Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei Unterbrechung des Heimweges durch Gaststättenbesuch

 

Orientierungssatz

1. Bei einer Unterbrechung des Heimweges kann aus der Art der Verrichtung nur neben anderen Kriterien und in durch besondere Umstände gekennzeichneten Ausnahmefällen mit darauf geschlossen werden, ob der Beschäftigte den Weg von dem Ort der Tätigkeit nur unterbrochen und danach fortgesetzt oder nach natürlicher Betrachtungsweise die private Verrichtung den Gedanken nach dem Arbeitsschluß so bestimmt hat, daß der Weg nach ihrer Beendigung als der Weg von dieser Verrichtung und nicht mehr von dem Ort der Tätigkeit anzusehen war. Nicht zu unterscheiden ist hier zwischen einer Unterbrechung kurz nach Beginn oder kurz vor Beendigung des Heimweges (vgl BSG 1977-02-24 8 RU 42/76 = SozR 2200 § 550 Nr 27). Der Verletzte befand sich im Augenblick des Unfalls weiter auf dem Heimweg, auch wenn dieser nur noch 50-100 Meter betrug.

2. Hat sich der Arbeitnehmer beim Verlassen einer Gaststätte durch den Sturz auf den Bürgersteig verletzt, der auf dem Weg zu seiner Wohnung gelegen hat, so ist nicht entscheidend, ob er bereits den Fuß auf die Straße oder den Bürgersteig gesetzt hatte. Der Ort der Verletzung braucht mit dem Ort des Sturzes oder Stolperns nicht identisch zu sein.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 15.02.1978; Aktenzeichen III UBf 37/77)

SG Hamburg (Entscheidung vom 28.04.1977; Aktenzeichen 25 U 501/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. Februar 1978 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. April 1977 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beigeladene S (S.) am 10. November 1971, seinem 21. Geburtstag, gegen 17.45 Uhr einen Arbeitsunfall erlitten hat und ob die Klägerin von der Beklagten den Ersatz der von ihr verauslagten Behandlungskosten verlangen kann.

S. hatte an diesem Tage, wie üblich, um 16.20 Uhr nach Arbeitsschluß seine Arbeitsstelle verlassen und war mit der Bundesbahn zu seinem Wohnort gefahren. Auf dem weiteren zu Fuß zurückgelegten Heimweg hatte er eine am Wege liegende Gaststätte aufgesucht, die ungefähr 50-100 Meter von seiner Wohnung entfernt war. Dort hatte er sich bei zwei Glas Bier 30-45 Minuten aufgehalten, war beim Verlassen des Lokals auf der vierstufigen Außentreppe gestolpert und auf den Bürgersteig gefallen, den er sonst auf dem Heimweg auch benützt hätte. S. erlitt durch den Sturz Verletzungen am linken Ellenbogen, deren Behandlung die Klägerin mit Aufwendungen für Krankengeld, Krankenhaus- und Transportkosten in Höhe von 11.593,10 DM belastete.

Die Beklagte lehnte gegenüber S. am 11. März 1974 bindend Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung und gegenüber der Klägerin Kostenersatz ab. Während des Klageverfahrens verständigten sich Klägerin und Beklagte auf deren Anregung darüber, daß nur die Frage klärungsbedürftig sei, ob der Unfall als Arbeitsunfall gewertet werden müsse, worauf die Klägerin ihren Antrag entsprechend beschränkte.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte zur Anerkennung des Unfallereignisses als Arbeitsunfall verurteilt (Urteil vom 28. April 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage als ausnahmsweise zulässige Elementenfeststellungsklage behandelt, weil durch sie der Rechtsstreit im ganzen bereinigt werden könne, sie aber abgewiesen, weil eine Lösung vom Betrieb eingetreten und der Beigeladene sich im Augenblick des Sturzes noch in dem Gefahrenbereich befunden habe, den er aus persönlichem Anlaß aufgesucht hatte. Das LSG hat die Revision zugelassen (Urteil vom 15. Februar 1978).

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie führt aus: Eine Lösung vom Betrieb bei einer weniger als dreiviertelstündigen Unterbrechung des Heimweges sei nicht deswegen eingetreten, weil der Beigeladene eine in der Nähe seiner Wohnung liegende Gaststätte aufgesucht habe. Die auf den Gehweg führenden Stufen zählten zum öffentlichen Verkehrsraum (BSGE vom 28. Oktober 1976 - 8 RU 2/77 - SozR 2200 § 550 Nr 20). Wesentlich sei der Ort der Verletzung und nicht der Ort, an dem es zur Gefährdung gekommen sei (BSGE vom 12. Oktober 1973 - 2 RU 167/72 - SozR Nr 25 zu § 550 RVO).

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG vom 15. Februar 1978 aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene schließt sich dem Antrag der Klägerin an.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten.

Die Klägerin hatte ursprünglich die Verurteilung der Beklagten dahin verlangt, das den Beigeladenen schädigende Ereignis als Wegeunfall anzuerkennen und ihr nach § 1504 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die durch den Unfall entstandenen Kosten in Höhe von 11.593,10 DM zu ersetzen. Sie hat zwar ihr Begehren im Laufe des Klageverfahrens auf Bitten und Anregung der Beklagten darauf beschränkt, die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis als versicherten Arbeitsunfall anzuerkennen, aber mit der Revisionsbegründung erneut gefordert, das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen mit der Folge der Erstattungspflicht hinsichtlich der Behandlungskosten aus § 1504 RVO. Daraus entnimmt der Senat - entgegen der Rechtsauffassung des LSG -, daß das Klagebegehren immer auf Leistung (§ 54 Abs 5 SGG) gerichtet gewesen ist und nicht nur auf Feststellung einer Anspruchsvoraussetzung (Elementenfeststellung). Etwas anderes kann im Ergebnis auch dem Urteil des SG nicht entnommen werden. Deshalb kann dahinstehen, ob das LSG zutreffend von einer nur ausnahmsweise zulässigen Elementenfeststellungsklage (BSGE 32, 235) ausgegangen ist oder ob es richtiger darauf abgestellt hätte, daß das berechtigte Interesse an einer baldigen Feststellung iS des § 55 Abs 1 SGG bei Klagen gegen eine Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht dadurch ausgeschlossen wird, daß auch auf Leistung geklagt werden könnte (BSGE 10, 21).

Entgegen der Ansicht des LSG ist der Unfall, den der Beigeladene am 10. November 1971 auf dem Wege von seiner Arbeitsstelle zur Wohnung erlitten hat, ein Arbeitsunfall. Wegen der dreiviertelstündigen Unterbrechung des Heimweges durch den Besuch der Gaststätte ist der betriebliche Zusammenhang nicht gelöst worden. Nur in Ausnahmefällen, wenn Dauer und Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Beschäftigung hindeuteten, konnte nach der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Unfallversicherungsschutz für den verzögerten Heimweg von der Arbeitsstätte entfallen (BSGE 10, 226, 228; BSG SozR Nrn 29, 41, 51 zu § 543 RVO aF). Dem Verhalten des Beschäftigten mußte aber zu entnehmen sein, daß er - ohne seine Wohnung erreicht zu haben - bereits zur Feierabendgestaltung übergegangen war (vgl BSG Urteil vom 31. März 1965, teilweise abgedruckt in Praxis 1965, 320; BSG SozR Nr 7 zu § 550 RVO; BSG SozR 2200 § 550 Nr 6). Der 2. Senat des BSG hatte allerdings schon in einem Urteil vom 25. Mai 1972 (BSG SozR Nr 18 zu § 550 RvO) betont, daß bei einer Unterbrechung von etwa einer Stunde im allgemeinen keine Lösung vom Betrieb angenommen werden könne (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl 1977, Band II, S. 486 X). Zwar sollte das Zeitmoment der Verrichtung für sich allein nicht der ausschlaggebende Faktor dafür sein, ob es zum Verlust des Versicherungsschutzes gekommen ist. Andererseits durfte aber auch die Berücksichtigung der Art der Verrichtung nicht dahin mißverstanden werden, daß bei einer längeren Unterbrechung nur eine unternehmensbedingte Betätigung es rechtfertige, den ursächlichen Zusammenhang zu bejahen (BSG SozR Nr 51 zu § 543 RVO aF). Aus der Art der Verrichtung konnte vielmehr nur neben anderen Kriterien und in durch besondere Umstände gekennzeichneten Ausnahmefällen mit darauf geschlossen werden, ob der Beschäftigte den Weg von dem Ort der Tätigkeit nur unterbrochen und danach fortgesetzt oder nach natürlicher Betrachtungsweise die private Verrichtung den Gedanken nach dem Arbeitsschluß so bestimmt hat, daß der Weg nach ihrer Beendigung als der Weg von dieser Verrichtung und nicht mehr von dem Ort der Tätigkeit anzusehen war (Brackmann, aaO, S. 487b). Das BSG hat aber im Urteil vom 28. April 1976 - 2 RU 147/75 - (BSG SozR 2200 § 550 Nr 12) nach erneuter Prüfung des gesamten Fragenkreises auch in den Fällen, in denen lediglich private Gründe Art und Dauer der Unterbrechung bestimmt haben, bis zu zwei Stunden den Versicherungsschutz auf dem weiteren Wege von dem Ort der Tätigkeit nicht ausgeschlossen. Dem hat der erkennende Senat in mehreren Entscheidungen zugestimmt (BSG SozR 2200 § 550 Nrn 20 und 27). Da der Aufenthalt des Beigeladenen in der Gaststätte lediglich 45 Minuten gedauert hat, lebte somit der unterbrochene Versicherungsschutz mit deren Verlassen durch Fortsetzung des Heimweges wieder auf. Nicht zu unterscheiden ist hier zwischen einer Unterbrechung kurz nach Beginn oder kurz vor Beendigung des Heimweges (BSG SozR 2200 § 550 Nrn 20 und 27). Der Beigeladene befand sich im Augenblick des Unfalls weiter auf dem Heimweg, auch wenn dieser nur noch 50-100 Meter betrug.

Auch der weiteren Begründung des LSG, der Beigeladene habe sich im Augenblick des Sturzes noch in dem Gefahrenbereich befunden, den er aus persönlichem Anlaß aufgesucht habe, kann nicht zugestimmt werden. Nach den Feststellungen des LSG, an die das BSG gebunden ist (§ 163 SGG), hat sich der Beigeladene durch den Sturz auf den Bürgersteig verletzt, der auf dem Weg zu seiner Wohnung gelegen hat. Das allein ist entscheidend, nicht aber, ob S. bereits den Fuß auf die Straße oder den Bürgersteig gesetzt hatte. Der Ort der Verletzung braucht mit dem Ort des Sturzes oder Stolperns nicht identisch zu sein. Unerheblich ist es, in welchem Bereich die Ursache des Sturzes gelegen hat (BSG SozR Nrn 14, 25 und 26 zu § 550 RVO). Deshalb kann dahinstehen, ob die vom Bürgersteig zur Gaststättentüre führenden Treppenstufen, auf denen der Beigeladene gestolpert ist, zum öffentlichen Verkehrsbereich zu zählen sind oder ob sie zum privaten Gefahrenbereich gehören (vgl BSG Urteil vom 31. Oktober 1968 - 2 RU 122/66 - BB 1969, 810; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennziffern 070, 3; 121, 13; 105, 4a).

Da S. auf seinem Heimweg einen Arbeitsunfall erlitten hat, ist die Beklagte nach § 1504 Abs 1 RVO verpflichtet, der Klägerin die dieser entstandenen Aufwendungen von 11.593,10 DM zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656058

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