Leitsatz (redaktionell)
Formalmitgliedschaft bei Rentenantragstellung nach ArVNG Art 2 § 51a:
Eine Formalmitgliedschaft nach RVO § 315a tritt auch bei denjenigen Antragstellern ein, die eine Rente nach ArVNG Art 2 § 51a (Abs 2 und Abs 4) beantragt haben.
Normenkette
RVO § 315a S. 1 Abs. 1 Fassung: 1967-12-21; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16, Abs. 4 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 27.08.1975; Aktenzeichen L 9 Kr 53/74) |
SG Berlin (Entscheidung vom 25.04.1974; Aktenzeichen S 74 Kr 457/73) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 1974 und des Landessozialgerichts Berlin vom 27. August 1975 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die 1904 geborene Klägerin beantragte am 8. Februar 1973 bei der Landesversicherungsanstalt Berlin Altersruhegeld, nachdem sie Ende 1972 Beiträge nach Art 2 § 51 a Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - (idF des Rentenreformgesetzes - RRG - vom 16. Oktober 1972, BGBl I 1965) für die Zeit vom 1. Januar 1956 bis zum 31. Dezember 1972 nachentrichtet hatte. Bereits in diesem - formlosen - Antrag wies die Klägerin darauf hin, daß nur diese Beiträge angerechnet werden könnten. Durch Bescheid vom 19. Oktober 1973 wurde Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Januar 1973 an bewilligt. In ihm ist nach Art 2 § 51 a Abs 4 ArVNG die Feststellung getroffen worden, daß die Rente nicht als Rente im Sinne des § 165 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gelte.
Die Klägerin meint, sie sei auch in der Zeit zwischen Rentenantragstellung und der Bewilligung des lediglich auf den nachentrichteten Beiträgen beruhenden Altersruhegeldes nicht Mitglied der beklagten Kasse gewesen und sei deshalb auch nicht beitragspflichtig. Ihren zur Durchsetzung dieses Zieles bereits am 17. Mai 1973 gestellten Befreiungsantrag lehnte die beklagte Postbetriebskrankenkasse mit der Begründung ab, die Antragsfrist (§ 173 a Abs 2 iVm § 315 a Abs 1 Satz 2 RVO) sei versäumt. Außerdem sei die Klägerin, da sie nur Anspruch auf Familienhilfe habe, nicht selbst versichert (Bescheid vom 14. Juni 1973, Widerspruchsbescheid vom 14. September 1973).
Im Klageverfahren hatte die Klägerin Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat die vorgenannten Bescheide der beklagten Krankenkasse aufgehoben und antragsgemäß festgestellt, daß die Klägerin in der Zeit von Februar bis November 1973 keine Krankenversicherungsbeiträge schulde. Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil bestätigt und im wesentlichen ausgeführt: Eine Mitgliedschaft nach § 315 a RVO, die allenfalls zur Begründung der Beitragspflicht nach § 381 Abs 3 Satz 2 RVO herangezogen werden könne, sei nicht eingetreten. Schon der Wortlaut, der eine Rentenablehnung voraussetze, sei nicht erfüllt. Aber auch der Sinn dieser Vorschrift verbiete die Anwendung auf Fälle, in denen ein Rentenantrag - wie hier - wegen der ausdrücklichen Regelung des Art 2 § 51 a Abs 4 ArVNG nicht zur - echten - Mitgliedschaft führen könne. Die Rentenantragsteller, die die Rentenvoraussetzungen nur mit nach Art 2 § 51 a Abs 2 ArVNG nachentrichteten Beiträgen erfüllen und die übrigen Rentenantragsteller könnten auch ohne unüberwindliche verwaltungstechnische Schwierigkeiten unterschieden werden.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Sie meint, es sei nicht rechtserheblich, ob die formale Mitgliedschaft durch die Ablehnung eines Rentenantrags oder durch die Bewilligung einer Rente nach Art 2 § 51 a Abs 2 und Abs 4 ArVNG beendet werde.
Sie beantragt,
die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
In seinem Urteil vom 16. Dezember 1975 (BSGE 41, 85) hat der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden, daß § 315 a RVO (in der hier maßgebenden Fassung des Art 1 § 1 Nr 13 des Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 - BGBl I 1259) auch in Fällen gilt, in denen - wie im vorliegenden Rechtsstreit - eine Rente beantragt wird, für die die Wartezeit nur mit Hilfe von nach Art 2 § 51 a Abs 2 ArVNG idF des RRG nachentrichteten freiwilligen Beiträgen erfüllt wird. Dieser Auffassung hat sich der 12. Senat in zwei Urteilen vom 30. Juni 1977 (12 RK 7/76 und 12/3 RK 87/75) angeschlossen. Der erkennende Senat hält die hierfür in den vorgenannten Urteilen und in einem - auf Anfrage des erkennenden Senats ergangenen - Beschluß des 11. Senats vom 10. Mai 1977 - 11 S 1/77 - gegebene Begründung trotz einiger Bedenken für vertretbar.
Nach § 315 a RVO gelten Personen, die eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beantragt haben, ohne die Voraussetzungen für den Bezug von Rente zu erfüllen, als Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Personen haben in der Zeit zwischen dem Rentenantrag und der endgültigen Ablehnung dieses Antrags die Beiträge selbst zu tragen (§ 381 Abs 3 Satz 2 RVO). Die fingierte Mitgliedschaft ist nach ihrer ursprünglichen Zielsetzung zugunsten der Rentenbewerber gedacht, deren Rentenantrag abgelehnt wird. Sie soll in Verbindung mit der faktischen Mitgliedschaft der erfolgreichen Rentenbewerber (§ 306 Abs 2 RVO) dafür sorgen, daß alle Rentenbewerber ohne Rücksicht auf die Erfolgsaussicht ihres Rentenantrags im Krankheitsfalle voll geschützt sind. Dafür besteht ein besonderes Interesse, weil mit dem Rentenantrag vielfach ein Schwebezustand zwischen dem Arbeitsleben und dem Ruhestand beginnt, in dem der Krankenversicherungsschutz unentbehrlich ist.
Diese Regelung hat zur Folge, daß Beiträge auch in Fällen zu zahlen sind, in denen an einer zeitlich beschränkten Krankenversicherung nach § 315 a RVO kein Interesse besteht. Solche Fälle, die als Ausnahmen in Erscheinung treten, sind in Kauf zu nehmen, weil damit eine sozialpolitisch insgesamt sinnvolle Regelung ermöglicht wird (vgl BVerfGE 13, 21, 29).
§ 315 a RVO muß aber auch eingreifen, wenn jemand bewußt vorzeitig, dh vor dem überhaupt möglichen oder angestrebten Beginn der Rente einen Rentenantrag stellt, wie es häufig beim Altersruhegeld der Fall ist. In der Zeit zwischen dem Antrag auf Altersruhegeld und der Vollendung des 65. Lebensjahres muß hier ebenfalls das allgemeine Interesse an einem lückenlosen Krankenversicherungsschutz Vorrang haben vor einem etwa entgegenstehenden Interesse im Einzelfall. Das kann auch deshalb in Kauf genommen werden, weil im Falle der Beschäftigung bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres die Mitgliedschaft nach § 315 a RVO durch die Pflichtversicherung verdrängt wird (§ 315 a Abs 3 RVO iVm § 165 Abs 6 RVO), und bei einer ausreichenden privaten Versicherung die Befreiung möglich ist (§ 315 a Abs 1 Satz 2 RVO iVm § 173 a RVO).
Die Anwendung des § 315 a RVO in der Zeit zwischen dem vorzeitigen Rentenantrag und dem Bezug der Rente entspricht zwar nicht dem Wortlaut dieser Vorschrift, die eine Rentenablehnung (§ 315 a Abs 2 Satz 2 RVO) voraussetzt. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 23, 293, 295, 296) wird aber für die Zeit zwischen dem Antrag und der Vollendung des 65. Lebensjahres im Interesse der gebotenen Anwendung des § 315 a RVO nach seinem Sinn und Zweck eine Rentenablehnung fingiert.
Die Frage, ob auch in Fällen der Bewilligung einer Rente nach Art 2 § 51 a Abs 4 ArVNG eine Rentenablehnung fingiert werden muß, ist in den vorgenannten Entscheidungen des 11. und 12. Senats im Ergebnis bejaht worden.
Gegen diese Auffassung kann vor allem geltend gemacht werden, daß in allen Fällen, in denen mit Hilfe der Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 51 a Abs 2 ArVNG die Rentenvoraussetzungen erfüllt werden, die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) ausgeschlossen ist. Es handelt sich, wenn man diesen Personenkreis im Auge hat, somit nicht um Ausnahmefälle, die im Interesse der Funktionsfähigkeit einer Massenverwaltung in Kauf genommen werden müßten. Diese Versicherten unterscheiden sich von den erfolglosen - und den vorzeitigen - Rentenbewerbern dadurch, daß sie eine Rente, die zur KVdR führt, nicht einmal erstreben können. Schließlich soll Art 2 § 51 a Abs 4 ArVNG die hier genannten Rentner von den Vorteilen der kostenlosen Krankenversicherung ausschließen, ihnen aber nicht - wie dies bei Anwendung des § 315 a RVO iVm § 381 Abs 3 RVO geschieht - einen Nachteil auferlegen.
Diese Bedenken greifen aber im Ergebnis nicht durch, weil bei Antragstellung regelmäßig nicht erkannt werden kann, daß es sich um einen Rentenbewerber handelt, dessen Versicherungsbild so ist, daß nur eine Rente nach Art 2 § 51 a Abs 4 ArVNG in Betracht kommt. Die Frage, ob "weder die Wartezeiten nach § 1246 Abs 3, § 1247 Abs 3 und § 1248 Abs 7 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung ohne Anrechnung von Beiträgen nach Absatz 2 noch die Voraussetzungen des § 1259 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung erfüllt" sind, kann regelmäßig nur der Rentenversicherungsträger, dem die Versicherungsunterlagen zur Verfügung stehen, prüfen. Sie ist erst mit dem bindenden Rentenbescheid geklärt. Die Fälle, in denen diese Frage ohne weitere Ermittlung zu entscheiden ist, etwa weil ausschließlich Beiträge nach Art 2 § 51 a Abs 2 ArVNG in Betracht kommen, dürften recht selten sein. Sogar im vorliegenden Fall war die Klägerin zeitweise - vor ihrer Verehelichung - versichert. Vielfach kann der Antragsteller selbst nicht beurteilen, ob die Voraussetzungen der Wartezeit oder der Halbbelegung erfüllt sind. Deshalb kann in diesem Rechtsstreit auch der Hinweis der Klägerin, daß nur die Anrechnung der freiwillig nachentrichteten Beiträge erfolgen müßte, nicht als Grundlage für eine von dem Regelfall abweichende Entscheidung genommen werden. Fraglich ist bei der Antragstellung überdies, ob die Mitgliedschaft in der KVdR etwa schon deshalb ausscheidet, weil keine Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit vorliegt. In diesen Fällen wären sogar vom unmittelbaren Wortsinn des § 315 a RVO her gesehen die Voraussetzungen der fiktiven Mitgliedschaft erfüllt.
Da im Interesse eines lückenlosen Krankenversicherungsschutzes auch bereits bei einem erfolglosen Antrag auf eine "Normalrente" Einzelfälle in Kauf genommen werden müssen, in denen der aufgezwungene Versicherungsschutz des § 315 a RVO überflüssig erscheinen kann, ist es vertretbar, diejenigen Rentenantragsteller ebenso zu behandeln, die erfolgreich ein Verfahren betreiben, in denen ihnen eine nicht zur KVdR führende Rente bewilligt wird.
Der Gesetzgeber hat offenbar zur Vermeidung von Unbilligkeiten bei Anwendung des § 315 a RVO nunmehr davon abgesehen, allen Rentenantragstellern eine Krankenversicherung aufzuerlegen. Nach § 315 b RVO, der durch Art 1 § 1 Nr 26 des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes (KVKG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I 1069) eingefügt worden ist, können sich die Rentenantragsteller entscheiden, ob die Mitgliedschaft nach § 306 Abs 2 RVO erst mit Ablauf des Monats beginnen soll, in dem der die Rente gewährende Bescheid zugestellt worden ist oder ob sie das Risiko eingehen wollen, in der Zeit zwischen Rentenantragstellung und dem Zeitpunkt die Krankenversicherungsbeiträge selber tragen zu müssen, zu dem feststeht, daß eine faktische Mitgliedschaft in der KVdR nicht begründet werden kann. Diese Neuregelung läßt sich aber nicht mehr zugunsten der Klägerin anwenden. Denn die rückwirkende Anwendung auf Fälle, in denen der Rentenbescheid bereits ergangen ist, ist nicht vorgesehen (Art 2 § 3 Abs 1 KVKG).
Auf die Revision der beklagten Krankenkasse mußten daher die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen