Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1994 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt Arbeitslosengeld (Alg) ab 1. März 1989, hilfsweise ab späteren Zeitpunkten.
Sie war vom 1. Juli 1982 bis 29. März 1987 als Küchenhilfskraft bei der Standortverwaltung K.… beschäftigt. Für die Zeit vom 30. März 1987 bis 31. Januar 1989 wurde ihr unbezahlter Sonderurlaub bewilligt. Das Arbeitsverhältnis bestand über den 1. Februar 1989 hinaus fort. Tatsächliche Arbeitsleistungen erbrachte die Klägerin nicht mehr; der Versuch einer Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz blieb ohne Erfolg. Während des Sonderurlaubs hatte die Klägerin ab 30. März 1987 an einer Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation teilgenommen, die sie am 30. August 1987 wegen Erkrankung abbrach. Vom 31. August 1987 bis 26. Februar 1989 erhielt sie Krankengeld (Krg). Am 10. März 1989 stellte sie Antrag auf Gewährung von Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, der durch die Landesversicherungsanstalt abgelehnt wurde, weil die Klägerin noch leichte Arbeiten mit Einschränkungen vollschichtig verrichten könne (Bescheid vom 26. Februar 1990; Widerspruchsbescheid vom 30. August 1990). Die hiergegen angestrengte Klage wurde am 2. Juli 1991 zurückgenommen.
Am 27. Juni 1991 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte Alg. Das Arbeitsamt (ArbA) lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Anwartschaftszeit sei nicht erfüllt; auch ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe (Alhi) sei nicht gegeben (Bescheid vom 23. August 1991). Mit ihrem Widerspruch brachte die Klägerin vor, sie habe bereits am 1. März 1989 und später am 27. oder 28. Februar 1990 beim ArbA vorgesprochen und angefragt, ob ein Antrag auf Alg gestellt werden könne; sie habe die Auskunft erhalten, daß dies nicht möglich sei. Die Widerspruchsstelle wies den Widerspruch mit dem Hinweis zurück, am 27. Juni 1991 hätten weder die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg noch die für einen Anspruch auf Alhi vorgelegen; von einer früheren Antragstellung könne nicht ausgegangen werden (Widerspruchsbescheid vom 20. September 1991). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin ab 1. März 1989 Alg in gesetzlichem Umfang zu zahlen (Urteil vom 9. Juni 1993). Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) bestimmte (durch den Vorsitzenden des zuständigen Senats) Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 29. Juni 1994, zu dem es ua das persönliche Erscheinen der Klägerin anordnete und G. (Sachbearbeiter des ArbA) und M. (Ehemann der Klägerin) als Zeugen lud. Nachdem die Klägerin beantragt hatte, sie vom persönlichen Erscheinen am Verhandlungstermin zu befreien, hob der Senatsvorsitzende die Anordnung des persönlichen Erscheinens der Klägerin und die Ladung der Zeugen G. und M. auf, ließ den Termin zur mündlichen Verhandlung am 29. Juni 1994 (zunächst) bestehen und beraumte einen Erörterungstermin auf den 22. Juni 1994 an, zu dem er wiederum das persönliche Erscheinen der Klägerin anordnete und G. und M. als Zeugen lud. Laut Niederschrift über diese “Nichtöffentliche Sitzung” vom 22. Juni 1994 eröffnete der Senatsvorsitzende die mündliche Verhandlung; die Zeugen wurden vernommen; die Beteiligten verhandelten zur Sache. Später wurde der Termin zur mündlichen Verhandlung am 29. Juni 1994 aufgehoben, nachdem die Einverständniserklärung beider Beteiligten für eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vorlag.
Das LSG hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (unter Mitwirkung des Senatsvorsitzenden, zweier weiterer Berufsrichter und zweier ehrenamtlicher Richter) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Juni 1994). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Klägerin habe weder am 27. Juni 1991 noch am 1. März 1989 noch am 27./28. Februar 1990 einen Anspruch auf Alg erworben. Am 27. Juni 1991 sei die Anwartschaftszeit nicht (mehr) erfüllt gewesen. Für den 1. März 1989 und den 27./28. Februar 1990 seien Antragstellung und Arbeitslosmeldung nicht nachgewiesen. Ein der Klägerin günstigeres Ergebnis lasse sich nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten. Die fehlende Arbeitslosmeldung könne nicht mit Hilfe dieses Rechtsinstituts ersetzt werden. Ein Anspruch auf Alhi werde von der Klägerin nicht geltend gemacht; er sei im Hinblick auf das Erfordernis der Bedürftigkeit auch nicht erfolgreich.
Die Klägerin rügt mit der Revision sowohl das Vorliegen von Verfahrensmängeln als auch die Verletzung von materiellem Recht. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei der LSG-Senat nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Ausweislich der Nie-derschrift über die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 1994 hätten die Beteiligten zur Sache verhandelt. Anwesend sei jedoch nur der Senatsvorsitzende gewesen; Berufsrichter und ehrenamtliche Richter seien nicht zugegen gewesen. Des weiteren sei gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen worden. Denn ausweislich der Niederschrift sei nach der Verhandlung der Beteiligten zur Sache allein durch den Vorsitzenden Beweis erhoben worden (durch Vernehmung der Zeugen G. und M.). Dieses Vorgehen sei nicht durch die verfahrensrechtlichen Vorschriften gedeckt, wonach ua einem Mitglied des Gerichts eine Beweisaufnahme nur übertragen werden dürfe, wenn von vornherein anzunehmen sei, daß das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermöge. Vorliegend sei von Anfang an deutlich gewesen, daß es auf die Glaubwürdigkeit der von der Klägerin benannten Zeugen G. und M. ankommen werde. In materieller Hinsicht macht die Klägerin ua Abweichung des LSG-Urteils von mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zur Antragstellung und Arbeitslosmeldung geltend (BSGE 60, 43 = SozR 4100 § 105 Nr 2; BSG, Urteil vom 11. Januar 1989 – 7 RAr 14/88 –, unveröffentlicht; BSG SozR 3-4100 § 105a Nr 2).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das zweitinstanzliche Urteil für zutreffend und erwidert, selbst wenn Antragstellung und Arbeitslosmeldung zum 1. März 1989 bzw 27./28. Februar 1990 als gegeben anzusehen seien, bleibe zweifelhaft, ob Arbeitslosigkeit und Verfügbarkeit vorgelegen hätten. Hierzu mangele es an entsprechenden Tatsachenfeststellungen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Ob der Klägerin ein Anspruch auf Alg zusteht, läßt sich nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht beurteilen, und zwar weder im positiven (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG) noch im negativen Sinne (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG), obwohl die Entscheidungsgründe eine Gesetzesverletzung ergeben (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
Anspruch auf Alg hat, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaftszeit erfüllt, sich beim ArbA arbeitslos gemeldet und Alg beantragt hat ( § 100 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫ ). Die Anwartschaftszeit hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist 360 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung (§ 168 AFG) gestanden (§ 104 Abs 1 Satz 1 AFG) oder eine gleichgestellte Zeit (§ 107 AFG) zurückgelegt hat. Die Rahmenfrist beträgt drei Jahre (§ 104 Abs 3 Halbs 1 AFG). Sie geht dem ersten Tag der Arbeitslosigkeit unmittelbar voraus, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt sind oder nach § 105 AFG als erfüllt gelten (§ 104 Abs 2 AFG). Hier hat die Arbeitslosmeldung der Klägerin vom 27. Juni 1991 nicht zu einem Alg-Anspruch geführt. Denn zu diesem Zeitpunkt war, worauf das LSG mit Recht hingewiesen hat, die Anwartschaftszeit (auch unter Berücksichtigung des Krg-Bezuges) nicht (mehr) verwirklicht.
Anders kann es sich in bezug auf einen Alg-Anspruch ab 1. März 1989 oder 27./28. Februar 1990 verhalten. Hat die Klägerin sich an einem dieser Tage arbeitslos gemeldet und Antrag auf Alg gestellt, kann die notwendige Anwartschaftszeit zurückgelegt worden sein. Das LSG ist bei seiner Entscheidung (vom 29. Juni 1994) aufgrund der Anhörung der Klägerin und der Vernehmung der Zeugen G. und M. (im Termin vom 22. Juni 1994) zu dem Ergebnis gelangt, ein ausreichender Nachweis für Arbeitslosmeldung und Antragstellung vor dem 27. Juni 1991 sei nicht erbracht worden. Das Zustandekommen dieser Schlußfolgerungen hat die Klägerin ordnungsgemäß gerügt (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Sie hat schlüssig aufgezeigt, daß das angefochtene Urteil auf einem Verfahrensmangel beruht, und zwar entweder deshalb, weil das LSG bei der Beweisaufnahme im Termin vom 22. Juni 1994 “nicht vorschriftsmäßig besetzt” war, oder aber, weil die Zeugen G. und M. in diesem Termin vom Senatsvorsitzenden (und Berichterstatter) in einem “nicht geeigneten Fall” vernommen worden sind. Diese Verfahrensrügen greifen vorliegend. War nämlich der Termin vom 22. Juni 1994 eine mündliche Verhandlung (§ 112 SGG), wofür das hinsichtlich der Förmlichkeiten mit Beweiskraft ausgestattete Protokoll ( § 165 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫, § 202 SGG) spricht (“bei Aufruf im heutigen Termin zur mündlichen Verhandlung”, “die Erklärung des Herrn M. vom 21. Juni 1994 wird zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht”; “der Vorsitzende eröffnet die mündliche Verhandlung”; “die Beteiligten verhandeln zur Sache”), war der Senat nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 33 Satz 1 SGG). War der Termin hingegen als Erörterungstermin anzusehen, was vom Senatsvorsitzenden so gewollt gewesen sein dürfte und wofür sich der Vermerk “Nichtöffentliche Sitzung” (Niederschrift oben links) anführen läßt, sind die Zeugen G. und M. in einem “nicht geeigneten Fall” (§ 106 Abs 3 Nr 4 SGG) vernommen worden.
Während sich der erstgenannte Verfahrensmangel aus sich heraus versteht, erhellt der zweiterwähnte aus den Gesamtumständen des Verfahrensablaufs: Nachdem das SG dem Klagebegehren mit dem Hinweis stattgegeben hatte, es sei glaubhaft, daß sich die Klägerin am 1. März 1989 arbeitslos gemeldet und Antrag auf Alg gestellt habe, hätte sich das LSG, wie von der Klägerin dargetan, gedrängt sehen müssen, die Beweiserhebung, wie für den Normalfall vorgesehen (§ 117 SGG), in der mündlichen Verhandlung durchzuführen. Zeugenvernehmung in einem Erörterungstermin, die nur für “geeignete Fälle” in Betracht zu ziehen ist (§ 106 Abs 3 Nr 4 SGG; vgl auch § 375 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG), verbot sich hier schon deshalb, weil es in besonderem Maße auf die Glaubwürdigkeit der von der Klägerin benannten Zeugen ankam. Hiervon ist der Senatsvorsitzende selbst ausgegangen. Denn er hatte die Zeugen G. und M. ursprünglich zur mündlichen Verhandlung (am 29. Juni 1994) geladen. Erst nachdem die Klägerin mitgeteilt hatte, sie sei an diesem Tag verhindert, hat er (die Anhörung der Klägerin und) die Vernehmung der Zeugen auf einen Erörterungstermin (am 22. Juni 1994) vorverlegt.
Die Klägerin hat auch schlüssig dargelegt, daß das angefochtene Urteil auf den gerügten Verfahrensmängeln beruhen kann. Sie hat nämlich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß es im vorliegenden Fall einen erheblichen Unterschied macht, ob im Rahmen der Beweisaufnahme nur ein Richter oder mehrere Richter das Fragerecht ausüben und ob sich von dem Ergebnis der Beweisaufnahme nur der Senatsvorsitzende oder der Spruchkörper in seiner Gesamtheit einen unmittelbaren Eindruck verschaffen können.
Die Klägerin hat auf die vorerwähnten Verfahrensrügen nicht etwa verzichtet, mit der Folge, daß sie diese nicht mehr geltend machen könnte (§ 295 Abs 1 Alternative 1 ZPO iVm § 202 SGG). Zwar hat sie sich im Termin vom 22. Juni 1994 mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG). Doch läßt sich dieser Einverständniserklärung nicht ein Verzicht auf die Einhaltung der für eine Beweisaufnahme vorgegebenen Verfahrensvorschriften entnehmen. Dies folgt – abgesehen davon, daß es. hier an der erforderlichen Eindeutigkeit einer entsprechenden Verzichtserklärung der Klägerin mangelt – schon daraus, daß das LSG am 29. Juni 1994 trotz der Einverständniserklärung sowohl der Klägerin wie der Beklagten eine abschließende Entscheidung nicht zu treffen brauchte. Es hätte in eine wiederholte oder weitere Beweiserhebung eintreten können.
Sollte es für die erneute Entscheidung des LSG wiederum darauf ankommen, ob Arbeitslosmeldung und Antragstellung am 1. März 1989 bzw 27./28. Februar 1990 erfolgten, dürfte sich sonach anbieten, die Beweisaufnahme vor dem Senat in voller Besetzung zu wiederholen. Im übrigen wird ggf zu prüfen sein, ob die Klägerin – was vom SG übersehen worden ist – ab Arbeitslosmeldung und Antragstellung (durchgehend) arbeitslos (§ 101 AFG) und verfügbar (§ 103 AFG) war. Schließlich wird das LSG über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen