Leitsatz (amtlich)
1. SGG § 103 S 1 kann dadurch verletzt sein, daß das Gericht außer den Akten der beklagten Verwaltung nicht auch noch Akten anderer Verwaltungsbehörden oder Gerichte beigezogen hat und daß es von der Möglichkeit der Beiladung eines Dritten nach SGG § 75 Abs 1 nicht Gebrauch gemacht hat.
2. Zum Verhältnis der Ansprüche nach den BVG §§ 1 Abs 2 Buchst a, 5 Abs 1 Buchst e zu Ansprüchen wegen Unterlassung polizeilicher Maßnahmen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Rechtsordnung ist als eine Einheit aufzufassen; das Recht der Kriegsopferversorgung und das allgemeine Schadenersatzrecht stehen in einem gewissen inneren Zusammenhang.
2. Eine durch kriegerische Vorgänge entstandene Gebäuderuine stellt wegen ihrer Einsturzgefahr im allgemeinen noch keinen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich dar. Sie kann aber bis zu dem Zeitpunkt einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich darstellen, bis zu dem es infolge der kriegseigentümlichen Begleitumstände nicht möglich war, den Gefahrenzustand zu beseitigen oder eine Schädigung durch ihn zu verhindern.
Normenkette
SGG § 75 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07; SGG § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Oktober 1955 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Klägerin wurde am 28. Dezember 1945 durch den Einsturz der Giebelmauer eines bombenbeschädigten Hauses verletzt; Teile der Mauer fielen auf das angrenzende Haus, das auch beschädigt war, und trafen die Klägerin und eine große Zahl anderer Frauen, die in dem dortigen Lebensmittelgeschäft einkauften. 1946 erhob die Klägerin gegen die Eigentümerin des eingestürzten Gebäudes Klage auf Schadensersatz; diese Klage wurde durch Urteil des Landgerichts (LG.) Dortmund vom 13. September 1946 abgewiesen: Weder § 836 BGB noch § 823 BGB rechtfertige den Anspruch auf Schadensersatz. Im Oktober 1951 beantragte die Klägerin, ihr wegen Schädel- und Gesichtsverletzungen Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Das Versorgungsamt Dortmund lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Dezember 1952 ab, weil eine unmittelbare Kriegseinwirkung nicht vorgelegen habe. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos (Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 15.9.1953). Das Sozialgericht Dortmund wies die Klage durch Urteil vom 28. September 1954 ab; die Berufung der Klägerin wies das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 15. Oktober 1955 zurück: Die Schädigung der Klägerin sei nicht mehr auf einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zurückzuführen; der Einsturz der Mauer sei erst zwei Jahre und sieben Monate nach der Beschädigung des Hauses erfolgt, ein Versorgungsanspruch nach § 5 Abs. 1 Buchstabe e in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG sei danach nicht gegeben. Die Revision ließ das LSG. zu.
Das Urteil wurde der Klägerin am 21. Oktober 1955 zugestellt. Am 2. November 1955 legte sie Revision ein und beantragte, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und ihr ab 1. Oktober 1951 eine Versorgungsrente zu gewähren. Sie begründete die Revision am 9. Dezember 1955: Das LSG. habe die Vorschriften der §§ 5 Abs. 1 Buchstabe e in Verbindung mit 1 Abs. 1 Buchstabe a BVG nicht richtig angewandt; der Versorgungsanspruch werde nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Mauer erst längere Zeit nach der Zerstörung des Hauses eingestürzt sei, dem Hauseigentümer sei es infolge der kriegsbedingten Verhältnisse nicht möglich gewesen, die Mauer abreißen zu lassen, das Kriegsgeschehen sei für die Schädigung mindestens im Sinne einer wesentlichen Teilursache von Bedeutung gewesen; das LSG. habe auch zu Unrecht angenommen, daß der am Unfalltage herrschende "starke ( orkanhafte ) Sturm" als wesentliche Teilursache für die Schädigung verantwortlich gemacht werden müsse; diese Annahme beruhe auf einer unzureichenden Sachaufklärung und damit auf einer Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); zur Zeit des Unfalls habe nach einer Auskunft des Deutschen Wetterdienstes, Wetteramt Essen, nicht ein orkanartiger Sturm geherrscht, es habe sich nur um starke (böige) bis stürmische Winde gehandelt.
Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Versorgung, wenn sie durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung einen gesundheitlichen Schaden erlitten hat (§ 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG). Als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG gelten u.a. nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben (§ 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG). Der versorgungsrechtlich geschützte Tatbestand der §§ 1 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG, der hier allein in Betracht kommt, setzt danach voraus: Kriegerische Vorgänge müssen einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hervorgerufen haben, dieser Gefahrenbereich muß sich nachträglich, d.h. im zeitlichen Abstand zu den kriegerischen Vorgängen - aber im ursächlichen Zusammenhang mit ihnen -, schädigend ausgewirkt haben. Der Tatbestand, an den der Versorgungsanspruch geknüpft ist, umfaßt also eine Ursachenreihe, die sich aus drei Gliedern zusammensetzt: Kriegerischer Vorgang, kriegseigentümlicher Gefahrenbereich, schädigendes Ereignis in nachträglicher Auswirkung eines solchen Gefahrenbereichs. Für das Vorliegen des Zwischengliedes, des Tatbestandsmerkmals "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" genügt es nicht, daß Gefahren in kriegseigentümlicher r Weise entstanden sind. Sie müssen vielmehr auch nach ihrer Entstehung fortwirkend kriegseigentümlich geblieben sein und bis zum Eintritt des schädigenden Ereignisses in dieser Weise fortbestanden haben (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 7.11.1957, Der Versorgungsbeamte 1958 Nr. 2 S. 18, BSG. 4 S. 230 [231, 232] mit weiteren Hinweisen). Ein Gefahrenbereich - mag er auch in kriegseigentümlicher Weise entstanden sein - ist nicht mehr kriegseigentümlich, wenn sich die Gefahren in dem Zeitpunkt ihrer Verwirklichung von anderen, nicht durch kriegerische Vorgänge entstandenen Gefahren, nicht mehr unterscheiden. Von einem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich kann danach nicht mehr gesprochen werden, wenn das schädigende Ereignis einer Gefahrenquelle entspringt, der eine Verbindung mit typischem Kriegsgeschehen nicht mehr eigen ist (vgl. Urteil des BSG. vom 7.11.1957, SozR. zu § 1 BVG Nr. 16).
Ein Gebäude, das durch Kriegsereignisse beschädigt oder zerstört worden ist, stellt ebensowenig einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich dar wie ein Gebäude, dessen Mauerwerk durch Witterungseinflüsse brüchig geworden ist. Die Möglichkeit, daß ein solches Gebäude einstürzt oder daß sich aus ihm einzelne Teile lösen, ergibt sich aus seiner Schadhaftigkeit; die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist deshalb den allgemeinen Gefahrenquellen, denen das Leben auch ohne Kriegseinwirkungen ausgesetzt ist, zuzurechnen. Eine Gebäuderuine, die durch kriegerische Vorgänge entstanden ist, bildet danach wegen ihrer Einsturzgefahr allein noch keinen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG; sie kann aber bis zu dem Zeitpunkt einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich darstellen, bis zu dem es infolge kriegseigentümlicher Umstände nicht möglich gewesen ist, den Gefahrenzustand zu beseitigen oder eine Schädigung durch ihn zu verhüten (BSG. 4, 230 [233]). Die Gefahr, die von der Gebäuderuine ausgegangen ist, hat deshalb auch im vorliegenden Falle in "kriegseigentümlicher Weise" solange fortbestanden, als ihr infolge der Kriegsereignisse nicht zu begegnen oder auszuweichen gewesen ist; sie hat aber die Verbindung mit typischem Kriegsgeschehen zu der Zeit verloren, zu der sie entweder durch Abbruch der Mauern oder durch Absperrmaßnahmen hat beseitigt werden können; dabei ist von Bedeutung, daß sich in dem gefährdeten Bereich offenbar ein reger Verkehr abgespielt hat, die Gefahr also beträchtlich gewesen ist und deshalb besonderer Anlaß bestanden hat, Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahr und zur Verhütung von Schaden zu treffen. Verantwortlich hierfür sind die örtlichen Behörden gewesen, denen die polizeilichen Aufgaben des Bau- und Ordnungswesens obgelegen haben; ihre Aufgabe ist es nach § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes gewesen, nach pflichtgemäßem Ermessen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem Einzelnen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Ob diese Behörden bis zu der Zeit des Einsturzes der Gebäuderuine (Dezember 1945) aus kriegsbedingten Gründen noch nicht in der Lage gewesen sind, die Gefahr, die von der Gebäuderuine ausgegangen ist, durch geeignete Maßnahmen zu beseitigen, hat das LSG. weder ermittelt noch hat es hierüber irgendwelche Feststellungen getroffen (§ 103 Satz 1 SGG). Von der Möglichkeit, die Stadt Dortmund als die für die örtliche Verwaltung zuständige und verantwortliche Gebietskörperschaft zur Klärung des Sachverhalts und zur Prüfung der daraus erwachsenden rechtlichen Beziehungen nach § 75 Abs. 1 SGG zum Verfahren beizuladen, hat es nicht Gebrauch gemacht. Das LSG. hat auch nicht versucht, die Vorgänge der Stadt Dortmund darüber, daß die zuständige Bau- und Ordnungsbehörde seit 1943 mehrfach und nachdrücklichst auf den bedrohlichen Zustand des Mauerwerks und die damit verbundene Gefahr hingewiesen worden ist und wiederholt Überprüfungen stattgefunden haben, zu ermitteln und beizuziehen; ebenso ist nicht festgestellt worden, ob bei den städtischen Behörden Aufzeichnungen über den Einsturz der Ruine selbst und Unterlagen über die Regelung etwaiger Ansprüche anderer Verletzter sowie über die Errichtung und die Bedeutung des Luftschutzbunkers in dem eingestürzten Gebäude (vgl. dazu Tatbestand des Urteils des LG. Dortmund vom 13.9.1946) noch vorhanden sind und beigezogen werden können. Auch die Akten des LG. Dortmund über den Rechtsstreit der Klägerin gegen die Eigentümerin des eingestürzten Hauses (Az. 2.0.255/46) hat das LSG. nicht herangezogen; diese Akten sind jedenfalls, als der Rechtsstreit vor dem LSG. geschwebt hat, noch vorhanden gewesen. Alle diese Unterlagen können für die Beurteilung der Frage, ob es sich noch um eine typische Kriegsgefahr oder wegen des erheblichen zeitlichen Abstandes zwischen der Beschädigung des Gebäudes und dem Einsturz der Mauer nur noch um eine allgemeine Gefahr gehandelt hat, von Bedeutung sein; die Möglichkeiten zur Klärung des Sachverhalts, die diese Unterlagen bieten, dürfen weder die Versorgungsverwaltung noch die Gerichte unbeachtet lassen (vgl. Haueisen, Die Ortskrankenkasse 1957 S. 1 ff. [5]). Soweit Unterlagen nicht mehr zu ermitteln sind, ist zu versuchen, den Sachverhalt durch behördliche Auskünfte und Anhörung von Zeugen aufzuklären, um dann die rechtserheblichen Feststellungen treffen zu können. Es darf nicht übersehen werden, daß die Rechtsordnung als eine Einheit aufzufassen ist; auch das Recht der KOV und das allgemeine Schadensersatzrecht stehen in einem gewissen inneren Zusammenhang; gesundheitliche Schäden, die Folge typischen Kriegsgeschehens sind, sind nach dem BVG zu "entschädigen"; für gesundheitliche Schäden, die Folgen allgemeiner Gefahren sind, kann, soweit Sondervorschriften (z.B. § 836 BGB) fehlen, die ersatzweise Haftung der Gebietskörperschaft nach § 839 BGB, Art. 34 GG in Betracht kommen, sofern schuldhaft versäumt worden ist, nach pflichtmäßigem Ermessen Maßnahmen zur Abwendung solcher Gefahren zu treffen; ist ein Verschulden nicht festzustellen, so entfällt auch nach der rechtlichen Ordnung dieses Gefahrenbereichs ein Ersatzanspruch (vgl. dazu Drews-Wacke, Allgemeines Polizeirecht, 6. Aufl., 1955, S. 204 - 206 und S. 6 und 7 sowie Palandt, BGB, 15. Aufl., Anm. 15 zu § 839 BGB, S. 726); der Versorgungsanspruch der Klägerin aus den §§ 1 Abs. 2a, 5 Abs. 1 e BVG muß deshalb nicht schon ohne weiteres dann bejaht werden, wenn die Anspruchsvoraussetzungen nach allgemeinem Schadensersetzrecht nicht gegeben sind; die Einheit der Rechtsordnung gebietet es zwar, zur Aufklärung des Sachverhalts Unterlagen und Vorgänge aus allen in Betracht kommenden Rechtsgebieten zu verwerten; weitergehende Schlüsse läßt sie aber im vorliegenden Fall zunächst nicht zu. Es ergibt sich hier nur, daß die tatsächlichen Feststellungen, die das LSG. in dem Tatbestand auf Blatt 2 seines Urteils getroffen hat, nicht ausreichen, um die Schlußfolgerung, ein Versorgungsanspruch der Klägerin sei nicht gegeben, zu rechtfertigen. Die Revision ist deshalb begründet; das Urteil des LSG. ist aufzuheben; gleichzeitig ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen