Leitsatz (amtlich)

Für die Frage, ob vor dem 1945-04-01 ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftig (bindend) gewordener Bescheid erteilt worden ist, trägt der Versicherungsträger die Beweislast.

 

Normenkette

SVVereinfV 1 Art. 26 Fassung: 1945-03-17

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. September 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die im Jahre 1906 geborene Klägerin ist die Witwe des am 4. September 1938 an den Folgen eines Arbeitsunfalls verstorbenen Gedingeschleppers H K Sie beantragte im November 1956 bei der Beklagten die Gewährung der Hinterbliebenenrente und gab in ihrem Antrag u. a. an, früher keinen Rentenantrag gestellt zu haben. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil aus den insgesamt bis einschließlich Januar 1931 entrichteten 40 Beiträgen im Zeitpunkt des Todes des Versicherten die Anwartschaft nach damaligem Recht nicht erhalten gewesen sei; mit den Beiträgen von November 1935, aus denen die Anwartschaft erhalten sei, werde die Wartezeit nicht erfüllt; auch die Halbdeckung sei nicht gegeben. Die später ergangenen Anwartschaftserfüllungsvorschriften kämen nicht zum Zuge, weil der Tod des Versicherten vor dem 1. Mai 1942 eingetreten sei und damit ein Anspruch nach dem neuen Recht entfalle. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt, das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück. Zur Begründung führte es aus, § 1263 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF der Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945 (RGBl I 41) sei auf alle Versicherungsfälle anzuwenden, für die ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid vor dem 1. April 1945 noch nicht ergangen sei und in denen Leistungen nur für die Zeit vom 31. Mai 1949 an begehrt würden. Ein solcher ablehnender Bescheid sei aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht ergangen. Auf Grund der Bekundungen des Zeugen G habe das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen können, daß die Beklagte über den Rentenanspruch der Klägerin vor dem genannten Zeitpunkt durch verbindlichen Bescheid entschieden habe. Andere Unterlagen seien nicht vorhanden. Den Nachteil der Nichterweislichkeit einer früheren Bescheiderteilung habe die Beklagte zu tragen. Revision wurde zugelassen.

Die Beklagte legte gegen das Urteil Revision ein. Sie trägt vor, die Entscheidung des Rechtsstreits hänge davon ab, ob bei dem vor dem 1. April 1942 eingetretenen Versicherungsfall § 1263 a Abs. 1 RVO idF der Vereinfachungsverordnung anwendbar sei. Voraussetzung hierfür sei, daß der Anspruch nicht vor dem 1. April 1942 rechtskräftig abgelehnt worden sei. Dies habe aber das LSG zu Unrecht angenommen. Denn nach allgemeiner Lebenserfahrung sei davon auszugehen, daß eine Witwe, da sie auf die Rentenbezüge angewiesen sei, einen solchen Antrag stelle. Dies habe auch der Zeuge G bei seinen Vernehmungen bestätigt. Diese Annahme sei um so wahrscheinlicher, als der verstorbene Ehemann versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei und man deshalb davon ausgehen mußte, es bestehe ein Rentenanspruch. Wenn aber seinerzeit Rentenansprüche geltend gemacht worden seien, so hätte die Beklagte, wozu sie verpflichtet gewesen sei, darüber einen Bescheid erteilt, der auch als formloses Schreiben hätte ergehen können. Auch ein formloser ohne Rechtsmittelbelehrung ergangener Bescheid sei ein solcher im Sinne des Rentenrechts. Daß ein solcher Bescheid auch ergangen sei, ergebe sich auch zweifelsfrei aus dem Schreiben des Zeugen G vom 10. Juni 1947 an die Beklagte. Das LSG habe aber aus den Aussagen des Zeugen zu Unrecht gefolgert, daß kein Antrag gestellt worden sei. Überdies habe das LSG die Beweislast verkannt. Die Klägerin, und nicht die Beklagte, habe nachzuweisen, daß vorher kein ablehnender Bescheid ergangen sei.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 7. September 1961 und des SG Gelsenkirchen vom 14. Oktober 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig, hatte aber keinen Erfolg.

Wie der 4. Senat in seinem Urteil vom 24. April 1958 (BSG 7, 146) zu § 1263 a RVO aF entschieden hat, gilt auch bei dem Versicherten, der einen Arbeitsunfall schon vor dem 1. Mai 1942 erlitten und infolgedessen invalide geworden oder gestorben ist, die Wartezeit dann als erfüllt, wenn über den Versicherungsfall vor dem 1. April 1945 noch kein das Versicherungsverhältnis abschließender (bindend) gewordener Bescheid erteilt ist und Leistungen erst für eine Zeit nach dem 31. Mai 1949 zu gewähren sind. Der 4. Senat hat dies damit begründet, daß nach Art. 26 der 1. Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl I 41) Art. 17 aaO (= § 1263 a RVO aF) auf die vor dem 1. April 1945 eingetretenen Versicherungsfälle anzuwenden ist, ohne daß eine zeitliche Beschränkung der Rückwirkung erfolgt wäre. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat im Grundsatz zwar an, mit Rücksicht auf Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) allerdings nur insoweit, als der Rentenantrag vor dem 1. Januar 1957, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des ArVNG, gestellt worden ist. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt nach Art. 26 der 1. Vereinfachungsverordnung also davon ab, ob die Beklagte, wie sie behauptet, der Klägerin vor dem 1.4.1945 einen das Versicherungsverhältnis abschließenden rechtskräftig (bindend) gewordenen Bescheid über die Witwenrente erteilt hat.

Für die Entscheidung dieser Frage ist in erster Linie maßgebend, wer die Beweislast trägt. Vielfach ergibt sich aus dem Wortlaut einer Vorschrift die Verteilung der Beweislast. Nach dem Wortlaut des Art. 26 aaO spricht der Anschein zwar dafür, daß der Versicherte für das Nichterteilen eines das Versicherungsverhältnis abschließenden rechtskräftig (bindend) gewordenen Bescheids vor dem 1. April 1945 die Beweislast trägt. Hier kann aber, anders als bei einigen der großen Kodifikationen ..., etwa der des Bürgerlichen Gesetzbuches, dem Wortlaut der auszulegenden Vorschrift insofern keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen werden. Bei dieser Verordnung, die unter den im Jahre 1945 herrschenden Verhältnissen erlassen ist, kann man nicht annehmen, daß der Verordnungsgeber bei ihrer Fassung neben der materiellen Regelung auch noch die Beweislastverteilung im Auge gehabt hätte. In Wirklichkeit trügt hier daher dieser Anschein. Etwas anderes hat nach Ansicht des erkennenden Senats für die Entscheidung dieser Frage eine viel größere Bedeutung. Es muß nämlich bedacht werden, daß die Rückwirkungsanordnung genereller Natur ist und daß sie den Kern dieser Vorschrift darstellt, der Ausschluß der Rückwirkung für die speziellen Fälle, in welchem bereits ein rechtskräftig (bindend) gewordener Bescheid ergangen ist, eine Ausnahme hiervon darstellt. Nach dogmatisch zutreffender Betrachtungsweise gilt zwar, daß eine Rückwirkungsanordnung nicht ohne weiteres für bereits bindend oder rechtskräftig entschiedene Fälle gilt, für diese vielmehr eine besondere Rückwirkungsanordnung getroffen werden muß, falls sie auch fur diese gelten soll (vgl. Enneccerus-Nipperdey, Allgem. Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, 15. Aufl., § 61 II 4). Wenn nun der Verordnungsgeber in Art. 26 aaO dies nicht beachtet hat, sondern das, was ohnehin schon rechtens sein würde, ausdrücklich regelt, so ergibt sich daraus, daß er - irrigerweise - davon ausgegangen ist, seine Rückwirkungsanordnung sei genereller Natur. Diese die Rückwirkungsanordnung ausschließende Regelung muß daher als eine den Eintritt der grundsätzlich angeordneten Rückwirkung hindernde Ausnahmeregelung angesehen werden, für die nach allgemeiner Regel die Beklagte die Beweislast trägt. Die danach erforderliche Feststellung, daß vor dem 1. April 1945 ein rechtskräftig (bindend) gewordener Bescheid ergangen ist, konnte nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht getroffen werden. Die hiergegen erhobenen Rügen greifen nicht durch, denn eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung ist nicht zu erkennen. Entgegen der Ansicht der Beklagten hat nur ein förmlicher Bescheid die in Art. 26 aaO vorgesehene Wirkung, nicht aber eine formlose Mitteilung. Denn rechtskräftig (bindend) kann nur ein förmlicher Bescheid werden. Wenn auch manches dafür spricht, daß die Beklagte der Klägerin eine Mitteilung hat zukommen lassen, so kann man dem Berufungsgericht doch keinen Verstoß gegen Beweiswürdigungsgrundsätze vorwerfen, wenn es nicht als erwiesen angesehen hat, daß es sich hierbei um einen förmlichen Bescheid gehandelt hat. Denn diese Entscheidung des Berufungsgerichts widerspricht weder Denkgesetzen noch allgemeinen Erfahrungssätzen noch hat es den Gesamtinhalt des Verfahrens unbeachtet gelassen. Wenn es auch richtig ist, daß auf einen Rentenantrag ein förmlicher Bescheid zu ergehen hat, so steht hier doch nicht fest, ob überhaupt ein Rentenantrag oder aber nur eine formlose Anfrage erfolgt ist. Zudem kommen immerhin auch dann, wenn förmliche Anträge gestellt sind, Fälle vor, in denen sich der Versicherungsträger jedenfalls zunächst einmal mit einer formlosen Mitteilung begnügt und dann erst einen förmlichen Bescheid erteilt, wenn dies vom Versicherten anschließend ausdrücklich verlangt wird. Da hiernach das Berufungsgericht die Grenzen seines Beweiswürdigungsermessens nicht verletzt hat, war der Senat an die Auffassung des Berufungsgerichts, daß eine entsprechende Feststellung nicht möglich ist, gebunden; eine eigene Beweiswürdigung steht dem Revisionsgericht dagegen nicht zu. Die Nichterweisbarkeit einer Bescheiderteilung vor dem 1. April 1945 geht aber, wie bereits ausgeführt, nach allgemeiner Beweislastregel hier zu Lasten der Beklagten. Somit erweist sich die Revision der Beklagten als unbegründet, so daß sie zurückgewiesen werden mußte.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325940

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