Leitsatz (amtlich)
Stellt ein Versicherungsträger eine auf Grund veröffentlichter Richtlinien erfolgte Gewährung von zusätzlichen Leistungen iS von AVG § 84 (RVO § 1305) allgemein ein, so muß er eine angemessene Übergangsregelung treffen, wenn die Wahrung des Vertrauensschutzes gegenüber dem Versicherten dies gebietet.
Normenkette
AVG § 84 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1305 Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.03.1977; Aktenzeichen L 4 An 298/76) |
SG Detmold (Entscheidung vom 07.10.1976; Aktenzeichen S 16 An 137/75) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1977 und des Sozialgerichts Detmold vom 7. Oktober 1976 sowie die Bescheide der Beklagten vom 27. Februar und 21. Juli 1975 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Antrag des Klägers auf Beihilfe zu den Kosten für Zahnersatz unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Rechtsstreit zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine Beihilfe zu Zahnersatzkosten. Der Kläger ist selbständiger Fotografenmeister. Er ist bei der Beklagten angestelltenversichert und privat krankenversichert. Seine zahnärztliche Behandlung begann am 18. Oktober 1974 und endete mit der Eingliederung des Zahnersatzes am 20. Dezember 1974. Der durch die private Krankenversicherung nicht gedeckte Teil der Kosten betrug rd. 4.800,- DM.
Den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Beihilfe zum Zahnersatz vom 15. Januar 1975, bei der Beklagten eingegangen am 28. Januar 1975, lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß sie ihre Richtlinien vom 19. November 1963 über die Gewährung von Beihilfen zu den Kosten für Zahnersatz für Angestellte, die nicht zugleich der gesetzlichen Krankenversicherung angehören (veröffentlicht in der Zeitschrift "Die Angestelltenversicherung" - DAngVers - 1964, S. 25), mit Wirkung zum 1. Januar 1975 aufgehoben habe (Bescheid vom 27. Februar 1975, Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 1975).
Klage und die vom Sozialgericht (SG) zugelassene Berufung blieben erfolglos (Urteil des SG Detmold vom 7. Oktober 1976, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1977). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Aufhebung der Richtlinien sei gerechtfertigt gewesen, weil das Rehabilitations-Angleichungsgesetz (RehaAnglG) mit Wirkung zum 1. Oktober 1974 in der gesetzlichen Krankenversicherung Pflichtleistungen für Zahnersatzkosten begründet habe. Wenn die Beklagte ihre Richtlinien für Nichtmitglieder gesetzlicher Krankenkassen aufrechterhalten hätte, so würde sie für diesen Personenkreis die Funktion einer beitragsfreien Krankenversicherung übernehmen, was nicht ihre Aufgabe sei.
Der im November 1974 in der DAngVers (S. 450) veröffentlichte Aufhebungsbeschluß habe zur Folge, daß Anträge nur noch bis zum 31. Dezember 1974 gestellt werden konnten. Das verstoße nicht gegen die Grundsätze von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Nach den Richtlinien habe der Antrag zwar bis drei Monate nach der Eingliederung des Zahnersatzes, aber auch schon vor der Behandlung und während der Eingliederung gestellt werden können. Es sei nicht erforderlich gewesen, dem Antrag die Rechnung des Zahnarztes beizufügen. Deshalb sei es unerheblich, daß der Zahnarzt erst unter dem 3. Januar 1975 Rechnung erteilt habe. Die nach der Veröffentlichung des Aufhebungsbeschlusses in jedem Falle für die Antragstellung verbleibende Mindestzeit von gut einem Monat habe zum Vertrauensschutz ausgereicht. Ein Anspruch auf Beihilfe gemäß §§ 13, 14 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) komme nicht in Betracht. Es läge kein Anhalt dafür vor, daß der Zahnersatz zur Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Klägers erforderlich gewesen sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, eine Beihilfe zu den Zahnersatzkosten nach Maßgabe der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Richtlinien zu gewähren und einen entsprechenden Bescheid zu erteilen.
Der Kläger meint, das angefochtene Urteil verstoße gegen das Gebot des Vertrauensschutzes. Der Versicherte müsse bei Beginn und Durchführung der meist sehr kostspieligen Zahnersatzbehandlung in seinen finanziellen Dispositionen von der bestehenden Beihilferegelung ausgehen dürfen. Das Veröffentlichungsblatt (DAngVers) sei den Versicherten nicht sofort zugänglich, so daß diese in der Regel erst verspätet von dem Aufhebungsbeschluß Kenntnis erhalten hätten.
Die Beklagte beantragt
Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Da die Voraussetzungen der §§ 13, 14 AVG nicht erfüllt sind, ist allein zu prüfen, ob die Beklagte zu Recht in ihrem Bescheid eine Beihilfe als zusätzliche Leistung iS des § 84 AVG (= § 1305 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) versagt hat. Nach dieser Vorschrift kann der Versicherungsträger Mittel aufwenden, um zu den in der Vorschrift genannten Zwecken im Gesetz sonst nicht vorgesehene Maßnahmen durchzuführen. Hierzu hatten die von der Beklagten aufgehobenen Richtlinien (in ihrem Teil I) gedient.
Die Revision meint zu Unrecht, die mit dem RehaAnglG erfolgte Ausgestaltung der zahnmedizinischen Rehabilitation als Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherung habe die Beklagte nur berechtigt, entsprechende Leistungen für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung einzustellen. § 84 AVG besagt nichts darüber, unter welchen Umständen die Beklagte allgemein zur Einführung oder Beibehaltung von Leistungen an Versicherte verpflichtet wäre. Infolgedessen steht die Einführung wie aber auch die Einstellung grundsätzlich in ihrem (freiem) Ermessen. Der Versicherte hat keinen Anspruch darauf, daß sich die Beklagte hierbei in bestimmter Weise festlegt (SozR Nr 2 zu § 9 GAL 1965). Die Beklagte muß deshalb auch nicht im Rechtsstreit dem einzelnen Versicherten gegenüber die (allgemeine) Einstellung von Leistungen rechtfertigen. Selbst wenn man hier zur Vermeidung von Willkür Grenzen ziehen müßte, liegt auf der Hand, daß die Aufhebung der Richtlinien nicht von Willkür bestimmt gewesen ist.
Das besagt freilich nicht, daß dem einzelnen Versicherten im Rahmen des § 84 AVG überhaupt keine Rechte zustünden. Anerkannt ist vielmehr, daß während der Geltung von Richtlinien über zusätzliche Leistungen der Versicherte eine Gleichbehandlung mit anderen Versicherten verlangen kann (SozR Nr 1 zu § 1307 RVO; SozR Nr 1 zu § 7 GAL 1965). Darüber hinaus fordert das Rechtsstaatsprinzip, daß der Versicherungsträger bei einer allgemeinen Einstellung von Leistungen eine angemessene Übergangsregelung trifft, wenn die Wahrung des Vertrauensschutzes gegenüber den Versicherten eine solche gebietet.
Die Beklagte hat zwar eine Übergangsregelung insofern getroffen, als sie das Außerkrafttreten ihrer Richtlinien auf den 1. Januar 1975 hinausgeschoben hat. Auch hat sie danach noch die zuvor eingegangenen Anträge erledigt. Das kann großzügig erscheinen, wenn die zahnärztliche Behandlung überhaupt erst in den Monaten November und Dezember 1974 begonnen hatte. Andererseits wird jedoch in Fällen wie den vorliegenden der erforderliche Vertrauensschutz versagt.
Der Kläger hatte seine zahnärztliche Behandlung im Oktober 1974 begonnen, als der Beschluß über die Aufhebung der Richtlinien noch nicht veröffentlicht war. Zu diesem Zeitpunkt durfte er davon ausgehen, daß er den Antrag auf Beihilfe gemäß Teil I Buchst E der Richtlinien bis zu drei Monaten nach Eingliederung des Zahnersatzes stellen konnte. Es ist kein Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, dieses Vertrauen zu enttäuschen. Insbesondere läßt sich nicht anführen, daß es sich hier um einen Fall einer unechten Rückwirkung handelt, weil - bei im übrigen abgeschlossenem Sachverhalt - der für die Gewährung der Beihilfe erforderliche Antrag beim Außerkrafttreten der Richtlinien noch nicht vorlag. Wenn Ermessensrichtlinien veröffentlicht sind, damit der Bürger sich auf sie einstellen kann, dann sind bei einer Änderung auch in Fällen der unechten Rückwirkung die Grundsätze über den Vertrauensschutz zu beachten (vgl BVerwGE 46, 89).
Dabei kommt es entgegen der Ansicht des LSG nicht darauf an, daß der Kläger den Antrag früher, jedenfalls noch rechtzeitig bis zum 31. Dezember 1974 hätte stellen können. Wenn die Richtlinien die Antragstellung bis drei Monate nach Eingliederung des Zahnersatzes zugelassen hatten, dann ist ein Vertrauen hierauf schutzwürdig, auch wenn im Einzelfall eine kürzere Frist ausgereicht hätte.
Damit soll nicht ausgeschlossen werden, daß die Beklagte in Übergangsregelungen auch vorher zugestandene Fristen verkürzen kann. Die Dreimonatsfrist war jedoch eine verhältnismäßig kurze Frist. Die Beklagte hat selbst eingeräumt, daß die Veröffentlichung im Novemberheft der DAngVers erst in der zweiten Novemberhälfte zugänglich wurde. Sie durfte nicht erwarten, daß noch im November die Mehrzahl der interessierten Versicherten von der Aufhebung erfahren würde. Selbst die Anfügung eines weiteren Monats (Dezember) gewährleistete noch keine hinreichende Kenntnis des Aufhebungsbeschlusses im Versichertenkreis rechtzeitig vor dem Aufhebungstermin. Die Beklagte mußte bedenken, daß die Versicherten und ihre Zahnärzte sich auf eine langjährige Verwaltungspraxis eingestellt hatten und daß dem Antrag nach den Bestimmungen in den Richtlinien mehrere Unterlagen beizufügen waren. Unter diesen Umständen reichte es nicht aus, daß dem Kläger nach der Eingliederung des Zahnersatzes (20. Dezember 1974) nicht wie in den Richtlinien vorgesehen drei Monate, sondern lediglich noch 11 Tage verblieben.
Aus diesen Gründen können die Bescheide der Beklagten keinen Bestand haben. Die Beklagte muß den Kläger vielmehr erneut bescheiden und dabei die Rechtsauffassung des Senats beachten; sie muß also den Beihilfeantrag des Klägers noch nach ihren zum 1. Januar 1975 aufgehobenen Richtlinien erledigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen