektiven Bereich auswirkten und daher nach dem jetzigen Stand der ärztlichen Wissenschaft im Einzelfall für den ärztlichen Sachverständigen nicht konkret erkennbar oder gar meßbar seien, müsse es genügen, wenn für die Beurteilung des Rückganges solcher postcommotioneller Beschwerden auf empirisch gesicherte ärztliche Erfahrung zurückgegriffen werde. Wenn nämlich beim Vorliegen solcher Beschwerden der Versicherungsträger zur Entschädigung verpflichtet sei, müsse dieser andererseits auch berechtigt sein, die Entschädigung beim nachträglichen Wegfall zu entziehen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die zugelassene Revision der Beklagten ist unbegründet. Der Klägerin ist die mit Bescheid vom 1. Oktober 1965 nach einer MdE von 20 v. H. gewährte Dauerrente zu Unrecht entzogen worden. Die Beklagte ist verpflichtet, die Verletztenrente auch über den Entziehungszeitpunkt hinaus zu gewähren.
Nach § 622 Abs. 1 RVO ist eine Neufeststellung einer Dauerrente zu treffen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Danach kann die Verletztenrente nur entzogen werden, wenn sich die Verhältnisse, die beim Erlaß des Dauerrentenbescheides vorgelegen haben, wesentlich gebessert haben. Das LSG hat unangefochten und damit für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß sich objektiv die Verhältnisse seit Erlaß des Dauerrentenbescheides nicht geändert hätten, weil der Befund schon bei der Erstfestsetzung der Verletztenrente praktisch normal war und sich nicht mehr ändern konnte. Damit hat es von vornherein an einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse i. S. des § 622 Abs. 1 RVO gefehlt.
Entgegen der Auffassung des LSG gibt es einen allgemeinen medizinischen Erfahrungssatz, daß postcommotionelle Beschwerden sich nach einem gewissen Zeitablauf zurückbilden. Das zeigt ein Blick in das anerkannte medizinische Schrifttum. So führt Störring (in Reichard, Einführung in die Unfall- und Rentenbegutachtung, 4. Aufl., S. 198/199) aus, die Festsetzung einer Dauerrente nach zwei Jahren nach dem Unfall komme für Hirnerschütterungsfolgen praktisch nicht in Betracht, da Beschwerden, die über diesen Zeitraum fortdauern, nicht mehr zum Bild einer Hirnerschütterung gehören. Auch Schrader/Stockdorff (in Fischer/Herget/Mollowitz, Das ärztliche Gutachten im Versicherungswesen, 3. Aufl. Bd. II S. 32) meinen, die Berentung solle die Zweijahresgrenze nur ganz ausnahmsweise überschreiten. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bedürfe besonders ausführlicher Begründung und könne bei schweren Allgemeinerkrankungen (zB Hypertonie, Diabetes usw.) gegeben sein. Die genannte Auffassung wird im Ergebnis ebenfalls von Ewald (Lehrbuch für Neurologie und Psychiatrie, 5. Aufl., S. 177) sowie Jäger (in Bürckle de la Camp/Rostock, Handbuch der gesamten Unfallheilkunde, 2. Aufl. Bd. II S. 83) geteilt. Dieser Ansicht steht auch nicht die Entscheidung des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31. Juli 1970 - 2 RU 38/66 - entgegen. In jenem Fall war über eine Gehirnkontusion zu entscheiden gewesen, und der 2. Senat hatte unter Berufung auf die erwähnte Literatur erkannt, daß es hinsichtlich dieser körperlichen Beeinträchtigung einen Erfahrungssatz, auch ohne Feststellung einer Änderung im Befund allein schon im Hinblick auf einen gewissen Zeitablauf sei eine Besserung anzunehmen, nicht gibt. Der erkennende Senat befindet sich mit seiner Entscheidung im Einklang mit dem Urteil des 5. Senats des BSG vom 29. Mai 1964 - 5 RKn 67/61 -, das ebenfalls eine Hirnerschütterung betraf, und in dem ausgeführt ist, daß jede ärztliche Begutachtung letztlich auf Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft beruhe, da es anderenfalls nicht der Anhörung eines medizinischen Sachverständigen bedürfe. Voraussetzung ist und bleibt jedoch, daß ein solcher zu dem tatsächlichen Ergebnis gekommen ist, es liege eine wesentliche Änderung - hier i. S. der Besserung - vor. Es müssen nämlich - wie das LSG zutreffend hervorgehoben hat - konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben sein, daß medizinische Erfahrungssätze sich im konkreten Fall bewahrheitet haben. Der bloße Hinweis auf den Zeitablauf genügt für den Nachweis einer wesentlichen Besserung nicht (so auch Urteil des 2. Senats des BSG vom 11. September 1958 in SozR Nr. 3 zu § 608 RVO aF Bl. Aa 3; im Anschluß daran auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15. August 1972, Bd. 2 S. 582 b mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Urteil des BSG vom 10. November 1972 - 5 RKnU 14/70 -). Das Berufungsgericht hat sich ausdrücklich für seine Feststellungen, daß eine wesentliche Besserung nicht eingetreten ist, auf das Gutachten vom 25. September 1968 der vom SG gehörten Sachverständigen, Nervenfachärztin Dr. B, berufen. Diese hat aber nicht nur ausgeführt, daß der neurologische Befund bei der ersten Festsetzung der Dauerrente aufgrund des Gutachtens des von der Beklagten gehörten Facharztes Dr. E vom 23. August 1965 praktisch normal gewesen und deshalb sich eine wesentliche Besserung aus dem Untersuchungsergebnis nicht objektivieren lasse. Sie hat vielmehr auch ausdrücklich hervorgehoben, daß subjektiv die postcommotionellen Beschwerden mit wetterabhängigen Kopfschmerzen, Erbrechen und Bewegungsschwindel nach wie vor bestünden. Damit sind aber - unter Berücksichtigung des Ergebnisses der medizinischen Beweisaufnahme - nach den Feststellungen des LSG nicht einmal die dem Dauerrentenbescheid zugrunde gelegten subjektiven Beschwerden bei der Klägerin weggefallen. Im Gegensatz zu dem vom 5. Senat im Urteil vom 29. Mai 1964 entschiedenen Rechtsstreit hat das LSG für den hier vorliegenden Fall mithin keine für die Beklagte günstigen Feststellungen aufgrund des speziellen Zustandes der Klägerin getroffen. Daß dies auf verfahrensrechtlich nicht einwandfreie Weise geschehen ist - etwa weil das LSG gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) verstoßen habe -, hat die Beklagte nicht gerügt.
Nach alledem ist somit die Entziehung der Dauerrente der Klägerin zu Unrecht erfolgt. Die Revision der Beklagten muß deshalb zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen