Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung noch nicht abgerechneter Lohnabrechnungszeiträume bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes. Verfassungsmäßigkeit des AFG § 112 Abs 3 S 1. Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistung beim Arbeitslosengeld
Orientierungssatz
1. Eine tarifliche Lohnerhöhung, die zwar vor dem Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis vereinbart worden ist, sich aber in der letzten vor dem Ausscheiden vorgenommenen Lohnabrechnung nicht mehr niedergeschlagen hat, ist bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes nicht zu berücksichtigen (vgl BSG vom 1977-07-21 7 RAr 102/76 = SozR 4100 § 112 Nr 5).
2. AFG § 112 Abs 3 S 1 verstößt weder gegen den Gleichheitsgrundsatz des GG Art 3 Abs 1 noch gegen das Sozialstaatsprinzip des GG Art 20 Abs 1.
Es verstößt auch nicht gegen GG Art 3 Abs 1, wenn die tarifvertragliche Lohnerhöhung bei der Leistung unberücksichtigt bleibt, obwohl der Beitrag später auch auf der Grundlage des höheren Arbeitsentgelts berechnet wird. Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung sozialversicherungsrechtlicher Systeme nach der Verfassung nicht gehalten, Geldleistungen der Höhe nach in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen.
Normenkette
AFG § 112 Abs 2 Fassung: 1974-12-21; AFG § 112 Abs 3 S 1 Fassung: 1969-06-25; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 17.07.1979; Aktenzeichen L 5 Ar 1645/78) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 22.08.1978; Aktenzeichen S 8 Ar 1479/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, welches Arbeitsentgelt bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes (Alg) der Klägerin zugrundezulegen ist.
Die Klägerin war bis zum 30. April 1977 als medizinisch-technische Assistentin beschäftigt. Ihr Gehalt wurde zum 15. jeden Monats gezahlt. Vor ihrem Ausscheiden erhielt sie zuletzt am 15. April 1977 brutto 1.749,79 DM für diesen Monat. Nach einem am 8. März 1977 abgeschlossenen Tarifvertrag hätten ihr ab 1. Februar 1977 88,51 DM brutto monatlich mehr zugestanden. Die Klägerin hatte ihre Arbeitgeberin mit Schreiben vom 23. März 1977 unter anderem darum gebeten, bei der Schlußabrechnung ihres Gehalts die tarifvertraglich vereinbarte Erhöhung zu berücksichtigen. Die Unterlagen über den Tarifabschluß gingen bei der Arbeitgeberin der Klägerin am 9. Mai 1977 ein. Der Klägerin wurde der noch zustehende Betrag am 16. Juni 1977 überwiesen.
Das Arbeitsamt hat der Klägerin ab 2. Mai 1977 durch Bescheid vom 13. Juni 1977 Alg bewilligt und ist bei dessen Berechnung von dem am 15. April 1977 ausgezahlten Bruttoentgelt ausgegangen. Mit dem Widerspruch begehrte die Klägerin bei der Berechnung ihres Alg das Bruttogehalt zugrundezulegen, auf das sie im April 1977 tarifvertraglich Anspruch gehabt habe, nämlich 1.838,30 DM. Der Widerspruch blieb ebenso wie die Klage erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. August 1977 und Urteil des Sozialgerichts -SG- Reutlingen vom 22. August 1978).
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 17. Juli 1979 auf die zugelassene Berufung das erstinstanzliche Urteil sowie den angefochtenen Widerspruchsbescheid aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13. Juni 1977 verurteilt, der Klägerin ab 2. Mai 1977 Alg auf der Grundlage eines monatlichen Arbeitsentgelts von 1.838,30 DM zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, es könne sich der vom erkennenden Senat in seinem Urteil vom 21. Juli 1977 (SozR 4100 Nr 5 zu § 112) beiläufig ausgesprochenen Ansicht nicht anschließen, wonach allein entscheidend sei, ob sich eine vor dem Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis vereinbarte Tariferhöhung in der letzten vor dem Ausscheiden noch vorgenommenen Abrechnung noch niedergeschlagen habe; selbst wenn der Arbeitgeber nach seiner Organisation nicht so rasch auf die neue Situation reagiere, sei eine Abrechnung, die sich entgegen der Rechtslage noch bewußt an der alten Tariflage ausrichte, richtig und müsse auch dann der Bemessung des Alg zugrundegelegt werden. Die Anwendung dieses Grundsatzes würde, wie der vorliegende Fall zeige, zu willkürlichen Ergebnissen führen. Eine am Gerechtigkeitsgebot und Gleichheitsgrundsatz orientierte Auslegung des § 112 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gebiete es deshalb, auf einen objektiv erfaßbaren Bezugspunkt abzustellen, der für alle Arbeitnehmer gleichmäßig angenommen werden könne. Dies sei der Zeitpunkt, in dem feststehe, in welcher Höhe ein Rechtsanspruch auf Arbeitsentgelt bestehe. Liege dieser Zeitpunkt vor dem Tage, an dem die letzte mindestens 20 Tage erfassende Lohn- oder Gehaltsabrechnung vom Arbeitgeber vorgenommen werde, und liege er zugleich auch mindestens 20 Arbeitstage vor dem Ausscheiden, so stehe bereits fest, daß der Arbeitnehmer im maßgeblichen Zeitraum Arbeitsentgelt nach dem erhöhten Tarif zu beanspruchen habe. Er habe sich hierauf auch bereits eingestellt gehabt und daher eine entsprechende Berücksichtigung dieser Vermögenslage nach der Lohnersatzfunktion des Alg erwarten können. Im vorliegenden Falle sei der Tarifvertrag am 8. März 1977 mit Wirkung ab 1. Februar 1977 abgeschlossen worden. Zwei Wochen später, am 23. März 1977, habe die Klägerin ihre Arbeitgeberin ausdrücklich hierauf hingewiesen. Sowohl vor Beginn des letzten Abrechnungszeitraums (April 1977) wie auch vor Beginn der als Bemessungszeitraum infrage kommenden Zeitspanne von 20 Tagen habe sie daher einen Rechtsanspruch auf höheres Arbeitsentgelt. Sie habe von ihrer Arbeitgeberin erwarten können, daß diese entsprechend ihrer in diesem Falle gesteigerten Pflichten die rechtlich zutreffende Höhe des Gehalts individuell errechnete, zahlte und bescheinigte. Deshalb sei die Beklagte verpflichtet, der Klägerin das Alg unter Berücksichtigung der neuen tarifvertraglichen Regelung zu zahlen.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 112 Abs 2 und 3 AFG. Sie ist der Auffassung, die von dem Berufungsgericht vertretene Auffassung stehe nicht im Einklang mit Wortlaut und Zweck dieser Vorschrift. Sie verweist auf das Urteil des erkennenden Senats vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 102/76 -, dem zu folgen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom
17. Juli 1979 aufzuheben und die Berufung
der Klägerin gegen das Urteil des SG Reutlingen
vom 22. August 1978 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zu verwerfen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Zu Unrecht hat das LSG die Beklagte zur Zahlung eines Alg unter Berücksichtigung eines monatlichen Arbeitsentgelts von 1.838,30 DM verurteilt. Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf ein höheres Alg. Zutreffend hat die Beklagte diese Leistung nach dem der Klägerin im April 1977 gezahlten Gehalt von 1.749,79 DM errechnet.
Gem § 112 Abs 2 AFG ist Arbeitsentgelt iS des § 111 Abs 1 AFG das im Bemessungszeitraum in der Arbeitsstunde durchschnittlich erzielte Arbeitsentgelt, vervielfacht mit der Zahl der Arbeitsstunden, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt. Bemessungszeitraum sind die letzten, am Tage des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten, insgesamt 20 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfassenden Lohnabrechnungszeiträume der letzten die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung vor der Entstehung des Anspruchs (§ 112 Abs 3 S 1 AFG). Schon aus dem Gesetz ergibt sich, daß die vom LSG vorgenommene Auslegung nicht zutrifft. Zunächst einmal hat das LSG verkannt, daß dem Begriff des Erzielens weniger das subjektive Element, als vielmehr das erreichte Ziel, dh der Erfolg innewohnt. Erzielt ist also nur das Arbeitsentgelt, das dem Arbeitnehmer tatsächlich zugeflossen ist. Das ist der Fall, wenn es in seine Verfügungsgewalt gekommen ist. Es genügt also nicht, daß der Anspruch entstanden ist, noch weniger ist entscheidend, wann der Arbeitnehmer hiervon Kenntnis erlangt hat (Krause/v Maydell/Merten/Meydam, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - GK SGB IV - § 14 Anm 50).
Zum anderen übersieht das LSG, daß dieser Begriff nicht allein im Raum steht, sondern nur im Zusammenhang mit den übrigen gesetzlichen Bestimmungen ausgelegt werden kann. Hiernach wird jedoch eindeutig auf abgerechnete Lohnabrechnungszeiträume abgestellt. Der Berechnung kann daher, wie der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 23. Februar 1977 - 12 RAr 79/76 - (SozR 4100 § 112 Nr 3) bereits ausgeführt hat, nur dasjenige Arbeitsentgelt zugrundegelegt werden, das überhaupt abgerechnet werden konnte. Der erkennende Senat hat dann in seinem Urteil vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 102/76 - (SozR 4100 § 112 Nr 5) diese Rechtsprechung dahin fortgeführt, daß der Berechnung der Leistungen nur dasjenige Arbeitsentgelt zugrundegelegt wird, das abgerechnet worden ist. Das entspricht der doppelten Zielsetzung, die der Gesetzgeber verfolgt: Einmal die Lohnersatzleistung nach dem Lohnniveau des Versicherten auszurichten, das möglichst nahe an dem Leistungsbeginn liegt, zum anderen zugunsten des Bestrebens, bei Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis sofort eine endgültige Feststellung des zu gewährenden Alg oder Unterhaltsgeldes (Uhg) vorzunehmen, die Teile des Arbeitseinkommens unberücksichtigt zu lassen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgerechnet waren. Der Gesetzgeber hat es für ausreichend angesehen, wenn von einem Arbeitseinkommen ausgegangen wird, das bereits in die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses erteilte Lohnabrechnung eingegangen war. Wie der Senat in seinem Urteil vom 21. Juli 1977 aaO mit Hinweis auf die Entscheidung vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 88/75 - weiter dargelegt hat, ist diese Regelung vom Gesetzgeber bewußt vorgenommen worden. Diese Auslegung des § 112 Abs 3 AFG hat hiernach zur Folge, daß tarifliche Lohnerhöhungen, die zwar vor dem Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis vereinbart worden sind, jedoch in der letzten vor dem Ausscheiden erteilten Lohnabrechnung nicht berücksichtigt worden sind, außer Betracht bleiben müssen.
Ein Abstellen auf einen "objektiv erfaßbaren Bezugspunkt, der für alle Arbeitnehmer gleichmäßig angenommen werden kann", wie es das LSG und die Klägerin meinen, findet im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze. Vielmehr würde dies dem Bestreben des Gesetzgebers, sofort eine endgültige Feststellung der zu gewährenden Leistungen vorzunehmen, widersprechen. Das Arbeitsamt müßte, worauf die Beklagte zutreffend hingewiesen hat, um alle Arbeitgeber gleich zu behandeln, in jedem Leistungsfall Feststellungen darüber treffen, ob der Arbeitgeber das bescheinigte Arbeitsentgelt unter Beachtung des letzten wirksamen Tarifabschlusses abgerechnet hat. Hierzu müßte festgestellt werden, wann der letzte Tarifvertrag abgeschlossen, zu welchem Zeitpunkt er in Kraft getreten ist und wie hoch danach das dem Arbeitnehmer tatsächlich zustehende Arbeitsentgelt ist.
Mit seiner Auslegung will das LSG letztlich eine bewußte Entscheidung des Gesetzgebers korrigieren, was unzulässig ist, da dies gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstößt. Das LSG setzt an die Stelle des Gesetzes diejenige Regelung, die es aus seiner Sicht für zweckmäßig hält. Dazu sind die Gerichte nicht befugt (siehe Urteil des Senats vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 88/75 -). Es ist nicht Aufgabe eines Gerichts, zu prüfen, ob die getroffene gesetzliche Regelung die denkbar gerechteste Lösung ist. Vielmehr hat ein Gericht nur zu prüfen, ob die Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit eingehalten sind, was hier der Fall ist. Die getroffene Regelung verstößt weder gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) noch gegen das Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG.
Bei allen Arbeitnehmern erfolgt die Berechnung des Algs nach dem Arbeitsentgelt des letzten am Tage des Ausscheidens aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Lohnabrechnungszeitraums. Sie werden insoweit grundsätzlich alle gleich behandelt. In Einzelfällen, wie dem vorliegenden, kann es allerdings vorkommen, daß der Arbeitnehmer aufgrund tarifvertraglicher Vereinbarungen, die von dem Arbeitgeber noch nicht ausgeführt worden sind, gegenüber einem anderen Arbeitnehmer, dessen Arbeitgeber die Neuberechnung bereits durchgeführt hat, einen Nachteil erleidet. Insoweit handelt es sich dann um die Folge einer typisierenden Regelung, die insbesondere bei der Ordnung von Massenerscheinungen notwendig und verfassungsrechtlich grundsätzlich hinzunehmen ist (BVerfG Beschluß vom 3. April 1979 - 1 BvL 30/76 - SozR 4100 § 112 Nr 10). Es verstößt auch nicht gegen Art 3 Abs 1 GG, wenn die tarifvertragliche Lohnerhöhung bei der Leistung unberücksichtigt bleibt, obwohl der Beitrag später auch auf der Grundlage des höheren Arbeitsentgelts berechnet wird. Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung sozialversicherungsrechtlicher Systeme nach der Verfassung nicht gehalten, Geldleistungen der Höhe nach in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen. In der Arbeitslosenversicherung kommt noch hinzu, daß die Beiträge des einzelnen wegen der kurzen Anwartschaftszeiten, des kurzen Bemessungszeitraumes und der üblicherweise kurzen Leistungsbezugszeit als Maßstab ungeeignet sind. Die Gesamtleistung an Alg steht im Einzelfall typischerweise nicht im Verhältnis zur jeweiligen Betragsleistung. Das beruht auch darauf, daß alle Arbeitnehmer ohne Berücksichtigung ihres individuellen Arbeitslosenrisikos gleichermaßen zur Beitragsleistung herangezogen werden. Der Gleichheitsgrundsatz gebietet es daher nicht, die relativ geringen Beitragsanteile, die auf die unberücksichtigt gebliebene Entgelterhöhung infolge des neuen Tarifvertrags entfallen, leistungssteigernd zu berücksichtigen (BVerfGE aaO).
Den Anforderungen des Sozialstaatsprinzips ist genügt, wenn dem Arbeitslosen angemessener Ersatz für den Ausfall geleistet wird, den er dadurch erleidet, daß er zur Zeit keinen tariflich bezahlten Arbeitsplatz findet. Dem ist mit der von der Beklagten festgestellten Leistung Genüge getan (vgl BVerfG aaO).
Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen