Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsschutz. haftungsbegründende Kausalität. innere Ursache
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Versicherungsschutzes und der Kausalität beim Mitwirken einer sogenannten inneren Ursache.
Orientierungssatz
1. Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes einer Verletzten, bei der ein auf dem Wege zur Arbeitsstätte eintretender Krankheitsschub (Schizophrenie) zum Verlassen des Fahrradweges und zum Zusammenstoß mit einem Lkw führte.
2. Steht fest, daß außer der versicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit auch nicht betrieblich bedingte Umstände als Ursachen in naturwissenschaftlich-philosophischem Sinn in Betracht kommen, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles die Wertentscheidung zu treffen, ob beide Ursachen wesentlich für den Unfall waren und folglich als Ursachen im Rechtssinn anzusehen sind, oder ob vielmehr die körpereigene Ursache von so überragender Bedeutung für Art und Schwere des Unfalles war, daß sie allein als wesentliche Ursache im Rechtssinne für den Unfall anzusehen ist (vgl BSG 31.7.1985 2 RU 74/84 = SozR 2200 § 548 Nr 75).
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 25.06.1985; Aktenzeichen L 3 U 81/83) |
SG Stade (Entscheidung vom 28.01.1983; Aktenzeichen S 7 U 2/81) |
Tatbestand
Die Klägerin erlitt am frühen Morgen des 8. Oktober 1979 einen folgenschweren Unfall. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Unfall sich aus innerer Ursache ereignete, oder ob es sich um einen Arbeitsunfall handelte. Sozialgericht -SG- (Urteil vom 28. Januar 1983) und Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 25. Juni 1985) haben Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung verneint. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin befand sich mit dem Fahrrad auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeitsstätte. Sie verließ den - aus ihrer Sicht gesehen links von der Fahrbahn verlaufenden - Radweg und wurde auf der Straße von einem entgegenkommenden Lkw erfaßt.
Die Beklagte lehnte durch ihren Bescheid vom 9. Dezember 1980 die Gewährung von Leistungen mit der Begründung ab, dem völlig vernunftwidrigen Verhalten der Klägerin im Unfallzeitpunkt sei zu entnehmen, daß sie den Unfall absichtlich herbeigeführt habe.
In dem erstinstanzlichen Urteil heißt es, das Verhalten der Klägerin sei "völlig abnorm" gewesen; ein innerer Zusammenhang zwischen dem Weg und der Arbeitsstätte habe nicht bestanden.
Das LSG ist nach umfangreicher Beweisaufnahme zu der Feststellung gelangt, das Fehlverhalten der Klägerin im Unfallzeitpunkt sei auf den Eintritt eines Schizophrenieschubes zurückzuführen; sie habe ihr Handeln nicht selbst bestimmen können. Diese zum Unfall führende innere Ursache sei nicht durch betriebsbedingte Umstände beeinflußt gewesen. Es bestehe allenfalls die Möglichkeit, daß die Krankheit durch betriebliche Umstände hervorgerufen oder mithervorgerufen worden sei. Auch besondere Wegegefahren hätten nicht vorgelegen; die Klägerin habe sich durchaus sachgerecht verhalten können. Auch wenn dies nicht mehr möglich gewesen sei, müsse Versicherungsschutz verneint werden; denn die Klägerin habe sich "in dem Augenblick, in dem der Schub der Schizophrenie-Krankheit so beherrschend geworden war, daß die Klägerin außer Stande gesetzt wurde, ihr Verhalten sachgerecht zu steuern", von dem Betriebsweg gelöst.
Die Klägerin meint im Revisionsverfahren, das LSG habe die ihm obliegende Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) verletzt, als es die "entfernte Annahme" des Gutachters, die Klägerin habe einen Schub ihrer Schizophrenieerkrankung erlitten, der Entscheidung des Rechtsstreits zugrundelegte.
Sie beantragt, das Urteil aufzuheben und die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen wegen der Folgen des Unfalles vom 8. Oktober 1979 Verletztenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revisionen der Klägerin und der Beigeladenen zurückzuweisen.
Sie ist davon überzeugt, daß keine sonstige rechtserhebliche neben die zum Unfall führende innere Ursache trat. Vielmehr sei allein die Erkrankung der Klägerin für den Unfall maßgebend und überragend gewesen.
Die Beigeladene beantragt, das Urteil des LSG vom 25. Juni 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Unfallgeschehen vom 8. Oktober 1979 im Sinne des 3. Buches der Reichsversicherungsordnung anzuerkennen.
Sie meint, der langjährige Hausarzt der Klägerin müsse gehört werden. Zudem sei zu klären, ob das Fahrrad der Klägerin bzw der entgegenkommende Lkw angesichts der Art der Erkrankung der Klägerin zu einer rechtserheblichen besonderen Wegegefahr geworden sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie erlitt am 8. Oktober 1979 einen Arbeitsunfall und hat jedenfalls Anspruch auf Verletztenrente.
Der Unfall, welcher der Klägerin zustieß, ereignete sich auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte. Auf solchen Wegen besteht gemäß § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) grundsätzlich Versicherungsschutz wie "bei" der Erledigung "der Tätigkeit" (§ 548 Abs 1 RVO) selbst. Das LSG hat im Rahmen seiner ausführlichen Darlegungen aus zwei rechtssystematisch unterschiedlichen Gründen angenommen, daß die Klägerin dennoch keinem Arbeitsunfall erlegen sei. Einerseits ist es zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin habe sich vom "Arbeitsweg bereits gelöst" (S 14/15), als sie auf die allgemeine Fahrbahn steuerte. Andererseits hat das LSG dargelegt, daß die Krankheit der Klägerin (-innere Ursache-) die rechtlich allein wesentliche Ursache für den Unfall gewesen sei. Damit hat das LSG sowohl den inneren - sachlichen - Zusammenhang des Verhaltens der Klägerin mit ihrer Betriebstätigkeit als auch den kausalen Zusammenhang zwischen dem Betriebsweg und dem Unfall verneint.
Der Senat hat sich zuletzt in seiner Entscheidung vom 30. April 1985 (BSGE 58, 76) mit der Frage befaßt, unter welchen Umständen auch auf dem unmittelbaren Weg zur Arbeitsstätte der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit verloren gehen kann, so daß der Versicherungsschutz für den weiteren Weg entfällt. Er hat in diesem Zusammenhang ausgeführt (aaO S 77), daß beispielsweise der unterwegs gereifte Entschluß zur Selbsttötung den inneren Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des weiteren Weges und der Tätigkeit aufhebt, weil der Weg von nun an nicht mehr der versicherten Tätigkeit dient. Damit hat der Senat der allgemein anerkannten zutreffenden Auffassung Rechnung getragen, daß auch auf dem unmittelbaren Weg zur Arbeitsstätte Versicherungsschutz nur besteht, wenn der Weg zurückgelegt wird, um die Betriebstätigkeit aufzunehmen (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 60 mwN; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 486c ff mwN). Diese durch den Willen der Versicherten geprägte Zweckbestimmung des Weges ist für die Bejahung oder Verneinung des Versicherungsschutzes maßgebend. Sind beispielsweise für die Wahl eines weiteren Weges Gründe ausschlaggebend, die überwiegend oder allein dem privaten Lebensbereich der Versicherten zuzurechnen sind, so fehlt es ab dem Zeitpunkt des Verlassens des direkten Weges an dem erforderlichen Sachzusammenhang mit der Betriebstätigkeit (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- seit BSGE 4, 219, 222; s die Nachweise bei Brackmann aaO S 486m I ff). Andererseits wird beim Befahren vorgeschriebener Umleitungen oder beim sonstigen ungewollten Abweichen vom direkten Weg die Zweckbestimmung nicht geändert und folglich geht der durch § 550 Abs 1 RVO gewährte Versicherungsschutz nicht verloren.
Unter diesen rechtlichen Verhältnissen erscheint es dem Senat nicht gerechtfertigt, bei Sachverhalten wie dem vorliegenden vom Verlust des inneren Zusammenhanges und damit zugleich vom Verlust des Versicherungsschutzes (LSG: "Lösung"; s hierzu Brackmann aaO S 487 g ff) auszugehen. Nach den Feststellungen des LSG war die Klägerin nur noch zum Lenken ihres Fahrrades, nicht dagegen zum sachgerechten Steuern (S 14) in der Lage; weiter heißt es in dem angefochtenen Urteil hierzu, "daß die Klägerin ihr Handeln an diesem Morgen jedoch nicht habe selbst bestimmen können" (S 11). An dem Entschluß der Klägerin, "ihre neue Arbeitsstätte anzutreten" (S 10), änderte sich dadurch nichts. Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, daß die Klägerin von körpereigenen Bedingungen bei ihrem final auf das Erreichen der Arbeitsstätte gerichteten Verhalten in ähnlicher Weise betroffen wurde wie von einer sonstigen nicht beherrschbaren Ursache, etwa einem Ohnmachtsanfall oder dem Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers (hierzu Watermann, Die Ordnungsfunktionen von Kausalität und Finalität im Recht, 1968, insbesondere S 120 ff). Daher vermag der erkennende Senat insoweit dem LSG nicht zuzustimmen, als es wegen des Fortfalls der Fähigkeit, "ihr Verhalten sachgerecht zu steuern" (S 15), den Wegfall des sachlichen - inneren - Zusammenhangs zwischen ihrem Verhalten und ihrer betrieblichen Tätigkeit angenommen hat.
Das LSG hat allerdings mit Recht die hiervon zu unterscheidende weitere Frage untersucht, ob für den Eintritt des Unfalles betriebliche oder private bzw "innere" Umstände maßgebend waren. Diese Frage betrifft den Kausalzusammenhang, welcher zwischen der geschützten (versicherten) Tätigkeit und dem Unfall (haftungsbegründende Kausalität) bestehen muß, um einen Anspruch auf Leistungen wegen der Folgen des Unfalles zu erwerben. Beruht nämlich der Unfall nicht auf dem betriebsbezogenen Verhalten einer Versicherten, sondern vielmehr auf körpereigener Ursache, ist ein Arbeitsunfall nicht gegeben.
Nach den Feststellungen des LSG ist der hier zu beurteilende Sachverhalt dadurch geprägt, daß ein auf dem Wege zur Arbeitsstätte eintretender Krankheitsschub zum Verlassen des Fahrradweges und zum Zusammenstoß der Klägerin mit einem Lkw führte. Dabei ist nach den Feststellungen des LSG davon auszugehen, daß der Krankheitsschub seinerseits ausschließlich auf körpereigener Ursache beruhte. Angesichts dieses Sachverhalts hat das LSG folgerichtig geprüft, ob Art oder Schwere des Unfalles durch die von ihr ausgeübten Tätigkeit (Zurücklegung eines zur Arbeitsaufnahme führenden Weges; s hierzu BSG SozR 2200 § 548 Nr 75) verursacht worden ist. Steht, wie hier, fest, daß außer der versicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit - hier: Zurücklegen des Weges zum Ort der Tätigkeit - auch nicht betrieblich bedingte Umstände - hier: plötzlicher und unvorhergesehener Eintritt einer Krankheit - als Ursachen in naturwissenschaftlich-philosophischem Sinn in Betracht kommen, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles die Wertentscheidung zu treffen, ob beide Ursachen wesentlich für den Unfall waren und folglich als Ursachen im Rechtssinn anzusehen sind, oder ob vielmehr die körpereigene Ursache von so überragender Bedeutung für Art und Schwere des Unfalles war, daß sie allein als wesentliche Ursache im Rechtssinne für den Unfall anzusehen ist (Näheres BSG wie zuvor). Dabei hat der Senat in dem zuvor genannten Urteil im einzelnen ausgeführt, daß ein Unfall dann als in diesem Sinne durch innere Ursache herbeigeführt anzusehen ist, wenn diese zwangsläufig zu dem eingetretenen Verlauf - Art und Schwere des Unfalles - geführt hat. So liegen die Dinge hier nach den von der Beklagten nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des LSG nicht. Vielmehr ist das Unfallgeschehen mit den für die Klägerin verheerenden Folgen auch insbesondere dadurch geprägt, daß sie sich auf der Fahrt zum Ort der Tätigkeit unmittelbar neben einer von einem schweren Fahrzeug genutzten Fahrstraße befand, als die körpereigene Ursache wirksam wurde. Ob insoweit von einer "besonderen Wegegefahr" gesprochen werden muß, kann hier offenbleiben (s Brackmann aaO S 486e ff). Jedenfalls nahm das durch die innere Ursache ausgelöste Geschehen einen Verlauf, welcher nicht zwangsläufig, sondern wegen der im Unfallzeitpunkt vorhandenen besonderen Umstände auf dem geschützten Weg zu den schweren Verletzungen der Klägerin führte. Wegen der Ausprägung des Unfallgeschehens und der Unfallfolgen durch das betriebsbezogene Verhalten der Klägerin ist dieses Verhalten eine Ursache im Rechtssinne für ihren Unfall.
Die Klägerin hat folglich einen Arbeitsunfall erlitten. Da ihr wegen der vom LSG festgestellten Unfallfolgen in jedem Falle eine Verletztenrente zusteht, waren die bisherigen Entscheidungen aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von Verletztenrente zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen