Leitsatz (amtlich)
Die Wartezeit gilt nicht schon dann nach § 1252 Abs 2 RVO als erfüllt, wenn der Versicherte infolge des Unfalles nur berufsunfähig geworden ist.
Normenkette
RVO § 1252 Abs 2 Fassung: 1972-10-16, § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.02.1980; Aktenzeichen L 4 J 1624/79) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 12.07.1979; Aktenzeichen S 10 J 1579/78) |
Tatbestand
Der im Jahr 1954 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Mechanikers und legte im Februar 1973 die Gesellenprüfung ab. Im Juni 1973 erlitt er einen Moped-Verkehrsunfall, der zu einer Hirnquetschung und einem Oberschenkeltrümmerbruch rechts führte. Bis dahin hatte er nur eine Versicherungszeit von 47 Monaten zurückgelegt. Seit August 1977 ist er wieder beschäftigt, und zwar als Hilfsarbeiter in einer elektrotechnischen Fabrik.
Die Beklagte gewährte dem Kläger eine Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit bis Ende Oktober 1977. Den im Juni 1978 gestellten erneuten Rentenantrag des Klägers lehnte sie mit Bescheid vom 22. September 1978 ab, weil weder Berufs- noch gar Erwerbsunfähigkeit vorliege.
Mit der Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen hat der Kläger beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbs- hilfsweise Berufsunfähigkeit zu verurteilen. Das SG hat mit Urteil vom 12. Juli 1979 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; die Abweisung der weitergehenden Klage hat es nicht ausgesprochen. Es hat den Kläger als (nur) berufsunfähig und die Wartezeit nach § 1252 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) als erfüllt angesehen. Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 8. Februar 1980 das Urteil des SG aufgehoben, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen seines Urteils ist ausgeführt: Zwischen den Beteiligten bestehe Übereinstimmung darüber, daß der Kläger berufsunfähig sei. Die Wartezeit sei jedoch nicht erfüllt, weil die Vorschrift des § 1252 Abs 2 RVO nur für die Versicherungsfälle der Erwerbsunfähigkeit und des Todes gelte.
Mit der Revision trägt der Kläger vor, die Fiktion der Wartezeiterfüllung gelte auch für den Fall der Berufsunfähigkeit; er, der Kläger, sei auch noch erwerbsunfähig.
Er beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben
und die Berufung der Beklagten gegen das
Urteil des SG Reutlingen vom 12. Juli 1979
als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Das LSG hat ausgeführt, für den Kläger sei die Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 1246 Abs 1 und 3 RVO nicht erfüllt; deshalb habe der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, und das SG habe die Beklagte zu Unrecht zur Rentenzahlung verurteilt. Ob diese Auffassung zutrifft, kann noch nicht endgültig gesagt werden.
Es ist zwar richtig, daß mit 47 Monaten die Wartezeit nicht erfüllt ist, aber nach Lage der Dinge kommt die Anwendung des § 1252 Abs 2 RVO idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) in Frage. Nach dieser Vorschrift gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung einer Ausbildung infolge eines Unfalls erwerbsunfähig geworden ... ist und in den dem Versicherungsfall vorangegangenen 24 Kalendermonaten mindestens für sechs Kalendermonate Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung ... entrichtet hat.
Das LSG hätte deshalb zunächst in tatsächlicher Hinsicht feststellen müssen, wie weit die Leistungsfähigkeit des Klägers herabgesunken war, und, wenn der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zu verneinen war, in rechtlicher Hinsicht entscheiden müssen, ob auch der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit die Rechtsfolgen des § 1252 Abs 2 RVO auslöst.
Zum Gesundheitszustand und zur Leistungs- bzw Erwerbsfähigkeit des Klägers hat das LSG weder eigene Feststellungen getroffen noch eigene Wertungen vorgenommen. Es hat sich auf die Bemerkung in den Entscheidungsgründen beschränkt, zwischen den Beteiligten bestehe Übereinstimmung darüber, daß der Kläger berufsunfähig sei. Dieses Verfahren ist in mehrfacher Richtung zu beanstanden:
Auf die Berufsunfähigkeit des Klägers kommt es bei der vom LSG vorgenommenen Urteilsbegründung nicht an. Da nach der - wie noch auszuführen sein wird, vom Senat geteilten - Auffassung des LSG nur der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit die Wartezeitfiktion begründet, ist es für die Erfüllung der Wartezeit gleichgültig, ob der Kläger berufsunfähig ist oder nicht. Wesentlich ist allein, ob er erwerbsunfähig ist. Das Vorliegen von Berufsunfähigkeit schließt aber das gleichzeitige Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit nicht aus; wer erwerbsunfähig ist, ist auch berufsunfähig (BSG, Urteil vom 1964-05-26 - 12 RJ 464/61 - BSGE 21, 88, 89 = SozR Nr 40 zu § 1246 RVO). Demnach hätte das LSG untersuchen müssen, ob der Kläger erwerbsunfähig oder nur berufsunfähig ist.
Daß zwischen den Beteiligten übereinstimmung darüber bestanden habe, daß der Kläger nur berufsunfähig (und damit nicht erwerbsunfähig) sei, ist sehr fraglich. Der Kläger hat nämlich mehrmals etwas anderes vorgetragen: Im Schriftsatz vom 9. Januar 1979 hat er zunächst ausgeführt, er müsse "zumindest als berufsunfähig" angesehen werden, im Schriftsatz vom 16. Mai 1979 aber sich "nach wie vor als erwerbsunfähig" bezeichnet; das hat das SG in seinem Urteil (S 4) korrekt wiedergegeben mit dem Zusatz, nach Auffassung des Klägers sei die jetzt ausgeübte Tätigkeit "eher vergönnungsweise und im Sinne einer Beschäftigungstherapie zu verstehen". In der Revisionsbegründung schließlich trägt der Kläger vor, es müsse "in der eigentlichen Kernaussage eine Erwerbsunfähigkeit als weiterhin vorliegend angesehen werden". Daß der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG geäußert hätte, nicht erwerbsunfähig zu sein, ist zwar möglich, jedoch läßt sich daraus nicht ohne weiteres entnehmen, daß er rechtswirksam auf bestimmte Ansprüche hätte verzichten wollen. Insofern ist auch bedeutsam, daß weder die Sitzungsniederschrift noch der Tatbestand des Urteils darüber etwas enthalten.
Unrichtig ist weiterhin die Ansicht des LSG, das Vorliegen von Berufsunfähigkeit könne als "unstreitig" der Entscheidung zugrundegelegt werden. Wenn in manchen Verfahrensordnungen (vgl zB §§ 138 Abs 3 und 288 Abs 1 Zivilprozeßordnung -ZPO-) den übereinstimmenden Erklärungen der Parteien Auswirkung auf die richterliche Prüfungspflicht beigemessen wird, dann nur in bezug auf Tatsachen, dh auf Geschehnisse und Zustände der Außenwelt und des menschlichen Seelenlebens, die zum Tatbestand der anzuwendenden Rechtssätze gehören, nicht aber in bezug auf die rechtliche Würdigung (Subsumtion) von Tatsachen (Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßordnung, 12. Aufl, § 117 I 1 a). Die Berufsunfähigkeit ist keine Tatsache, sondern "ein komplexer und unbestimmter Rechtsbegriff" (Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm II 2 zu § 1246 RVO).
Letztlich entscheidend ist aber, daß das sozialgerichtliche Verfahren, das wegen des öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Sachverhalts und der Richtigkeit der Entscheidung vom Amtsermittlungs-(Untersuchungs-)Grundsatz beherrscht wird (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), dem Nichtbestreiten von Tatsachen und dem Geständnis keine Bedeutung beimißt. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit müssen vielmehr alle Tatsachen (selbst) ermitteln, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich und entscheidungserheblich sind (Meyer-Ladewig, SGG, Rz 4 zu § 103). Daß die Frage, ob der Kläger erwerbsunfähig oder nur berufsunfähig geworden ist, entscheidungserheblich ist, bedarf hier keiner weiteren Begründung.
Der Sachverhalt, wie er zwar vom LSG nicht festgestellt worden ist, aber sich aus den Akten ergibt, ist nicht so beschaffen, daß das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit etwa als abwegig erscheinen könnte und deshalb keiner Prüfung bedurfte. Zwar spricht zugunsten der Ansicht des LSG, daß der Kläger nur im ersten Rechtszug die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt hatte, sich aber dann mit dem Urteil des SG, das ihm nur Rente wegen Berufsunfähigkeit zugesprochen hatte, begnügt und weder Berufung noch Anschlußberufung eingelegt hat; weiterhin, daß der Kläger seit August 1977 als Hilfsarbeiter beschäftigt ist. Beide Umstände schließen jedoch das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit nicht aus: Im Prozeß mag der Kläger wider besseres Wissen resigniert haben, und die Beschäftigung mag er, wie er behauptet, nur vergönnungsweise und als Therapie, damit aber möglicherweise auf Kosten der Restgesundheit verrichten. Aus den Akten, die der Senat hier nicht als Grundlage der Entscheidung, sondern für Hinweise an das LSG verwertet, ergibt sich, daß der Kläger die Hilfsarbeiter-Stelle nur mit einer von der Beklagten an den Arbeitgeber gezahlten Eingliederungshilfe von zunächst 80 vH des Lohnes und nur deshalb erhalten hat, "weil der zuständige Abteilungsmeister selbst ein behindertes Kind hat und somit das nötige Verständnis und Einführungsvermögen für einen behinderten Menschen aufbringt"; der Arbeitgeber hat im Oktober 1977 die Leistungen des Klägers, der dauernder Anregung und Überwachung bedürfe, "kaum als nennenswert" bezeichnet; bei der letzten ärztlichen Begutachtung im August 1978 hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr R in B von einer "Beeinträchtigung der Behaltefähigkeit für frische Eindrücke, Initiativverarmung, Verflachung und Einengung der Affektivität, Verminderung der Belastbarkeit und des energetischen Potentials" gesprochen, aber mittelschwere Arbeiten vollschichtig für möglich gehalten; schließlich hat der Arbeitgeber im Februar 1979 berichtet, der Kläger vergesse "nach kurzer Zeit die Arbeitsanweisungen, auch wenn sie einfachster Art sind".
Unter diesen Umständen dürfte es nicht von vornherein auszuschließen sein, daß der Kläger erwerbsunfähig sein könnte. Unabhängig davon sind aber Feststellungen zur Erwerbsunfähigkeit deshalb erforderlich, weil solche Feststellungen bisher nicht getroffen sind. Das wird vom LSG nachzuholen sein.
Kommt das LSG zu dem Ergebnis, daß der Kläger infolge des Unfalles erwerbsunfähig geworden ist, so müßte, wenn auch die übrigen Voraussetzungen des § 1252 Abs 2 RVO erfüllt sind, die Wartezeit als erfüllt gelten, und die Rente wegen Berufsunfähigkeit - nur diese ist bisher im Streit - zugesprochen werden.
Ergeben die Ermittlungen und rechtlichen Werbungen des LSG, daß der Kläger nicht erwerbsunfähig ist, so wäre die Klage abzuweisen. Denn die Wartezeit gilt nicht schon dann als erfüllt, wenn der Versicherte infolge eines Unfalles nur berufsunfähig geworden ist (Verbands-Kommentar, Anm 20 b zu § 1252 RVO, Stand: 1978-01-01; Zweng/Scheerer, aaO, Anm III zu § 1252 RVO, Stand: Januar 1977; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl, Anm 13 a zu § 1252 RVO; Gesamtkommentar, Anm 8 zu § 1252 RVO, Stand: April 1974; Hoernigk/Jorks, Rentenversicherung, Anm 12 zu § 1252 RVO, Stand: Januar 1981; AmtlMittLVA Rheinpr 1973, 113; MittLVA Oberfr 1973, 374). Der Senat schließt sich den Ausführungen des LSG zu dieser Rechtsfrage an. Was die Revision gegen diese Auffassung vorträgt, vermag angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlautes nicht zu überzeugen.
Wenn § 1252 Abs 2 RVO abweichend vom Versicherungsprinzip den durch einen "privaten" Unfall Geschädigten bzw deren Hinterbliebenen unter bestimmten Voraussetzungen eine - wegen Nichterfüllung der Wartezeit an sich nicht geschuldete - Rente zuspricht, dann ist es sinnvoll, diese Sonderleistung auf diejenigen besonders schwer Betroffenen zu beschränken, die nicht mehr in der Lage sind, sich eine eigene soziale Sicherung aufzubauen. Das sind aber außer den Hinterbliebenen die Personen, die nicht mehr wirtschaftlich sinnvoll arbeiten können, also die Erwerbsunfähigen. Dagegen haben die (nur) Berufsunfähigen die Möglichkeit, eine mit Rentenversicherungspflicht verbundene Beschäftigung, allerdings in der Regel gegen ein geringeres Entgelt als vor dem Unfall, aufzunehmen und sich eine soziale Sicherung, wenn auch auf niedrigerem Niveau, zu erwerben; sie sind wesentlich weniger schutzbedürftig als die Erwerbsunfähigen.
Auf die Frage, ob der Kläger vor dem 1. Juni 1978 (von diesem Tag an hat das SG die Rente wegen Berufsunfähigkeit zugesprochen) etwa eine Zeitlang erwerbsunfähig gewesen ist, worauf die Zahlung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 13. Mai 1975 bis zum 31. Oktober 1977 hindeutet, kommt es nicht an. Ist der Versicherte infolge des "privaten" Unfalls erwerbsunfähig geworden, hat sich seine Leistungsfähigkeit aber später gebessert, so daß er dann nicht mehr erwerbsunfähig ist, so wirkt die Fiktion des § 1252 Abs 2 RVO für einen später - infolge desselben Unfalles - eintretenden Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit nicht fort. Ob das auch dann gilt, wenn die Erwerbsunfähigkeit unmittelbar in Berufsunfähigkeit übergeht, braucht der Senat nicht zu untersuchen. Jedenfalls tritt die Fiktion der Erfüllung der Wartezeit dann nicht ein, wenn - wie im Falle des Klägers - zwischen dem Ende des Bezuges von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und dem neuen Rentenantrag eine längere Zwischenzeit liegt.
Die Rechtswohltat der Fiktion der Wartezeiterfüllung soll von den an sich nicht begünstigten nur Berufsunfähigen nicht auf dem Umweg über eine zwischen Unfall und Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit liegende - intercurrente - Erwerbsunfähigkeit, und zwar dann auf Lebenszeit, erworben werden dürfen. Sonst würden diejenigen nur Berufsunfähigen, die kurze Zeit lang auch erwerbsunfähig gewesen waren, gegenüber den vom Unfalltag an durchgehend nur Berufsunfähigen zu Unrecht bevorzugt; dem Durchgangsstadium Erwerbsunfähigkeit würde eine überproportionale und ungerechtfertigte Bedeutung beigemessen.
Die Sache war an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.
Fundstellen