Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Differenzierung nach lokalen Funktionsausfällen

 

Leitsatz (amtlich)

Pflegezulage ohne Nachweis von Hilflosigkeit können Hirnbeschädigte beanspruchen, bei denen die anerkannte Hirnschädigung - ggf unter Berücksichtigung eines beruflichen Betroffenseins (BSG 1964-11-05 10 RV 99/64 = BSGE 22, 82) - durch psychische Symptome und neurologische Ausfälle an sonstigen Organsystemen (hier: Halbseitenblindheit) zusammen eine MdE um mehr als 90 vH bedingt (Abgrenzung zu BSG 1969-07-08 9 RV 602/67 = SozR Nr 19 zu § 35 BVG). Das Differenzierungsgebot des DV § 31 Abs 5 BVG § 2 Abs 2 S 1 iVm Abs 3 berührt nicht die Anwendung des BVG § 35 Abs 1 S 4.

 

Leitsatz (redaktionell)

Wenn es auf allgemeine medizinische Erkenntnisse ankommt, die zur Deutung des Begriffs "Erwerbsunfähige Hirnbeschädigte" in BVG § 35 Abs 1 S 4 beitragen, so können sie sich nur aus der für die nervenärztliche Beurteilung maßgebenden Gesamtschau ergeben. Die aufspaltende Systematik der DV § 31 Abs 5 BVG § 2 Abs 2 und 3 als ein "Kunstgriff" zur möglichst detaillierten Punktbewertung würde im Anwendungsbereich des BVG § 35 Abs 1 S 4, wo zu prüfen ist, ob die Erwerbsunfähigkeit allein auf den Auswirkungen der Hirnschädigung beruht, ihren Sinn und Zweck verfehlen.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 4 Fassung: 1960-06-27, § 31 Abs. 5 Fassung: 1970-07-10; BVG§31Abs5DV § 2 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1970-04-20, Abs. 3 Fassung: 1970-04-20

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. August 1975 und des Sozialgerichts Würzburg vom 16. Oktober 1974 sowie der Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1972 geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 1. September 1972 Pflegezulage der Stufe I zu gewähren und verpflichtet, für die vorhergehende Zeit einen Bescheid gemäß § 40 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz zu erteilen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Vorinstanzen zur Hälfte und die der Revisionsinstanz in vollem Umfang zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger als erwerbsunfähiger Hirnverletzter anzusehen ist, dem nach § 35 Abs. 1 Satz 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) mindestens Pflegezulage der Stufe I zusteht.

Die Verwundung des Klägers durch Kopfschuß im März 1942 hinterließ einen Knochendefekt, psychische Beeinträchtigungen und eine Halbseitenblindheit (Hemianopsie). Bei einem Treppensturz im Oktober 1953, der ursächlich auf die Hemianopsie zurückzuführen war, verletzte sich der Kläger am linken Innenohr, was zusätzlich als mittelbare Schädigungsfolge anerkannt wurde.

Wegen näherer Einzelheiten zum Sachverhalt und Verfahrensverlauf sowie zur Rechtsauffassung der Tatsachengerichte wird auf das die Berufung des Klägers zurückweisende Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 7. August 1975, veröffentlicht in Breithaupt 1976, 308, verwiesen. Das LSG hat die Revision hinsichtlich des Anspruchs auf Pflegezulage zugelassen.

Mit der Revision vertritt der Kläger die Meinung, der anerkannten Schädigungsfolge liege nur eine Schädigung, nämlich eine Hirnverletzung, zugrunde, die mit 60 v. H. den Funktionsbereich I und mit 30 v. H. den Funktionsbereich II des Gehirns betreffe, weshalb unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit die Minderung der Erwerbsfähigkeit(MdE) mehr als 90 v. H. betrage, wodurch Erwerbsunfähigkeit (EU) allein wegen der Hirnverletzung nach § 31 Abs. 3 BVG gegeben sei, was zur Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG führe. Die für die Berechnung der Schwerstbeschädigtenzulage in § 2 Abs. 3 der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs. 5 BVG (DVO) enthaltene Aufzählung von Organsystemen und die in § 2 Abs. 2 Satz 1 DVO gegebene Anweisung, Auswirkungen von Schäden eines Organsystems an Gliedmaßen oder anderen Organsystemen bei denjenigen zu bewerten, deren Funktion geschädigt sei, könnten für die Prüfung der Voraussetzungen ... des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG keine Anwendung finden, weil § 2 der Verordnung auf die Schwerstbeschädigtenzulage beschränkt sei, die von anderen Voraussetzungen als die Pflegezulage abhänge. Eine Einbeziehung des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG in die Regelung des § 2 Abs. 2 und 3 DVO sei nicht vorgenommen worden. Es entspreche auch keiner allgemeinen medizinischen Erkenntnis, die zweifelsfreien Folgen einer Hirnschädigung als selbständige Organschäden zu bezeichnen. Vielmehr müsse das Ausmaß und die Schwere der Hirnverletzung ausschließlich nach den Ausfällen in den Funktionsbereichen I und II des Gehirns beurteilt werden. Die EU werde nicht durch eine Augenschädigung, sondern durch das Ausmaß des Hirnschadens bedingt, weil unstreitig die Augen völlig gesund und nicht von einer eigenen Schädigung betroffen worden seien.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. August 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 16. Oktober 1974 aufzuheben, soweit darin der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Pflegezulage zurückgewiesen worden ist und den Beklagten unter Abänderung seines Bescheides vom 11. August 1972 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1972 zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Januar 1964 als erwerbsunfähigem Hirnbeschädigten Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Für die Hirnverletzungsfolgen (MdE 60 v. H.) und den linksseitigen Gesichtsfeldausfall (MdE 30 v. H.) sei eine medizinische MdE von 80 v. H. gebildet und nach § 30 Abs. 2 BVG auf 90 v. H. erhöht worden. Die weitere Erhöhung auf über 90 v. H. beruhe auf der zusätzlichen Anerkennung der durch den Unfall von 1953 bedingten leichten Schwerhörigkeit links (MdE 5 v. H.) als mittelbarer Schädigungsfolge. Die EU werde erst durch die Berücksichtigung von Gesundheitsstörungen an hirnfremden Organen erreicht. Die in § 2 DVO zu § 31 Abs. 5 BVG vorgenommene Aufgliederung der menschlichen Organsysteme diene als legales Hilfsmittel bei der Unterscheidung zwischen einer "eigentlichen" Hirnschädigung und unmittelbaren bzw. mittelbaren Hirnverletzungsfolgen außerhalb des Gehirns.

Die Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die hinsichtlich des noch streitigen Anspruchs auf Pflegezulage vom LSG zugelassene Revision (§ 160 Abs. 1 SGG) hat Erfolg.

Nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG erhalten erwerbsunfähige Hirnbeschädigte ohne konkrete Feststellung der Hilflosigkeit und ihres Ausmaßes eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I. Wer in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v. H. beeinträchtigt ist, gilt als erwerbsunfähig (§ 31 Abs. 3 BVG idF vom 20. Januar 1967 - BGBl I 141, 180 -; § 31 Abs. 3 Satz 2 BVG idF vom 16. Juni 1975 - BGBl I 1365 -). Ein Hirnbeschädigter ist im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG erwerbsunfähig, wenn allein aufgrund der Hirnschädigung eine MdE, die sich aus § 30 Abs. 1 und 2 BVG ergibt, von mehr als 90 v. H. vorliegt (VerwV Nr. 7 Satz 1 zu § 35 BVG). Diese von der Rechtsprechung übernommene gesetzeskonforme Auslegung (BSG 1, 56; 8, 69; 22, 82; Urteil vom 19. Dezember 1957 - BVBl 1968, 69) entspricht auch dem kundgemachten Willen des Gesetzgebers (DBT, I. Wahlperiode, Drucks. Nr. 1333; Verhandlungen des 26. Ausschusses S. 38 D, S. 39 B bis D, 139 D), wonach den "100 %ig Hirnverletzten" hinsichtlich des Anspruchs auf Pflegezulage eine ähnliche Sonderstellung wie den Blinden einzuräumen sei. Hieran hält der Senat ebenso wie im Urteil vom 8. Juli 1969 (SozR § 35 BVG Nr. 19) weiterhin fest.

Nach der letztgenannten Entscheidung ist § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG unanwendbar, wenn die EU erst durch eine mittelbare Folge der anerkannten Hirnschädigung an einem hirnfremden Organ erreicht wird. Hierauf zielt der Beklagte mit seiner Revisionserwiderung ab, wenn er vorträgt, die MdE von 90 v. H. sei beim Kläger erst dadurch überschritten worden, daß noch eine leichte Schwerhörigkeit links als Folge des Unfalls von 1953 mit einer MdE um 5 v. H. zusätzlich im Bescheid vom 11. August 1972 anerkannt worden sei. Träfe dies zu, so wäre allerdings ein mit dem Urteil vom 8. Juli 1969 voll übereinstimmender Sachverhalt gegeben und der Anspruch auf Pflegezulage somit unbegründet. Das Vorbringen des Beklagten verkennt jedoch die Tragweite des genannten Bescheids, wie sie sich aus dessen Ausspruch und Begründung nebst den sie stützenden Aktenunterlagen ergibt. Zwar hatte das Landesversorgungsamt in seiner internen Weisung vom 2. August 1972 (Versorgungsakte Bl. 211-213) wohl eine solche Regelung im Sinne, wie sie jetzt in der Revisionserwiderung vorgetragen wird. Das Versorgungsamt Würzburg hat indessen bei der Formulierung des Bescheids vom 11. August 1972 - sachlich übrigens durchaus zu Recht - diese Weisung nicht strikt befolgt. Vielmehr ist dem Bescheid eindeutig folgende Regelung zu entnehmen: Für die Schädigungsfolgen - von Anfang an: Großer Knochendefekt am ... Scheitelbein mit Hirnverletzung, ... Gesichtsfeldausfall ..., später hinzugekommen: Leichte Schwerhörigkeit links bei Ohrgeräuschen nach Unfall - beträgt die MdE im allgemeinen Erwerbsleben 80 v. H.; unter Berücksichtigung des beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs. 2 BVG) wird eine MdE von mehr als 90 v. H. und damit (§ 31 Abs. 3 BVG) die EU erreicht. Die mittelbare Schädigungsfolge am linken Innenohr ist also gerade nicht mit einer zusätzlichen MdE nach § 30 Abs. 1 BVG (5 v. H. nach den Vorstellungen des Landesversorgungsamts) bewertet, sondern in den MdE-Satz von 80 v. H. einbezogen worden, der bereits in nerven- und augenärztlichen Gutachten für die früher anerkannten Hirntraumafolgen festgesetzt worden war. Bei diesem Vorgehen orientierte sich das Versorgungsamt offenbar an dem Gutachten des HNO-Arztes Dr. M (Versorgungsakte Bl. 137-140), der zusammenfassend darlegte, durch die jetzt nur noch bestehenden Ohrgeräusche links ändere sich bezüglich der Höhe der Gesamt-MdE nichts an den bisher getroffenen Feststellungen; die Gesamt-MdE vonseiten der bisher anerkannten Schädigungsfolgen unter Berücksichtigung der neu anzuerkennenden Ohrgeräusche links betrage weiterhin 80 v. H. - Hiernach enthält der Bescheid vom 11. August 1972 unmißverständlich - und auch sachlich zutreffend - die Feststellung, die MdE nach § 30 Abs. 1 BVG betrage 80 v. H. (wofür allein die unter II 1 aufgeführten Schädigungsfolgen maßgebend sein konnten), die MdE nach § 30 Abs. 2 belaufe sich auf mehr als 10 v. H., also praktisch 20 v. H. Folgerichtig ist denn auch bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs in den Anlagen zum Bescheid vom 11. August 1972 (Bl. 215, 216) als Grundrentenerhöhung i. S. von § 30 Abs. 5 BVG (damaliger Fassung, jetzt Abs. 6) die Differenz zwischen 100 v. H. und 80 v. H. eingesetzt worden. Durch den Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1972 wurde der Bescheid vom 11. August 1972 in seinem Ausspruch nicht berichtigt.

Die bescheidmäßig festgestellte MdE im allgemeinen Erwerbsleben (80 v. H.) hat also zur Grundlage die Gesundheitsstörungen, die der Beklagte als "eigentliche Gehirnschädigung" bezeichnet (isoliert 60 v. H.) und die Hemianopsie (30 v. H.). Nach der von den Tatsacheninstanzen gebilligten Auffassung des Beklagten soll die Sehbeeinträchtigung bei der Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG außer acht bleiben, weil sie - obschon bei unverletzten Augen allein auf einer Läsion der Okzipitalrinde beruhend - keine Beeinträchtigung der Hirnfunktion darstelle. Bei der Frage, welches Körperorgan als geschädigt anzusehen sei, komme es - so das LSG - nicht darauf an, an welchem Organsystem sich die die Schädigung bewirkenden anatomischen Veränderungen befänden, sondern darauf, an welchem Organsystem sich die Schädigung auswirke.

Diese Betrachtungsweise folgt uneingeschränkt den Richtlinien, die für die Beurteilung der Begriffe "Schwerstbeschädigte" und "gesundheitlich außergewöhnlich betroffen" (§ 31 Abs. 5 BVG) in der zu dieser Vorschrift erlassenen DVO (vom 17.4.1961 -BGBl I 453, hierzu BMA-Rdschr. vom 18.5.1961, BVBl 1961, 70 Nr. 42; später § 2 in Fassung der 2. ÄndVO vom 19.8.1969 -BGBl I 1352) aufgestellt wurden. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 DVO sind Auswirkungen von Schäden eines Organsystems an Gliedmaßen oder an anderen Organsystemen bei den Gliedmaßen oder Organsystemen zu bewerten, die in ihrer Funktion geschädigt sind; Abs. 3 zählt im Sinne dieses Differenzierungsgebots eine Reihe von abgegrenzten Organsystemen auf, darunter "Sehen, Gehör, Sprache ... Gehirnbereich I (Funktion der Wesensbildung und der geistigen Leistung) und Gehirnbereich II (zentral-nervale Funktion"). Das SG Würzburg wollte dieses Modell im Wege der analogen Anwendung zur Auslegung des § 35 Abs. 1 Satz 4 heranziehen; das LSG läßt zwar Vorbehalte gegen eine rechtliche Analogie erkennen, meint indessen, die Aufzählung von Organsystemen und das Differenzierungsgebot seien Ausfluß allgemeiner medizinischer Erkenntnisse. - Dem kann nicht beigepflichtet werden.

Das Ziel des § 31 Abs. 5 BVG sollte mit einer Punktbewertung verwirklicht werden, bei der es u. a. geboten sein konnte, eine einzige anerkannte Schädigungsfolge in mehrere Teilbereiche aufzuspalten, damit eine vielgestaltige Schädigungsfolge mit Auswirkungen in zahlreichen Organen ihre gerechte Wertung erfahren konnte (vgl. Hiersemann, VersorgB 1961, 133, 135). Der Rechtsprechung, die zunächst die Systematik funktionsbezogener Unterteilungen etwas zurückhaltend anwandte (vgl. BSG 24, 76, 80), wurde von höchster versorgungsmedizinischer Stelle entgegengehalten, die Zugrundelegung möglichst vielfältig aufgespaltener funktioneller Auswirkungen statt des einen, für alle Auswirkungen kausalen Krankheitsherdes sei bewußt gewählt worden, weil nur dadurch die schweren und schwersten Schädigungen mit ihren vielseitigen Auswirkungen ausreichend erfaßbar seien (vgl. Goetz, KOV 1966, 41, 42); auch diese, ganz auf die Besonderheiten der Schwerstbeschädigtenzulage ausgerichtete, versorgungsmedizinische Darstellung gibt indessen zu verstehen, daß Gesundheitsstörungen verschiedenster Art (Wesensänderung, Hirnleistungsschwäche, Krampfanfälle, Erblindung, Ertaubung, Extremitätenlähmungen) als Folgen einer Hirnverletzung natürlich nicht beziehungslos nebeneinander existieren, sondern sich gleichwertig von dem gemeinsamen zentralen Verletzungsort herleiten. Wenn sodann das BSG in dem Urteil vom 29. Januar 1970 (BVBl 1970, 127) aufgrund der Neufassung des § 2 Abs. 2 DVO diese besondere Perspektive des § 31 Abs. 5 BVG übernommen hat, so hat es gleichzeitig mit Recht hervorgehoben, daß eine solche von der Gesamtbetrachtung des Leidens abgehende Differenzierung nach lokalen Funktionsausfällen eben ausschließlich den Zwecken der Punktbewertung dient, die an sich bestehenden physiologischen Zusammenhänge indessen bewußt vernachlässigt. Eine Gesamtbetrachtung des Leidens unter Beachtung der physiologischen Zusammenhänge ist aber bei medizinischen Beschreibungen von Hirntraumafolgen selbstverständlich. Das Krankheitsbild, wie es sich für den ärztlichen Sachverständigen darstellt, umfaßt in untrennbarer Geschlossenheit alle Kombinationen von vegetativen Beschwerden, psychopathologischen Defekten, neurologischen Ausfällen (Paresen, "Werkzeugstörungen") und so fort; zur Kategorie der "Werkzeugstörungen" zählt u. a. die hirntraumatische Hemianopsie (vgl. Loew/Herrmann im Handbuch der gesamten Unfallheilkunde - Herausg. Bürkle de la Camp/Schwaiger -, 3. Aufl. Bd. II S. 122 ff., 132, 164, 165; Müller in "Die ärztliche Beurteilung Beschädigter" - Herausg. Schöneberg -, 4. Aufl. S. 405 ff., 409, 410). Dementsprechend werden übrigens in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausgabe 1973, S. 183/4) Hirnschädigungsfolgen wie "hirnpathologische, herdbedingte Ausfälle" (= Werkzeugstörungen), "Paresen und Lähmungen" beim Organsystem "Gehirn" und nicht etwa nur bei "Sehorgan", "Hörorgan" oder "Gliedmaßen" aufgeführt. Wenn es auf allgemeine medizinische Erkenntnisse ankommt, die zur Deutung des Begriffs "Erwerbsunfähige Hirnbeschädigte" in § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG beitragen, so können sie sich nur aus dieser für die nervenärztliche Beurteilung maßgebenden Gesamtschau ergeben. Die aufspaltende Systematik des § 2 Abs. 2 und 3 DVO zu § 31 Abs. 5 BVG als ein "Kunstgriff" zur möglichst detaillierten Punktbewertung würde im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG, wo zu prüfen ist, ob die EU allein auf den Auswirkungen der Hirnschädigung beruht, ihren Sinn und Zweck verfehlen.

Zutreffend hat das LSG allerdings ausgeführt, der Gesichtsfeldausfall müsse im Bescheid ausdrücklich als Schädigungsfolge anerkannt werden. Dies steht jedoch der Zugehörigkeit dieser Gesundheitsstörung zum Oberbegriff "Hirnschädigung" keineswegs entgegen. Denn genauso verhält es sich mit sonstigen Einzelsymptomen nach einem Hirntrauma (wie z. B. "Wesensänderung, zerebrale Anfälle" und dgl.), die gleichfalls im Bescheid ausdrücklich festzustellen sind.

Die EU des Klägers resultiert mithin aus den mit einer MdE um 80 v. H. im allgemeinen Erwerbsleben bewerteten Hirntraumafolgen zusammen mit der Höherbewertung um mehr als 10 v. H. gemäß § 30 Abs. 2 BVG. Der Anspruch des Klägers auf die Pflegezulage nach Stufe I ist zu Unrecht abgelehnt worden. Auf die begründete Revision sind deshalb die vorinstanzlichen Urteile und der Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1972, soweit sie diesen Anspruch betreffen, zu ändern. Der Beklagte ist zur Gewährung der Pflegezulage, die der Kläger erstmals in der Widerspruchsbegründung vom 6. September 1972 beantragt hat, ab 1. September 1972 zu verurteilen. Über einen Leistungsbeginn vor diesem Zeitpunkt (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 4. Februar 1976 - 9 RV 564/74 -) ist dem Kläger ein neuer Bescheid zu erteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647745

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