Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 25.11.1983) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. November 1983 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung ihres am 9. Mai 1982 verstorbenen Ehemannes zusteht.
Die Ehe der im Jahre 1914 geborenen Klägerin mit dem Versicherten wurde durch Urteil des Oberlandesgerichtes (OLG) Schleswig vom 7. Oktober 1958 aus alleinigem Verschulden des Ehemannes geschieden. Vor dem OLG haben die Parteien des Scheidungsverfahrens einen Vergleich geschlossen, worin sie ua gegenseitig auf Unterhalt für Vergangenheit und Zukunft sowie auch für den Fall veränderter Umstände (§ 323 Zivilprozeßordnung –ZPO–) verzichtet haben. Der Versicherte verpflichtete sich, für die drei gemeinsamen Kinder, für die der Klägerin das Sorgerecht zustehen sollte, insgesamt 225,– DM monatlich an Unterhalt zu zahlen. Nach der Scheidung bestritt die Klägerin, die Eigentümerin mehrerer Häuser ist, ihren Lebensunterhalt zunächst durch Vermietung mehrerer Zimmer. Ab Juli 1971 war sie dann berufstätig. Der Versicherte ist nach der Scheidung keine neue Ehe eingegangen. Er bezog ab 1. August 1978 Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung, das ab 1. Januar 1981 in Höhe von 884,30 DM monatlich gezahlt wurde. Den Rentenantrag der Klägerin vom 14. Mai 1982 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 10. August 1982 ab, weil die Klägerin umfassend auf Unterhalt verzichtet habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 2. Februar 1983). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Juni 1982 Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 RVO zu gewähren (Urteil vom 25. November 1983). Zwar seien die Voraussetzungen des Satzes 1 der genannten Vorschrift nicht erfüllt, wohl aber die des Satzes 2. Gleichwertige Ursachen für das Nichtbestehen eines Unterhaltsanspruchs seien hier die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse des Ehemannes, der nicht in der Lage gewesen sei, Unterhaltszahlungen an die Klägerin zu leisten, und deren Unterhaltsverzicht. Letzterer schließe in einem solchen Fall die Anwendung des § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO nicht aus. In gleicher Weise wie bei der wiederaufgelebten Witwenrente (§ 1291 Abs. 2 RVO) stehe auch bei der Hinterbliebenenrente der geschiedenen Ehefrau der aus „verständigem Grund” erklärte Unterhaltsverzicht einer Rentengewährung nicht entgegen.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 1265 Satz 2 RVO sowie mangelnde Sachaufklärung durch das Berufungsgericht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist jedenfalls insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Mit dem LSG und der übereinstimmenden Ansicht der Beteiligten ist davon auszugehen, daß der Klägerin kein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 1 RVO zusteht. Aus Satz 2 der genannten Vorschrift, der hier geprüft werden muß, weil eine Witwenrente nicht zu gewähren ist, sind jedenfalls die Voraussetzungen der Nrn 2 und 3 erfüllt. Zur Zeit der Scheidung am 7. Oktober 1958 hatte die Klägerin offenbar drei, mindestens aber zwei waisenrentenberechtigte Kinder zu erziehen. Beim Tode des Versicherten am 9. Mai 1982 hatte sie das 60. Lebensjahr vollendet. Der Rentenanspruch hängt folglich davon ab, ob eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten wegen seiner Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse oder wegen der Erträgnisse der Klägerin aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat (§ 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO).
Vor der Ehescheidung hat die Klägerin im Vergleich vom 7. Oktober 1958 auf Unterhalt für die Zukunft verzichtet und zwar auch für den Fall veränderter Umstände (§ 323 ZPO). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat ein solcher umfassender Unterhaltsverzicht zur Folge, daß ein Anspruch aus § 1265 Satz 2 RVO nicht besteht (vgl. SozR 2200 § 1265 Nrn 3, 6, 40; Urteil des Senats vom 20. Januar 1976 – 5 RJ 91/75 –). Das BSG sieht in solchen Fällen die Ursache für das Nichtbestehen einer Unterhaltsverpflichtung allein in einem derartigen Unterhaltsverzicht und nicht in den Vermögens- und Erwerbsverhältnissen des Versicherten (vgl. aaO Nr. 3). Ohne Bedeutung sei, ob sich die geschiedene Ehefrau zu dem Verzicht durch die Vorstellung habe bestimmen lassen, es fehle an einem Unterhaltsanspruch (vgl. aaO Nr. 6).
Ob an dieser Rechtsprechung unverändert festzuhalten ist, hat der Senat hier unentschieden gelassen. Die Gründe, die das LSG veranlaßt haben, davon abzuweichen, hält der Senat jedoch für erwägenswert. Neben kritischen Äußerungen in der Literatur (vgl. Peters, „Schließt ein Unterhaltsverzicht der geschiedenen Frau auch einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO aus?” in ZfS 1975, 173; Bürkle, „Geschiedenenrente trotz Unterhaltsverzicht?” in SGb 1980, 533) kann auch die neuere Rechtsprechung zu § 1291 Abs. 2 RVO Veranlassung geben, die Auswirkungen des Unterhaltsverzichts auf den Anspruch aus § 1265 Satz 2 RVO zu überdenken. Beim Wiederaufleben der Witwenrente nach § 1291 Abs. 2 RVO ist ein von der Witwe infolge Auflösung der Ehe erworbener Versorgungs- oder Unterhaltsanspruch anzurechnen. Grundsätzlich gilt das auch – fiktiv – für einen Unterhaltsanspruch, der der Witwe ohne einen von ihr erklärten Verzicht zustehen würde. Ausnahmen davon läßt das BSG jedoch zu, wenn die Voraussetzungen für die wiederaufgelebte Witwenrente nach dem 31. Januar 1972, also seit dem Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes (RRG) eingetreten sind. Sofern dann die Witwe aus einem objektiv verständigen Grund auf Unterhalt verzichtet hat, unterbleibt die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs (vgl. BSGE 46, 193 und 49, 131 = SozR 2200 § 1291 Nrn 16 und 19). Die rechtliche Ausgangslage in beiden Vorschriften weist Unterschiede auf. Während § 1291 Abs. 2 RVO die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf die unabhängig davon wiederaufgelebte Witwenrente betrifft, ist in § 1265 Satz 2 RVO geregelt, wann ohne die grundsätzlich erforderliche Unterhaltsverpflichtung ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente für die geschiedene Frau überhaupt besteht. Trotz dieser Unterschiede ist ein Vergleich zwischen beiden Vorschriften bezüglich der Auswirkungen eines Unterhaltsverzichts möglich.
Soll bei § 1265 Satz 2 RVO der umfassende Unterhaltsverzicht nicht schon für sich allein ausreichen, den Rentenanspruch zu verneinen, so kann der Verzicht allenfalls dann als unschädlich angesehen werden, wenn er gerade wegen der in dieser Vorschrift in Nr. 1 genannten Gründe erklärt worden ist. Jedenfalls müßte der Verzicht nachweisbar im Zusammenhang mit den Vermögens- oder Erwerbsverhältnissen des Versicherten oder den Erträgnissen der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit stehen. Nur wenn diese Gründe eine Unterhaltsverpflichtung ausgeschlossen haben und deshalb der Unterhaltsverzicht erklärt wurde, ist eine Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung in Erwägung zu ziehen. Sind dagegen andere Umstände für den Unterhaltsverzicht maßgebend gewesen, etwa Einkünfte der geschiedenen Ehefrau aus Kapitalvermögen oder der Wunsch nach einer baldigen Scheidung, so kommt ein Anspruch auf Rente nach § 1265 Satz 2 RVO nicht in Betracht. Der Zielsetzung dieser Vorschrift würde eine solche Korrektur nach Auffassung des Senats entsprechen. Dabei läßt sich aber die den Unterhaltsverzicht aus „verständigem Grund” betreffende Rechtsprechung zu § 1291 Abs. 2 RVO nicht ohne weiteres auf den Rentenanspruch aus § 1265 Satz 2 RVO übertragen. Bei letzterem ist entscheidend die Koppelung an die vom Gesetz ausdrücklich genannten wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten bzw an die Erträgnisse der Frau aus einer Erwerbstätigkeit. Durch einen Unterhaltsverzicht darf die geschiedene Ehefrau nicht besser gestellt werden, als sie ohne ihn stehen würde. Deshalb kann hier nicht allgemein ein „verständiger Grund” für den Verzicht in Betracht kommen, sondern nur derjenige, der sich speziell auf die in § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO genannten Tatbestandsmerkmale bezieht.
Eine dahingehende Änderung der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung bezüglich der Auswirkungen des Unterhaltsverzichts im Rahmen des § 1265 Satz 2 RVO macht unter Umständen die Anrufung des Großen Senats des BSG erforderlich, die indes nur zulässig ist, wenn aufgrund der Feststellungen im Tatsachenbereich der Rentenanspruch der Klägerin von der aufgezeigten Rechtsfrage abhängt. Die Vorlage nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) setzt voraus, daß die vorzulegende Rechtsfrage für die Entscheidung des anrufenden Senats entscheidungserheblich ist, die Entscheidung also tragen wird. Dagegen ist es nicht Aufgabe des Großen Senats, in einem Verfahren nach § 42 SGG Rechtsfragen zu beantworten, die für die zu treffende Entscheidung ohne zwingende rechtliche Bedeutung sind (vgl. BSGE 51, 23, 25 = SozR 1500 § 42 Nr. 7 mwN).
Im Falle der Klägerin ist das LSG davon ausgegangen, der Versicherte sei nicht in der Lage gewesen, in nennenswertem Umfang zum Unterhalt seiner geschiedenen Frau beizutragen. Es hat jedoch auch ausgeführt, in den ersten Jahren nach der Scheidung habe die Klägerin ihren Lebensunterhalt durch Vermietung mehrerer Zimmer bestritten. Sie sei Eigentümerin mehrerer Häuser. Von seinem Rechtsstandpunkt aus hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, Feststellungen darüber zu treffen, ob aus Gründen, die nicht im Zusammenhang mit den Vermögens- oder Erwerbsverhältnissen des Versicherten stehen, der Unterhaltsverzicht erklärt worden ist. Das Berufungsgericht wird daher prüfen müssen, inwieweit neben der mangelnden Fähigkeit des Versicherten zur Unterhaltsleistung Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen, der Wunsch nach einer baldigen Scheidung oder das Bestreben, das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen, Beweggründe für den Unterhaltsverzicht gewesen sind. Sodann wird das LSG entscheiden müssen, was Ursache im Rechtssinn ist. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten können nur dann möglicherweise wesentliche Ursache für den Unterhaltsverzicht gewesen sein, wenn ihnen neben etwaigen sonstigen Gründen mindestens eine gleichwertige Bedeutung beizumessen ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen