Entscheidungsstichwort (Thema)

EU muß allein auf Hirnschädigung beruhen

 

Leitsatz (redaktionell)

Das Merkmal des erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten ist erst verwirklicht, wenn die Erwerbsunfähigkeit durch ein vom Gehirn ausgehendes krankhaftes Zustandsbild mit seinen typischen - symptomatischen - Äußerungsformen bedingt ist. Schädigungsfolgen an anderen, hirnfremden Organen sind selbst dann für die Frage der Tatbestandserfüllung nicht zu beachten, wenn sie mit der Hirnschädigung in mittelbarem Zusammenhang stehen (vgl BSG 1969-07-08 9 RV 602/67 = SozR Nr 19 zu § 35 BVG, BSG 1976-07-14 9 RV 214/75).

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 4 Fassung: 1966-12-28

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. August 1975 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger verlangt die Pflegezulage nach Stufe I. Er meint, ihm stehe diese Leistung zu, weil er erwerbsunfähiger Hirnbeschädigter sei (§ 35 Abs. 1 Satz 4 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -). Die Versorgungsverwaltung sieht die Voraussetzung, daß der Kläger infolge seiner Hirnbeschädigung in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v. H. beeinträchtigt sei, nicht für gegeben an. Sie lehnte die Gewährung der Pflegezulage ab.

1944 hatte der Kläger bei einem Verkehrsunfall während des militärischen Dienstes Schädel-Hirnverletzungen davongetragen. Auf den Verschlimmerungsantrag vom 20. Januar 1971, mit dem der Kläger Rente nach einer MdE von mehr als 90 v. H. und Pflegezulage der Stufe I begehrte, wurden als Schädigungsfolgen im Bescheid vom 26. August 1971 (§ 62 BVG) anerkannt: Schädelhirnverletzung mit mittelschwerem Psychosyndrom und kleinhandtellergroßer Knochenlücke im rechten Schläfen- und Scheitelbein, gut verheilter Schlüsselbeinbruch rechts sowie Verlust der Zähne 2-4 recht oben, 2 und 4-6 links oben. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers war bereits 1966 unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit (§ 30 Abs. 2 BVG) als um 90 v. H. gemindert erachtet worden. Zusätzlich bestätigte die Versorgungsverwaltung in dem oben angeführten Bescheid, daß auf dem rechten Ohr des Klägers eine mittelgradige, vorwiegend schallempfindungsbedingte Schwerhörigkeit mit Wahrscheinlichkeit auf das als Schädigungsfolge anerkannte Schädeltrauma zurückzuführen ist. Narben des rechten Trommelfellrahmens, des Trommelfells und des Mittelohrs wurden mit dem Schädelbasisbruch von 1944 in Verbindung gebracht. Allein für letztere Gesundheitsstörung bemaß die Verwaltung die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 10%. Die Voraussetzungen für eine höhere MdE als um 90 v. H. und für eine Pflegezulage hielt sie allerdings nicht für gegeben. Schließlich bezifferte sie - mit Bescheid vom 13. November 1973 - die Einbuße, um welche die Erwerbsfähigkeit des Klägers insgesamt herabgesetzt sei, mit mehr als 90 v. H., und zwar nahm sie für die Schädelhirnverletzung eine MdE von 80 v. H. an. Zuzüglich der Beeinträchtigung infolge der rechtsseitigen Schwerhörigkeit sowie der Trommelfell- und Mittelohrnarben - als solche mit einer MdE von 10 v. H. - kam die Verwaltung in Anwendung der Lohmüller'schen Formel für die Körperschäden auf eine Gesamtzahl von 82 v. H. (nämlich 80 + 10 v. H. der Rest-MdE von 20 v. H.). Dem fügte sie die mit 10 v. H. veranschlagte Erwerbsminderung wegen der besonderen beruflichen Betroffenheit hinzu. Auf dieser Basis bewilligte die Versorgungsbehörde dem Kläger, beginnend mit dem 1. Januar 1971, den Anspruch auf Versorgung eines Erwerbsunfähigen, bezog diesen Tatbestand aber nicht vollends auf die Hirnverletzung.

Der Klage mit dem Ziel, den Beklagten zur Leistung der Pflegezulage zu verurteilen, hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben (Urteil des SG Lübeck vom 15. Oktober 1974); das Landessozialgericht (LSG) hat sie abgewiesen (Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 28. August 1975). Dabei hatte das Berufungsgericht von zwei zusätzlichen ohrenfachärztlichen Stellungnahmen auszugehen. Der vom erstinstanzlichen Gericht befragte Prof. Dr. T hatte ausgeführt, es bestehe beiderseits eine leichte Innenohrschwerhörigkeit mit Hochtonverlust. Als Ursache dieser Erscheinung nahm er die Schädelhirnverletzung an. Dagegen erklärte er, daß die rechtsseitige Schläfenbeinfraktur nicht zu einer solchen Gehörschädigung geführt habe, die rechts größer als links sei. Die für die beiderseits leichte Innenohrschwerhörigkeit zu bemessende MdE bewertete Prof. Dr. T mit höchstens 10%, nahm aber auch an, daß sie in dem für die Hirnschädigung zugebilligten Grad der Erwerbsbeschränkung von 80 v. H. mitenthalten sei. Ergänzend hierzu hatte der im Berufungsverfahren gehörte Oberarzt Dr. K eine linksseitige leichtgradige Innenohrschwerhörigkeit mit drei Komponenten in Verbindung gebracht, nämlich mit einer Vorschädigung durch Lärm, die der Kläger während einer 17-jährigen Tätigkeit als Schmied erfahren habe, ferner mit einer Erschütterung bei dem Unfall im Jahre 1944 und außerdem mit einer altersbedingten Verschlechterung. -- Das Berufungsgericht hat den Begriff des erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten in § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG restriktiv ausgelegt. Darunter falle lediglich der Sachverhalt, daß allein die Hirnschädigung eine Erwerbseinschränkung von mehr als 90 v. H. ergebe. Wenn die Erwerbsunfähigkeit aber auch durch eine andere Gesundheitsstörung hervorgerufen werde, sei der Tatbestand, der die Gewährung der Pflegezulage rechtfertige, nicht erfüllt, und zwar selbst dann nicht, wenn die weitere Gesundheitsstörung - wie möglicherweise hier - indirekt Folge der Stirnhirnverletzung sei. -- Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt. Er verficht die Meinung, daß unter den gegebenen Umständen -enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang - der durch die Hirnschädigung herbeigeführte Gehörschaden für die Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG beachtlich sei. Hinzu komme, daß Hirnbeschädigte unter dem Ausfall von Sinnesorganen ganz besonders litten.

Der Kläger beantragt,

das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

Dem Kläger steht allerdings die Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG nicht schon deshalb zu, weil seine Erwerbsfähigkeit überhaupt um mehr als 90 v. H. gemindert und er als erwerbsunfähig anzusehen ist (§ 31 Abs. 3 BVG i. d. F. vom 20. Januar 1967, BGBl I, 141, 180; § 31 Abs. 3 Satz 2 BVG i. d. F. vom 16. Juni 1975, BGBl I, 1365 = BVG n. F.; zum Begriff der Erwerbsunfähigkeit: BSG 22, 82, 83). Ohne konkrete Ermittlung und Feststellung des Ausmaßes seiner Hilflosigkeit, wie sie in Satz 1 des § 35 Abs. 1 BVG näher umschrieben ist, steht dem Kläger die beanspruchte Leistung nur zu, wenn seine Erwerbsunfähigkeit allein auf der Hirnschädigung beruht (BSG 1, 56, 57 f.; SozR 19 zu § 35 BVG). In diesem Sinne ist § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG zu deuten, wenn auch der Wortlaut der Vorschrift eine Interpretation zuzulassen scheint, die sich auf alle Erwerbsunfähigen mit - u. a. - einer Hirnschädigung bezieht. Der Zweck dieser Gesetzesnorm und die mit ihr verfolgte Absicht erlauben es indessen nicht, unter sie Hirnschädigungen ohne Rücksicht auf die Art und den Schweregrad des Leidens zu subsumieren. Die Sonderstellung, die Hirnbeschädigten an dieser Gesetzesstelle eingeräumt wird, nämlich daß ihnen ohne Nachweis eines besonderen Grades der Hilflosigkeit Pflegezulage zugestanden wird, ist gegenüber anderen gleich hart getroffenen Kriegsversehrten nur zu rechtfertigen, wenn die Erwerbsfähigkeit durch die Hirnschädigung für sich allein völlig aufgehoben ist (Deutscher Bundestag 1. Wahlperiode, Verhandlungen des 26. Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen S. 38 D, ferner S. 39 B bis D, 139 D und Drucksache I/1466 S. 18 zu § 34 des Gesetzentwurfs; BSG aaO; Urteil vom 19. Dezember 1957 - BVBl 1958, 69). Bloß dann ist es angebracht, von konkreten Ermittlungen im Hinblick auf die Hilflosigkeit abzusehen. Das Merkmal des erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten ist erst verwirklicht, wenn die Erwerbsunfähigkeit durch ein vom Gehirn ausgehendes krankhaftes Zustandsbild mit seinen typischen - symptomatischen - Äußerungsformen bedingt ist. Schädigungsfolgen an anderen, hirnfremden Organen sind selbst dann für die Frage der Tatbestandserfüllung nicht zu beachten, wenn sie mit der Hirnschädigung in mittelbarem Zusammenhang stehen (BSG SozR Nr. 19 zu § 35 BVG; Urteil vom 14. Juli 1976 - 9 RV 214/75 -).

Ob die Situation des Klägers diesen Anforderungen entspricht, kann beim gegenwärtigen Stand der Tatsachenermittlungen nicht beantwortet werden. Dazu hat das LSG ausgeführt, daß die Schwerhörigkeit entweder unabhängig von der Hirnverletzung auf eine Schläfenbeinfraktur zurückgehe oder mit der Stirnhirnverletzung nur indirekt zusammenhänge. Für die Annahme, daß zwischen der Einschränkung der Hörfähigkeit und der gestörten Hirntätigkeit eine bloß mittelbare Ursachenverbindung bestehe, fehlt indessen in dem angefochtenen Urteil die zuverlässige nachprüfbare Grundlage. Weder der Tatbestand noch die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils enthalten eine konkrete Angabe über die Art und Weise der vom Gehirn auf das Hörvermögen ausgehenden Funktionsstörungen; vor allem ist nicht erkennbar, aus welchen Tatsachen oder Ermittlungsergebnissen das LSG die Indirektheit dieses Einflusses herleitet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hätte es sogar nahegelegen, der Möglichkeit einer anderen Tatsachenbewertung nachzugehen. Der Sachverständige Prof. Dr. T hatte die Innenohrschwerhörigkeit, und zwar bezeichnenderweise beider Ohren, gerade nicht auf die Schläfenbeinfraktur, sondern auf die Schädelhirnverletzung zurückgeführt. Dies hat er damit begründet, daß es sich um eine "beiderseits symmetrische Innenohrschwerhörigkeit" handele, die rechts nicht stärker als links in Erscheinung trete. Von dieser medizinischen Beurteilung her wäre unter Berücksichtigung der Beurteilung durch Dr. W vom 13. Mai 1971 (VA 401) zu fragen gewesen, ob die Innenohrschwerhörigkeit sich unmittelbar von dem Hirn als dem zentralen Verletzungsort herleite (zur gebotenen Gesamtschau des Leidens und zum physiologischen Zusammenhang lokaler Funktionsausfälle mit einem Hirntrauma: BSG, Urteil vom 14. Juli 1976 - 9 RV 214/75 - m. N.). Sollte dies zutreffen, was indessen nach den Ausführungen von Oberarzt Dr. K wieder in Frage zu stellen ist, könnte bereits wegen der Hirnverletzung allein die Erwerbsfähigkeit des Klägers um mehr als 90 v. H. herabgesetzt sein. Denn zu dem Hirnschaden - schon jetzt allein auf eine MdE von 80 v. H. geschätzt - ist die Erwerbsbehinderung infolge des besonderen beruflichen Betroffenseins mit Recht hinzugerechnet worden (BSG 22, 82).

Indem das LSG, wie ausgeführt, ohne einen nachprüfbaren Tatsachenbeleg von einer bloß indirekten Beziehung zwischen eingeschränktem Hörvermögen und Hirnverletzung ausgegangen ist, hat es gegen das Verfahrensrecht verstoßen. Dieser Verfahrensfehler zwingt dazu, das angefochtene Urteil auch ohne besondere Rüge aufzuheben. Denn ohne Feststellung der für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen ist das Berufungsurteil durch das Revisionsgericht nicht zu kontrollieren. Ein solcher Mangel ist von Amts wegen zu beachten (BSG SozR Nr. 6 zu § 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Damit der Sachverhalt in der angegebenen Richtung geklärt und festgestellt werden kann, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Dem Berufungsgericht bleibt vorbehalten, über die Pflicht zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649384

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