Leitsatz (amtlich)
Bei Umanerkennung einer Rente auf Grund des BVG § 86 ist die nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften getroffene Feststellung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit für die Zeit vom Inkrafttreten des BVG an nicht rechtsverbindlich.
Normenkette
BVG § 86 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 2. November 1954 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kläger hat wegen "Herzmuskelschaden, Teilversteifung der Gelenke am rechten Arm mit Bewegungseinschränkung der linken Finger 1 - 5 auf Basis eines schweren chronischen Gelenkrheumas" durch Bescheid vom 16. November 1948 eine Rente nach dem Körperbeschädigtenleistungsgesetz (KBLG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 100 v.H. bewilligt erhalten. Im Jahre 1949 erfolgten Nachuntersuchungen und mit Bescheid vom 20.Mai 1950 wurde die Rente ab 1. Juli 1950 nach einer MdE. um 80 v.H. neu festgesetzt. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt (OVA.) eingelegt. Auf Grund eines Anerkenntnisses, das von der Versorgungsbehörde in dem Berufungsverfahren vor dem OVA abgegeben, und durch das dieses Verfahren erledigt wurde, bewilligte das Versorgungsamt ... durch Bescheid vom 26. November 1951 dem Kläger wegen völliger Erwerbsunfähigkeit die Vollrente nach dem KBLG über den 30.Juni 1950 hinaus weiter bis zum 30. September 1950. Durch Umanerkennungsbescheid vom gleichen Tage hat das genannte Versorgungsamt unter Übernahme der anerkannten Schädigungsfolgen die nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewährende Rente für die Zeit vom 1. Oktober 1950 ab nach einer MdE. um 80 v.H. festgesetzt. Auf die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid hat das OVA. durch Urteil vom 29.August 1953 unter Änderung des Bescheides den Beklagten verurteilt, dem Kläger vom 1.Oktober 1950 ab eine Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit weiter zu gewähren, weil eine wesentliche Besserung in dem als Leistungsgrund anerkannten Leiden des Klägers nicht nachgewiesen sei. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Rekurs eingelegt mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Umanerkennungsbescheid vom 26. November 1951 wiederherzustellen, hilfsweise ein ärztliches Obergutachten einzuholen. Der Rekurs ist am 14. September 1953 beim Landesversicherungsamt ... eingegangen und am 1. Januar 1954 nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht (LSGer.) ... übergegangen. Durch Urteil vom 2. November 1954 hat das LSGer. die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen, ihm die außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt und die Revision zum Bundessozialgericht ( BSGer .) nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen zugelassen. Das LSGer. hat angenommen, daß der zulässig eingelegte Rekurs als Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG unzulässig geworden sei, weil nur der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) streitig wäre.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Revision eingelegt mit dem Antrage, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 26. November 1951 abzuweisen. Die Revision macht geltend, der zulässige Rekurs sei auch als Berufung neuen Rechts zulässig geblieben, da der Rechtsmittelkläger durch das wirksam begründete Rechtsschutzverhältnis gegenüber dem Staat ein Recht auf sachliche Entscheidung erlangt habe. Der Kläger hat beantragt, die Revision aus den zutreffenden Gründen der Vorinstanz zurückzuweisen und seine außergerichtlichen Kosten dem Beklagten aufzuerlegen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist statthaft; sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie mußte auch Erfolg haben.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt zunächst in formaler Beziehung davon ab, ob ein Rekurs, der gegen das Urteil eines OVA. im früheren Lande Württemberg-Baden zulässig eingelegt wurde, nach dem Übergang der Sache auf das LSGer. auf Grund des § 215 Abs. 3 SGG als Berufung zulässig bleibt, wenn eine nach dem Inkrafttreten des SGG eingelegte Berufung gegen das Urteil eines SGer . gemäß §§ 144 bis 149 SGG unzulässig wäre. Das BSGer . hat diese Frage bereits, besonders in dem Urteil des 8. Senats vom 16. Juni 1955 - 8 RV 461/54 -, und auch in den Urteilen des 9. Senats vom 20.September 1955 - 9 RV 78/54 und 9 RV 46/54 -, denen sich der erkennende Senat anschließt, grundsätzlich verneint, sie aber in sinngemäßer Anwendung des § 150 Nr. 1 SGG ausdrücklich bejaht, wenn die vom OVA. entschiedene Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Das LSGer. hat mit Recht den Rekurs des Beklagten nach den §§ 1699, 1700 Reichsversicherungsordnung (RVO), § 33 KBLG für zulässig erachtet. Es hat ebenso richtig die Zulässigkeit einer Berufung nach dem SGG gemäß § 148 Nr. 3 verneint; denn der Streit betrifft nur den Grad der MdE., ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhängt. Das LSGer. durfte jedoch die Prüfung der Zulässigkeit der Berufung nach dem SGG nicht auf die §§ 144 bis 149 SGG beschränken, sondern mußte sie auch auf § 150 Nr. 1 SGG erstrecken. Es hätte dabei zu dem Ergebnis kommen müssen, daß die Frage, ob bei Umanerkennung einer Rente auf Grund des § 86 BVG die nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften getroffene Feststellung des Grades der MdE. auch für die Zeit vom Inkrafttreten des BVG an rechtsverbindlich ist, grundsätzliche Bedeutung hat, und daß ein SGer . in einem solchen Falle die Berufung nach § 150 Nr.1 SGG hätte zulassen müssen. Das LSGer. hätte daher mangels einer anderen Instanz in der Sache selbst entscheiden müssen. Da es statt dessen die Berufung als unzulässig verworfen hat, konnte das angefochtene Urteil nicht aufrechterhalten werden.
Die genannte grundsätzliche materiell-rechtliche Frage selbst, von der die sachliche Entscheidung des Rechtsstreits abhängt, war zu verneinen.
Das BVG regelt unabhängig von den bisherigen Gesetzen und neu die Versorgung aller Personen, die durch militärische Dienste und diesen gleichgestellte Vorgänge eine Gesundheitsschädigung erlitten haben. Es stellt in den §§ 1 bis 5 neue Tatbestände auf, die vom Inkrafttreten des BVG an allein die Grundlage der Versorgung bilden, und ordnet auch die Versorgungsleistungen neu. In § 84 Abs. 2 setzt das BVG die früheren Versorgungsgesetze außer Kraft, soweit sie ihm entgegenstehen oder nicht schon aufgehoben worden sind. Die Aufhebung der früheren Gesetze umfaßt auch das in dem früheren Lande Württemberg-Baden gültig gewesene KBLG. Da auf diesem Gesetze der Rentenbescheid vom 16.November 1948 mit seiner Ergänzung vom 26. November 1951 beruht, sind der darin getroffenen Festsetzung des Grades der MdE. des Klägers und seiner Versorgungsbezüge die materiell-rechtlichen Grundlagen vom 1. Oktober 1950 ab entzogen. An deren Stelle sind hinsichtlich der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit die §§ 29 und 30 BVG getreten, die neue Grundsätze enthalten. Frühere Entscheidungen haben deshalb seit Inkrafttreten des BVG nur insoweit noch Bedeutung, als ihnen das BVG ausdrücklich weiteren Bestand verleiht.
Das BVG hat eine Bindung an frühere Entscheidungen vor seinem Inkrafttreten im wesentlichen nur in § 85 Satz 1 BVG über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG ausgesprochen, indem es diese Entscheidung auch nach neuem Recht für rechtsverbindlich erklärt, aber auch nur dann, soweit die Gesundheitsstörung überhaupt noch besteht (vgl. Entscheidung des 8. Senats vom 8. Dezember 1955, 8 RV 251/55). Diese Bindung ist jedoch - abgesehen von den hier nicht in Betracht kommenden Fällen der §§ 5, 82, 86 Abs.4 BVG - die einzige Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Voraussetzungen einer Beschädigtenrente nunmehr selbständig nach dem neuen Recht des BVG zu beurteilen sind. Die bisherige Festsetzung des Grades der MdE. nimmt an der bindenden Wirkung nicht teil, weil sie vom Gesetz nicht ausdrücklich angeordnet ist (ebenso die herrschende Meinung, insbesondere Wilke, BVBl. 1954 S. 13 ff.). Die von dem Kläger hervorgehobene entgegenstehende Ansicht von Carstensen (ZfS 1953 S. 69) ist mit dem Gesetz nicht vereinbar. Auch aus § 86 Abs. 3 BVG ist auf dieses Ergebnis zu schließen; denn § 86 Abs. 3 ermöglicht, soweit die Rente ohne ärztliche Untersuchung unter Übernahme des bisher anerkannten Grades der MdE. nach dem BVG festgesetzt wurde, eine anderweitige Feststellung des Grades der MdE. binnen vier Jahren nach dem Inkrafttreten des BVG, ohne daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse (§ 62 BVG) vorliegen müßte. Diese Bestimmung wäre bei anderer Auslegung des § 85 BVG sinnlos.
Die Versorgungsrente des Klägers ist hiernach vom Inkrafttreten des BVG an nach den §§ 29, 30 und 31 dieses Gesetzes festzusetzen. Hierbei muß von den nach § 85 rechtsverbindlich feststehenden Schädigungsfolgen als Bemessungsgrundlage der Rente ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung des in dem Bescheid des Landesversorgungsamtes ... vom 20. Mai 1950 anerkannten Leistungsgrundes ist der Grad der MdE. in den gesetzlichen Grenzen der §§ 29 bis 31 BVG frei zu schätzen. Die Auffassung des OVA., daß von der früheren Bemessung der MdE. nur dann abgewichen werden dürfe, wenn sie damals unzutreffend beurteilt worden sei, oder wenn sich der Gesundheitszustand des Klägers gebessert habe, folgt nicht mehr geltenden Grundsätzen der Reichsversicherungsordnung und ist daher nicht zu billigen.
Gegenüber dieser klaren Rechtslage muß die psychologische Erwägung des Klägers unbeachtlich bleiben, daß beide Bescheide verschiedenen Inhalts am gleichen Tage ergangen sind. Dieser Umstand ist schon deswegen ohne Bedeutung, weil ebenso der umgekehrte Fall, wie er hier Gegenstand der Urteilsfindung ist, eintreten könnte. Außerdem kommt hinzu, daß hier der eine Bescheid in Ausführung eines den Rechtsstreit vor dem OVA erledigenden Vergleichs ergangen ist.
Zur sachlichen Prüfung der Höhe der Rente bedarf es einer Abwägung und Würdigung der vorliegenden ärztlichen Gutachten. Das Anerkenntnis des Landesversorgungsamts in dem ersten Berufungsverfahren vor dem OVA. ... vom 25. September 1951 ist ausdrücklich auf die Zeit bis 30. September 1950 beschränkt und mit dieser Beschränkung vom Kläger angenommen worden. Es hat keine Bedeutung für die Festsetzung des Grades der MdE. nach dem BVG für die Zeit ab 1. Oktober 1950.
Da zur Entscheidung in der Sache selbst noch tatsächliche Feststellungen gemäß den §§ 103, 128, 153 Abs. 1 SGG notwendig sind, konnte das BSGer . nicht selbst entscheiden.
Das angefochtene Urteil des LSGer. war daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSGer. ... zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen