Leitsatz (amtlich)

Der Eingang der Beitrittserklärung eines Schwerbehinderten bei einer Gemeinde wahrt die Frist des § 176c S 2 RVO iVm § 176 Abs 3 RVO.

 

Normenkette

RVO § 176 Abs 3 Fassung: 1975-05-07, § 176c S 2 Fassung: 1975-05-07, § 310 Abs 1 S 1; SGB 1 § 16; SGB 10 § 16 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 11.12.1980; Aktenzeichen L 1 K 2/79)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 01.12.1978; Aktenzeichen S 1 K 7/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als Schwerbehinderte freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden ist.

Die am 12. Juli 1900 geborene Klägerin ist als Schwerbehinderte iS des § 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) anerkannt.

Mit Schreiben vom 28. Juni 1976 stellte die Klägerin einen Antrag auf freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung an die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) für das Saarland. Dieses Schreiben ging am selben Tag bei der Gemeinde M. ein. Mit Schreiben vom 29. Juni 1976 reichte das Sozialamt der Gemeinde M. den Antrag der Klägerin auf freiwilligen Beitritt weiter. Am 5. Juli 1976 ging der Antrag bei der Verwaltungsstelle  W. der Beklagten ein.

Mit Bescheid vom 20. Juli 1976 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin als verspätet ab.

Den daraufhin von der Klägerin eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 12. Januar 1977 zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat dem Klagantrag folgend durch Urteil vom 1. Dezember 1978 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und festgestellt, daß die Klägerin ab dem 28. Juni 1976 freiwilliges Mitglied der Beklagten sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 11. Dezember 1980 zurückgewiesen. Das Recht des freiwilligen Beitritts sei zwar keine Sozialleistung iS des § 11 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - ( SGB I), führe aber gerade zur Begründung von Ansprüchen auf derartige Leistungen. Der Sinn und Zweck des § 16 SGB I erfordere deshalb eine Anwendung auch auf diesen Fall.

Mit ihrer von dem LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 310 Abs 1 Satz 1 und 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie des § 16 SGB I. Letztere Vorschrift solle vorerst nur für Sozialleistungsanträge gelten, sonst hätte der Gesetzgeber alle Bestimmungen der RVO über andere Anträge aufgehoben.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11. Dezember 1980 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hat ihren Zurückweisungsantrag nicht begründet.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.

Zu Recht sind das SG und das LSG davon ausgegangen, daß die Klägerin ihren freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung rechtzeitig erklärt hat.

Das Beitrittsrecht der schwerbehinderten Klägerin richtete sich nach § 176c RVO idF des Art 2 § 1 Nr 2 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) vom 7. Mai 1975 (BGBl I, 1061). Danach konnten zur Zeit der Beitrittserklärung Schwerbehinderte iS des § 1 SchwbG ohne weitere Voraussetzungen der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig beitreten. Allerdings konnte gemäß § 176c iVm § 176 Abs 3 RVO der Beitritt durch die Krankenkasse von einer bestimmten Altersgrenze abhängig gemacht werden. Dies hat die Beklagte in § 12 Abs 5 Nr 4 ihrer Satzung getan und einen Beitritt nur vor Vollendung des 65. Lebensjahres zugelassen. Die Einführung dieser Altersgrenze konnte aber nach Art 3 § 1 SVBG frühestens 12 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes, also erst ab dem 1. Juli 1976, wirksam werden, so daß bis zu diesem Zeitpunkt auch Schwerbehinderte, die diese Altersgrenze überschritten hatten, beitreten konnten.

Die Klägerin hatte zur Zeit ihrer Beitrittserklärung ihr 65. Lebensjahr bereits vollendet, so daß der Beitritt nur bis zum 1. Juli 1976 möglich war. Ihre Beitrittserklärung ging jedoch bei der Verwaltungsaußenstelle  W. der Beklagten erst am 5. Juli 1976 ein.

Gemäß § 310 Abs 1 Satz 3 RVO geschieht der Beitritt durch schriftliche oder mündliche Anmeldung beim Vorstand oder der Meldestelle der Kasse. Dies ist hier bis zum Ablauf der Frist für einen möglichen Beitritt der Klägerin am 1. Juli 1976 nicht geschehen.

Allerdings war die Erklärung bereits am 28. Juni 1976 bei der Gemeindeverwaltung M. eingegangen. Im Ergebnis zutreffend haben die Instanzgerichte auch die innerhalb der Frist abgegebene Erklärung gegenüber der unzuständigen Gemeindebehörde zur Fristwahrung ausreichen lassen.

Dieses Ergebnis folgt aus einer entsprechenden Anwendung der Regelung in § 16 Abs 1 und 2 SGB I.

Nach § 16 Abs 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen zwar beim zuständigen Leistungsträger zu stellen, sie werden jedoch auch von allen anderen Leistungsträgern, von allen Gemeinden und bei Personen mit Aufenthaltsort im Ausland von den amtlichen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland entgegengenommen. Nach § 16 Abs 2 Satz 2 SGB I gilt dabei der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei den obengenannten Stellen eingegangen ist.

Dem Wortlaut nach bezieht sich diese Bestimmung allein auf Anträge auf "Sozialleistungen". Der Begriff "Sozialleistung" ist in § 11 SGB I näher bestimmt. Danach handelt es sich um die im SGB vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen. Der Begriff "Sozialleistung" soll dabei alle Vorteile umfassen, die nach den Vorschriften des SGB zur Verwirklichung der sozialen Rechte dem Einzelnen zugute kommen sollen (BR-Drucks 305/72, S 20 zu § 11; BR-Drucks 286/73, S 24 zu § 11; BSG SozR 1200 § 44 SGB I Nr 2).

Zwar ergibt sich das Recht auf freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung für Schwerbehinderte aus dem SGB, da entsprechend Art II § 1 Nr 4 SGB I auch die RVO als besonderer Teil des SGB gilt; auch dient dieses Recht letztlich der Verwirklichung der sozialen Rechte. Jedoch läßt sich bei Zugrundelegung der Definition des § 11 SGB I die Erklärung des Beitritts zur Krankenversicherung nicht als Antrag auf eine "Sozialleistung", dh eine Dienst-, Sach- oder Geldleistung, auffassen; vielmehr wird erst die Mitgliedschaft begründet, also die Grundlage für spätere Anträge auf Sozialleistungen gelegt.

Es ist dabei davon auszugehen, daß der Gesetzgeber innerhalb desselben Abschnitts und desselben Titels eines Gesetzes den Begriff "Sozialleistung" auch in derselben Bedeutung gebraucht hat. Für eine Differenzierung zwischen der Gesetzesterminologie in § 11 einerseits und in § 16 SGB I andererseits gibt es keine Anhaltspunkte. Somit bleibt systematisch für eine ausdehnende Auslegung in § 16 SGB I, der dem Begriff "Sozialleistung" dort eine weitere Bedeutung geben würde als in § 11 SGB I, kein Raum. Dies ergibt sich auch daraus, daß der Gesetzgeber, wie von der Beklagten angeführt, alte Regelungen für Anträge auf Sozialleistungen, wie die §§ 1549, 1613 Abs 5 RVO, ausdrücklich aufgehoben hat, nicht jedoch Regelungen, die andere Anträge betreffen.

Jedoch hat der Gesetzgeber damit die Behandlung anderer Anträge und Erklärungen gegenüber den Sozialleistungsträgern nicht ausdrücklich im Allgemeinen Teil des SGB geregelt. Insofern besteht dort eine Regelungslücke. Eine solche Lücke läßt sich durch die analoge Anwendung einer vergleichbaren Regelung schließen, falls der Gesetzgeber nicht erkennbar eine Regelung ausschließen wollte (vgl dazu Larenz, Methodenlehre, 3. Aufl, S 354 ff, 366 ff).

Dafür, daß eine Regelung weiterer Anträge gegenüber Sozialleistungsträgern bewußt unterbleiben sollte, ergibt sich aus der gesetzgeberischen Zielsetzung kein Anhaltspunkt. § 16 SGB I folgt aus der Überlegung, daß der Einzelne mit seinem Begehren nach Sozialleistungen nicht an den Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung scheitern dürfe. Deshalb sollte auch der Eingang eines Antrags bei einem unzuständigen Leistungsträger zur Fristwahrung genügen (vgl BT-Drucks 7/868 zu § 16; abgedruckt auch bei: Hauck/Haines, SGB I AT, Stand Mai 1981, § 16 RdNr 1). Die Ausgangslage, dh die Schwierigkeit des Bürgers, sich im Zuständigkeitskatalog der einzelnen Sozialleistungsträger zurechtzufinden, besteht für den freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung in dem gleichen Maße wie bei Anträgen auf Sozialleistungen. Somit läßt sich aus dieser Intention des Gesetzgebers nicht auf eine bewußte Unterlassung der Regelung anderer Erklärungen gegenüber Leistungsträgern schließen. Vielmehr rechtfertigt es der Gedanke des "Grundsatzes der Einheit der staatlichen Sozialverwaltung" (Giese, SGB I und X, 2. Aufl 1981, I § 16 Rdziff 2.4.), der dem § 16 SGB I zugrundeliegt, die Erklärung des Berechtigten, die einen Antrag auf Sozialleistungen erst ermöglicht, ebenso zu behandeln wie den Antrag auf die Sozialleistung selbst.

Der Fall der Erklärung des freiwilligen Beitritts zur Krankenversicherung ist auch mit der Interessenlage bei einem Antrag auf eine Sozialleistung vergleichbar, was als Voraussetzung einer Analogie erforderlich ist (Larenz, aaO, S 366 ff). Sowohl bei einem Antrag auf Sozialleistungen als auch bei der Beitrittserklärung handelt es sich um eine verwaltungsrechtliche, empfangsbedürftige Willenserklärung (vgl Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht III, 4. Aufl § 156 Va RdNr 52; Peters, Handbuch der KV, § 310 RVO Anm 3a). Dies unterscheidet den vorliegenden Fall auch von der Entscheidung des 3. Senats des BSG vom 28. Oktober 1981 (SozR 2200 § 216 RVO Nr 5), in der eine entsprechende Anwendung des § 16 SGB I auf eine Tatsachenmitteilung abgelehnt wurde, weil dabei die Frist einem anderen Zweck diene. Eine solche unterschiedliche Zielsetzung der Ausschlußfristen ist aber zumindest bei der Beitrittserklärung einer über 65jährigen Schwerbehinderten und der Antragstellung auf Sozialleistungen nicht erkennbar.

Auch die Folgen einer entsprechenden Anwendung des § 16 SGB I auf die Erklärung des freiwilligen Beitritts zur Krankenversicherung gebieten keine Differenzierung. Durch eine entsprechende Anwendung des § 16 SGB I auch auf die Beitrittserklärung einer über 65jährigen Schwerbehinderten entsteht zwar eine Übergangszeit, während der noch die von unzuständigen Leistungsträgern sowie von Gemeinden weitergeleiteten Erklärungen eingehen können. Daraus ergibt sich aber für den zuständigen Leistungsträger kein schwerwiegender Nachteil. Der Sinn der Fristsetzung, also die Bestimmung eines klaren zeitlichen Abgrenzungstermins, bleibt auch auf diesem Wege erhalten, da der Eingang bei den unzuständigen Leistungsträgern innerhalb der Frist erfolgt sein muß. Die Konsequenz, daß der Krankenversicherungsträger dadurch am Stichtag noch keine Kenntnis seines genauen Mitgliederbestandes hat, ist nicht von entscheidender Bedeutung, da der Mitgliederbestand ständigen Schwankungen unterliegt und sich die Verzögerung der Kenntnis in diesem Fall allein auf die über 65jährigen Schwerbehinderten bezieht.

Sinn der Frist ist in diesem Fall hauptsächlich, daß sich der Betroffene, also der Schwerbehinderte, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt entscheiden muß. Dies hat die Klägerin aber durch Abgabe der Erklärung gegenüber der Gemeindeverwaltung getan. Daß der Gedanke der Fristwahrung durch Abgabe einer Erklärung bei einer unzuständigen Stelle dem Verwaltungsrecht nicht fremd ist, ergibt sich aus vergleichbaren gesetzlichen Regelungen (zB §§ 84 Abs 2 Satz 1 und 91 Abs 1 SGG, § 94 Abs 3 Verwaltungsverfahrensgesetz Baden-Württemberg). Aus diesen verschiedenen Einzelregelungen aber bereits auf einen entsprechenden allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsatz zu schließen (so Wolff-Bachof, aaO RdNr 54), führt indessen zu weit und bietet nicht genügend Raum für notwendige Differenzierungen.

Eine entsprechende Anwendung des § 16 SGB I auf die Erklärung des freiwilligen Beitritts eines über 65jährigen Schwerbehinderten zur Krankenversicherung ist aber aus den aufgeführten Gründen angemessen (so auch: Heinze in RVO-Gesamtkommentar, Stand Oktober 1982, § 176c RVO Anm 3, S 78; Grüner, SGB-Kommentar, Stand November 1982, SGB I/3, § 16 Anm III, S 7; Kommentar zur gesetzlichen RV des Verbandes Deutscher RV-Träger, SGB I, Stand Januar 1982, § 16 SGB I Anm 3e; anderer Ansicht: Bley in SGB-Gesamtkommentar, I § 16 SGB I, Anm 1c, S 195; Peters, SGB-AT, Stand Januar 1981, § 16 Anm 3 ohne Begründung). Die Begründung des Rechtsverhältnisses, aufgrund dessen später die Anträge auf Sozialleistungen gestellt werden, muß deshalb zumindest im vorliegenden Fall entsprechend den Anträgen auf Sozialleistungen selbst behandelt werden. Auch hier greift der dem § 16 SGB I zugrundeliegende Gedanke durch, daß gerade die Gemeindebehörden dem einzelnen Bürger am nächsten stehen und am leichtesten zugänglich sind.

Die Anwendung des § 16 SGB I ist auch nicht, wie die Beklagte meint, deshalb unmöglich, weil § 310 Abs 1 Satz 1 und 3 RVO nicht aufgehoben wurde. Auch weiterhin regelt § 310 RVO die zur Entgegennahme der Beitrittserklärung zuständige Stelle sowie den Beginn der Mitgliedschaft, nur wird die Bestimmung durch die entsprechende Anwendung des § 16 SGB I der neueren Regelung dergestalt ergänzt, daß bei Erklärung gegenüber einem unzuständigen Leistungsträger oder einer Gemeinde der Zeitpunkt des Eingangs der Erklärung auch bei dem zuständigen Leistungsträger fingiert wird. Eine reine Aufhebung des § 310 RVO wäre also auch bei Erstreckung des § 16 SGB I auf Beitrittserklärungen durch den Gesetzgeber nicht infrage gekommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1984, 177

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