Leitsatz (amtlich)
Die im RAG 21 erfolgte rückwirkende Änderung des AnVNG Art 2 § 9a Abs 2 (= ArVNG Art 2 § 9a Abs 2), der nun (auch) im Wortlaut von Satz 1 die Aufgabe einer "im Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit" verlangt, hat höherrangiges Recht nicht verletzt.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 9a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1978-07-25; ArVNG Art. 2 § 9a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1978-07-25; AnVNG Art. 2 § 13a Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 13a Fassung: 1972-10-16; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 11 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 Fassung: 1972-10-16; GG Art. 20 Abs. 3 Fassung: 1949-05-23; RAG 21 Fassung: 1978-07-25
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 01.09.1977; Aktenzeichen L 13 An 246/75) |
SG München (Entscheidung vom 02.07.1975; Aktenzeichen S 13 An 2219/74 WG) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. September 1977 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Ersatz- und Ausfallzeiten anzurechnen sind.
Der 1906 geborene Kläger war von Oktober 1932 an als Rechtsanwalt in Breslau tätig; wegen seiner jüdischen Herkunft nahm der Preußische Justizminister die Zulassung ab Mai 1933 zurück. Im Dezember 1936 wanderte der Kläger als rassisch Verfolgter nach Argentinien aus; dort war er von 1948 bis 1967 als freiberuflicher Rechtsanwalt tätig. Seit 1969 wohnt er in der Bundesrepublik Deutschland.
Für den Kläger sind keine Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet worden. Aufgrund seines Antrages vom März 1974 hat er freiwillige Beiträge für seine Referendarzeit gemäß Art 2 § 44a Abs 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) und für die Zeit von Januar 1956 bis September 1972 gemäß Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG nachentrichtet.
Mit Bescheid vom 1. Oktober 1974 gewährte die Beklagte dem Kläger Altersruhegeld ab April 1974 aus diesen Beiträgen; die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und einer Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4b AVG lehnte sie ab.
Der dagegen gerichteten Klage hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben, das Landessozialgericht (LSG) hat sie abgewiesen (Urteile vom 2. Juli 1975 und 1. September 1977). Das LSG hat ausgeführt: Art 2 §§ 9a Abs 2 und 13a AnVNG - idF des Rentenreformgesetzes (RRG) - erlaubten nur dann die Anrechnung von Ersatz- und Ausfallzeiten, wenn eine selbständige Erwerbstätigkeit von wenigstens fünf Jahren im Inland aufgegeben worden sei. Dies folge aus der Verknüpfung dieser Vorschriften mit § 2 Abs 1 Nr 11 AVG idF des RRG, der nur den im Geltungsbereich dieses Gesetzes selbständig Tätigen den Beitritt zur gesetzlichen Rentenversicherung (auf freiwilliger Grundlage) eröffne. Art 2 § 9a Abs 2 (bzw § 13a) AnVNG solle nämlich - als flankierende Maßnahme - denen zugute kommen, die nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG hätten versicherungspflichtig werden können, wenn es diese Vorschrift während ihrer früheren Selbständigkeit schon gegeben hätte.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG München vom 2. Juli 1975 zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die unterschiedliche Verwendung des Begriffs "selbständige Erwerbstätigkeit" im RRG zeige, daß in Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG keine Begrenzung auf das Inland gewollt sei. Auch seien nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG, auf den sich Art 2 § 9a Abs 2 beziehe, alle Deutschen im Sinne von Art 116 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) unabhängig von ihrem Wohnsitz zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen berechtigt. Überdies bestünden erhebliche Zweifel, ob Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG in der verkündeten Fassung überhaupt gültiges Recht sei.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Bei der Entscheidung über die Revision hat der Senat zu beachten, daß Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG durch das Einundzwanzigste Gesetz über die Anpassung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung (Einundzwanzigstes Rentenanpassungsgesetz - 21. RAG -) vom 25. Juli 1978 (BGBl I 1089) eine neue Fassung erhalten hat. Nach dieser wird nun im Gesetzeswortlaut (von Satz 1 - Satz 2 kommt hier nicht in Betracht) ausdrücklich gefordert, daß der Berechtigte die aufgegebene selbständige Erwerbstätigkeit von wenigstens fünf Jahren im Geltungsbereich des Gesetzes (Inland) ausgeübt haben muß. Nach der Neufassung kann der Kläger also unzweifelhaft die Anrechnung einer Ersatzzeit auf das ihm gewährte Altersruhegeld nicht verlangen. Nach ihr entfällt zugleich die Anrechnung der überdies geltend gemachten Ausfallzeiten, weil Art 2 § 13a AnVNG die entsprechende Anwendung des Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG voraussetzt.
Nach Art 4 § 3 des 21. RAG ist die Vorschrift über die Neufassung (Art 2 § 5 Nr 1) mit Wirkung vom 19. Oktober 1972 in Kraft getreten, dh zu dem Zeitpunkt, zu dem seinerzeit Art 2 § 9a (Absätze 1 und 2) in das AnVNG eingefügt worden ist (s. Art 2 § 2 Nr 4 RRG). Durch die dergestalt geregelte Rückwirkung ist die erste Fassung des Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG beseitigt. An ihre Stelle ist die neue Fassung getreten; sie allein kann damit die Rechtsgrundlage für den streitigen Anspruch sein.
Das rückwirkende Inkrafttreten der Neufassung hat kein höherrangiges Recht verletzt; daß ihr Rückwirkung beigelegt worden ist, verstößt insbesondere nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG). Dieses Prinzip gebietet, das Vertrauen des Bürgers in die Rechtsbeständigkeit zu schützen und ihn vor einer erheblichen Verschlechterung seiner einmal erworbenen Rechtsposition zu sichern. Belastende Gesetze, die nachträglich ändernd in schon der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen (BVerfGE 25, 403), sind darum in der Regel nichtig. Dies gilt jedoch nicht, wenn ein Schutz auf eine tatsächlich oder gar nur vermeintlich bestehende Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt war. Ein solcher Ausnahmefall war hier gegeben.
Dadurch, daß hier eine Gesetzesfassung rückwirkend in Kraft getreten ist, die anders als die frühere Fassung im Wortlaut ausdrücklich die Aufgabe einer "im Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübten" selbständigen Erwerbstätigkeit verlangt, ist die Rechtsposition des Klägers (und anderer Versicherter) nicht verschlechtert worden. Das Vertrauen in den Fortbestand der beseitigten Fassung des Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG ist schon deshalb nicht schutzwürdig, weil es dem Gesetzgeber bei Zweifeln an der Gültigkeit bzw Verfassungsmäßigkeit einer Norm nicht verwehrt sein darf, die Rechtslage rückwirkend - zumindestens im Sinne einer Klarstellung - zu ändern (BVerfGE 19, 197). Die Rechtsgültigkeit des Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG war wiederholt angezweifelt worden (s. hierzu BSGE 43, 212 und die dort erwähnten Ausführungen des Abgeordneten Schellenberg in der 198. Sitzung des Bundestages vom 21. September 1972, 6. Wahlperiode, S. 11701), weil die verkündete Fassung nicht mit der Fassung des Gesetzesbeschlusses in der 3. Lesung des Bundestages übereinstimmte und auf einem Berichtigungsbeschluß des Bundestagspräsidenten beruhte. Dabei hatte die in der 3. Lesung des RRG beschlossene, aber nicht verkündete Fassung des Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG, die den Kläger dem Wortlaut nach begünstigt hätte, nicht einmal dem Willen der antragstellenden Fraktionen des Bundestages (vgl BR-Drucks 509/72, S. 53, Berichtigungsschreiben hierzu S. 4 Nr. 11; Stenografischer Bericht über die 198. Sitzung des Bundestages aaO) entsprochen. Zu beachten ist hier auch, daß der Umfang einer zulässigen nachträglichen "Berichtigung" durch den Bundestagspräsidenten erst kürzlich durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geklärt worden ist (Beschluß des BVerfG vom 15. Februar 1978 - 2 BvL 8/74 - zur Berichtigung von offenbaren Unrichtigkeiten in Gesetzesbeschlüssen).
Vor allem ist jedoch eine Rechtsposition des Klägers durch die Gesetzesneufassung deshalb nicht verschlechtert worden, weil sich zu Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG idF des RRG eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gebildet hatte (BSGE 43, 211 und Urteile des 1. Senats vom 27. Oktober und 7. Dezember 1977 - 1 RA 141/75 und 1 RA 3/77), die mit dem durch das 21. RAG ergänzten Gesetzeswortlaut völlig übereinstimmt
Nach alledem konnte die Revision keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen