Entscheidungsstichwort (Thema)
Bestimmung des Versicherungsfalles des Alters. Anwendbarkeit einer Rentenrechtsnorm
Orientierungssatz
1. Der Zeitpunkt des frühesten Beginns des Altersruhegelds legt nicht zugleich den Eintritt des Versicherungsfalls des Alters fest; der Versicherungsfall des Alters tritt vielmehr mit Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 25 Abs 5 AVG bzw § 1248 Abs 5 RVO) oder zu dem vom Versicherten nach Abs 6 aaO bestimmten späteren Zeitpunkt ein und nicht erst dann, wenn zusätzlich alle anderen - versicherungstechnischen - Voraussetzungen des Anspruchs auf Altersruhegeld erfüllt sind (hier zB die tatsächliche Entrichtung der Beiträge gemäß AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 bzw ArVNG Art 2 § 51a Abs 2).
2. Die Anwendbarkeit einer Rentenrechtsnorm richtet sich nach dem Zeitpunkt, in dem der für den geltend gemachten Anspruch auf (höhere) Rente maßgebende Versicherungsfall eingetreten ist.
3. Die Bestimmung eines späteren Zeitpunkts zum Versicherungsfall des Alters, ersichtlich zu dem Zweck, ein für die Berechnung der Rente günstigeres Recht zur Anwendung zu berufen (hier: Umgehung der leistungsbegrenzenden Vorschrift des § 32a S 1 Nr 1 S 3 AVG (= § 1255a S 1 Nr 1 S 3 RVO), ist unschädlich. Reg Nr 15136
Normenkette
AVG § 25 Abs 5 Fassung: 1977-06-27; AVG § 25 Abs 6 Fassung: 1977-06-27; RVO § 1248 Abs 5 Fassung: 1977-06-25, § 1248 Abs 6 Fassung: 1977-06-25, § 1255a S 1 Nr 1 S 3 Fassung: 1977-06-27; AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; AVG § 67; RVO § 1290; AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; AVG § 32a S 1 Nr 1 S 3
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 20.01.1983; Aktenzeichen L 10 An 41/82) |
SG Berlin (Entscheidung vom 25.05.1982; Aktenzeichen S 16 An 453/82) |
Tatbestand
Streitig ist die Höhe eines Altersruhegeldes, im einzelnen die Bewertung einer Ausfallzeit.
Der 1905 geborene Kläger stammt aus Deutschland. Er war nach Beendigung der Schulausbildung in Berlin von 1927 bis 1938 als Selbständiger erwerbstätig. Nach nationalsozialistischer Verfolgung wanderte er 1939 nach den USA aus; er lebt dort als amerikanischer Staatsbürger. Er ist als Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt.
Mit Bescheiden vom 4. Juni 1980 und 4. Dezember 1980 hatte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) dem Kläger auf seinen Antrag vom 10. Januar 1980 gestattet, freiwillige Beiträge zur deutschen Angestelltenversicherung von August 1961 bis Dezember 1973 gem Art 16 Abs 1 der Durchführungsvereinbarung zum deutsch-amerikanischen Sozialversicherungsabkommen iVm Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachzuentrichten. Der Kläger hat die Beiträge dementsprechend tatsächlich im Oktober und Dezember 1980 nachentrichtet.
Mit den streitigen Bescheiden vom 15. April 1981 und - nach Widerspruch hiergegen - vom 1. September 1981 hat die Beklagte dem Kläger auf seinen am 10. Januar 1980 außerdem gestellten Rentenantrag ab 1. Februar 1980 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres in Höhe von damals zuletzt 589,-- DM monatlich bewilligt. Bei der Berechnung berücksichtigte die Beklagte außer den durch die Beitragsnachentrichtung entstandenen 149 Beitragsmonaten als beitragslose Zeiten 17 Monate einer Schulausbildung des Klägers vom 17. November 1921 bis 31. März 1923 (Ausfallzeit), 2 Monate einer nationalsozialistischen Verfolgung von November bis Dezember 1938 und 130 Monate eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts vom 13. März 1939 bis 31. Dezember 1949 (Ersatzzeiten). Dabei bewertete sie die Ersatzzeiten mit durchschnittlichen Werteinheiten von 12,12 pro Monat und die Ausfallzeiten mit dem Höchstbetrag von 8,33 nach § 32a Satz 1 Nr 1 Satz 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF des 20. Rentenanpassungsgesetzes (2O. RAG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I 1040). In der Begründung heißt es, daß der Versicherungsfall am 31. Januar 1980 eingetreten sei, da erst durch die im Januar 1980 beantragte Nachentrichtung zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen der Rentengewährung gegeben seien.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 13. Januar 1982) hat der Kläger gegen die Rentenbescheide Klage erhoben und verlangt, für die Ausfallzeiten nicht den verringerten Wert von 8,33 pro Monat, sondern höhere Werte "unter Berücksichtigung eines Versicherungsfalles zum 31. Dezember 1976 zu gewähren". Er habe den Versicherungsfall des Alters wirksam auf den letztgenannten Zeitpunkt verschoben, so daß die damals für beitragslose Zeiten gültigen höheren Werteinheiten ohne Begrenzung auf einen Höchstbetrag anzurechnen seien.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 20. Januar 1983 hat das Landessozialgericht (LSG) die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom 25. Mai 1982 bestätigt und ausgeführt: Die Rente beginne nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei der "außerordentlichen Nachentrichtung" von Beiträgen mit dem Ersten des Monats, der auf die tatsächliche Entrichtung folge. Zu Gunsten des Klägers sei die Beklagte darüber hinaus auf den Zeitpunkt der Bereiterklärung der Nachentrichtung im Januar 1980 zurückgegangen. Stehe aber der Rentenbeginn mit dem 1. Februar 1980 fest, so könne der Kläger den Versicherungsfall nicht in Anwendung von § 25 Abs 6 AVG weiter zurück auf den 31. Dezember 1976 verlegen, weil damals die Voraussetzungen für ein Altersruhegeld noch gar nicht vorgelegen hätten. Damit scheide eine Bewertung der Ausfallzeiten nach früheren günstigeren Vorschriften als von der Beklagten zugrunde gelegt aus.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision (Beschluß vom 15. November 1983) ficht der Kläger diese Entscheidung an und bringt vor: Das LSG habe die §§ 25 Abs 6 und 67 Abs 1 Satz 1 AVG verletzt. Die Zeitpunkte des Eintritts des Versicherungsfalles einerseits und des Rentenbeginns andererseits seien nicht identisch. Schon während des Widerspruchsverfahrens habe er den Zeitpunkt des Versicherungsfalls des Alters zulässig auf den 31. Dezember 1976 verlegt. Die Beklagte habe den Versicherungsfall demgegenüber rechtswidrig und unwirksam auf den 31. Januar 1980 verschoben. Er könne daher eine Bewertung der Ausfallzeiten mit 12,12 pro Monat, nicht nur mit 8,33 pro Monat verlangen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Januar 1983 - sowie wohl sinngemäß: und des Sozialgerichts Berlin vom 25. Mai 1982 - aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 15. April 1981 und 1. September 1981 sowie Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 13. Januar 1982 zu verurteilen, ihm ein Altersruhegeld unter Berücksichtigung eines am 31. Dezember 1976 eingetretenen Versicherungsfalles zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Meinung, der Kläger habe den Versicherungsfall des Alters nicht auf einen Zeitpunkt nach Vollendung des 65. Lebensjahres verlegen können, da er damals "die Wartezeit-Voraussetzungen" nach § 25 Abs 5 AVG nicht erfüllt gehabt habe. Lebensalter und Wartezeiterfüllung bildeten bis zur Schaffung des Abs 6 aaO eine Einheit. Am 31. Dezember 1976 habe der Kläger eine Wartezeit von 180 Kalendermonaten nicht erfüllt gehabt. Erst nach der im Januar 1980 beantragten Nachentrichtung freiwilliger Beiträge sei dies geschehen; der Kläger könne keinen früher liegenden Zeitpunkt als gewillkürten Versicherungsfall bestimmen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet.
Der Kläger begehrt höheres Altersruhegeld in der Weise, daß ihm für seine 17 Monate umfassende, dem Grunde nach von der Beklagten in den streitigen Bescheiden bereits anerkannte Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG - nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegende weitere schulische Ausbildung - pro Monat - wie bei seinen Ersatzzeiten (NS-Verfolgung) - eine Werteinheit von 12,12, nicht nur von 8,33 zugrunde gelegt werde. Dieses Begehren läßt vor allem die Begründung seiner Revision, aber auch sein - freilich weniger glücklich gefaßter - Revisionsantrag deutlich erkennen.
Durch Art 2 § 2 Nr 11 Buchst a des 20. RAG ist in § 32a Satz 1 Nr 1 AVG folgender Satz 3 eingefügt worden: "Für jeden Kalendermonat an Ausfallzeiten nach § 36 Abs 1 Nr 4 wird höchstens der Wert 8,33 zugrunde gelegt". Die Vorschrift ist am 1. Januar 1978 in Kraft getreten (Art 3 § 6 aaO). Nach § 32a Satz 1 Nr 3 AVG in der bis zum 31. Dezember 1977 anzuwendenden, erst ab 1. Januar 1983 durch Art 20 Nr 7 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857) abgelösten Fassung des Art 1 § 2 Nr 17 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I S 476) wären daher mangels einer besonderen begrenzenden Vorschrift auch die Ausfallzeiten nach § 36 Nr 4 Buchst b AVG nicht anders als die Ersatz- und die sonstigen Ausfallzeiten zu bewerten gewesen; im Falle des Klägers wäre dies ein Wert von 12,12 pro Monat. Hiernach ist vorliegend streitentscheidend, ob § 32a Satz 1 Nr 1 Satz 3 AVG idF des 20. RAG im Falle des Klägers anzuwenden ist. Das ist aus folgenden Gründen zu verneinen:
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG beurteilen sich Inhalt und Wirkung sozialrechtlicher Ansprüche - dem Grunde und der Höhe nach - nach dem Recht, das zur Zeit des anspruchsbegründenden Ereignisses oder Umstands gegolten hat, sofern nicht später in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß anderes bestimmt (vgl zB SozR Nr 1 zu § 9 der 7. BKVO; BSGE 44, 231, 232 = SozR 2200 § 1236 Nr 3; BSGE 45, 213, 214 = SozR 2200 § 182 Nr 29; SozR 2200 § 182 Nr 85; die zur Veröffentlichung bestimmte Entscheidung des BSG vom 20. Oktober 1983 - 7 RAr 17/83). Bei Ansprüchen auf - höhere - Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ist in diesem Sinne anspruchsbegründender Umstand der Versicherungsfall, beim Anspruch auf Altersruhegeld also der Versicherungsfall des Alters: Gegen die Risiken seines Eintritts sichert der Anspruch auf Altersruhegeld ab; nicht bestimmend für die zeitliche Anwendbarkeit einer rentenrechtlichen Norm ist dagegen der Eintritt oder die Vollendung der sonstigen versicherungsrechtlichen - "versicherungstechnischen" - Voraussetzungen des Anspruchs wie zB die Erfüllung der Wartezeit. Richtig ist zwar, daß eine Rente aus den nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG nachentrichteten Beiträgen erst von dem auf die tatsächliche Entrichtung folgenden Monat an zu einem Rentenanspruch führen kann, weil im gegenseitigen Versicherungsverhältnis die Versicherungsleistung der Beitragsleistung entspricht (BSG in SozR 2200 § 1290 Nr 13 mwN). Diese höchstrichterliche Rechtsprechung nimmt allein auf die Vorschrift über den Beginn des Altersruhegeldes nach § 67 Abs 1 Satz 1 AVG Einfluß, indem sie die Vollziehung der nach Art 2 § 49a Abs 2 aaO gestatteten Beitragsnachentrichtung zu den zu erfüllenden "Voraussetzungen" des Anspruchs auf Altersruhegeld rechnet. Der Zeitpunkt des frühesten Beginns des Altersruhegelds legt aber nicht zugleich den Eintritt des Versicherungsfalles des Alters nach § 25 Abs 1 in der bis zum Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) geltenden Fassung/= § 25 Abs 5 AVG in der seither geltenden Fassung fest; dort ist als Versicherungsfall vielmehr - grundsätzlich - die Vollendung des 65. Lebensjahres bestimmt. Mit der Erreichung dieses Lebensalters ist nämlich der Zeitpunkt erreicht, der - wie es Abs 7 aaO aF = Abs 6 aaO nF ausdrückt - "für die Erfüllung der Voraussetzungen (des Anspruchs auf Altersruhegeld) maßgebend" ist. Der Versicherungsfall des Alters tritt unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen des Anspruchs auf Altersruhegeld ein, - nicht anders als die Versicherungsfälle der Berufs- und der Erwerbsunfähigkeit, die - wie § 67 Abs 2 AVG zeigt - unbeschränkt lange vor der Erfüllung der sonstigen Leistungsvoraussetzungen eingetreten sein können.
Da die Beklagte dem Kläger - die dann 1980 tatsächlich vollzogene - Beitragsnachentrichtung in den nicht angefochtenen Bescheiden vom 4. Juni 1980 und 4. Dezember 1980 für die zurückliegende Zeit von August 1961 bis Dezember 1973 bindend iS von § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausdrücklich gestattet hat, bedarf es keiner Erörterung, ob und wieweit etwa der Eintritt des Versicherungsfalls des Alters schon vor dem Jahre 1980 einer wirksamen Beitrags(-nach-)entrichtung und damit der Begründung eines Versicherungsverhältnisses hätte entgegenstehen können.
Der für den Anspruch auf Altersruhegeld maßgebende Versicherungsfall des Alters ist beim Kläger freilich nicht schon mit der Vollendung des 65. Lebensjahres am 17. November 1970, sondern ausnahmsweise erst später eingetreten: Er hat von seinem - bis zum Eintritt der Bindung des Altersruhegeld bewilligenden Bescheids bestehenden (BSGE 37, 257; 46, 279, 281) - Recht nach § 25 Abs 6 AVG (= Abs 7 aaO nF) Gebrauch gemacht, einen späteren, wenn auch im Augenblick der Bestimmung bereits in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt (vgl BSG in SozR 2200 § 1248 Nr 3) als die Vollendung des 65. Lebensjahres zum Versicherungsfall des Alters zu "bestimmen". Daß der Kläger diese Bestimmung eines späteren Zeitpunkts zum Versicherungsfall ersichtlich zu dem Zweck vorgenommen hat, um ein für die Berechnung seiner Rente günstigeres Recht zur Anwendung zu berufen, ist unschädlich (allgemeine Meinung, vgl zB Zweng/Buschmann/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Bd I, § 1248 S 11 unten/S 13 oben; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 7. Aufl, § 1248 Nr 8; vgl ferner § 31 Abs 1a und Abs 1b AVG und die Entscheidung des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1254 Nr 5). Das Bestimmungsrecht des Versicherten nach § 25 Abs 6 AVG ist nur dann, wenn er den Antrag auf Altersruhegeld auf Verlangen der gesetzlichen Krankenkasse gem § 183 Abs 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestellt hat, dahin eingeschränkt, daß die Kasse der Verlegung zustimmen muß (BSG in SozR 2200 § 1248 Nr 33).
Ist aber im vorliegenden Fall der Versicherungsfall des Alters im Jahre 1976 eingetreten, so ist § 32a Satz 1 Nr 1 Satz 3 AVG idF des 20. RAG nicht anzuwenden mit der Folge, daß die Beklagte für die streitige Ausfallzeit wie für die Ersatzzeit nach Satz 1 aaO Werteinheiten pro Monat von je 12,12 zugrunde zu legen hat.
Auf die hiernach begründete Revision des Klägers war zu entscheiden wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen