Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Vermögen. Fehlende Härtefallregelung in der AlhiV 2002. Ermächtigungsgrundlagenkonforme Auslegung. Kein Schutz bloßer Vermögenserwartungen
Normenkette
SGB III § 190 Abs. 1, § 193 Abs. 2, § 206 Nr. 1; AlhiV 2002 § 1 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. September 2004 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 1. Januar 2002 bis 27. Juli 2002 hat.
Der am 7. September 1941 geborene Kläger bezog nach Bewilligung durch Bescheid vom 11. Januar 2001 Alhi bis zum Ende des Bewilligungsabschnitts am 31. Dezember 2001. Bei der Antragstellung auf Weiterbewilligung von Alhi am 26. November 2001 gab der Kläger an, auf ihn bzw seine am 21. August 1947 geborene Ehefrau seien verschiedene Kapitallebensversicherungen mit einem Gesamtrückkaufswert von 64.303,27 € abgeschlossen. Bei allen Versicherungen war der Rückkaufswert jeweils höher als die bislang eingezahlten Beträge.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Bewilligung von Alhi mit der Begründung ab, das verwertbare Vermögen von 64.303,27 € übersteige den für den Kläger und die Ehefrau geltenden Freibetrag von insgesamt 59.280 € um 5.023,27 € (Bescheid vom 27. Februar 2002, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2002). Am 4. März 2002 beantragte der Kläger erneut die Bewilligung von Alhi und gab wiederum die bestehenden Lebensversicherungen an, deren Gesamtrückkaufswert sich inzwischen auf 68.779,26 € erhöht hatte. Die Beklagte lehnte auch diesen Antrag ab (Bescheid vom 12. April 2002, Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2002). Mit Wirkung ab 28. Juli 2002 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alhi, da zwei der Versicherungen mit der Folge eines nunmehr geringeren Gesamtrückkaufswerts beliehen worden waren.
Das Sozialgericht (SG) hat die gegen die Ablehnung der Alhi-Anträge vom November 2001 bzw März 2002 zunächst getrennt erhobenen Klagen zur gemeinsamen Entscheidung verbunden und sie abgewiesen (Urteil vom 21. Januar 2003). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (Urteil vom 16. September 2004). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Der Kläger sei nicht bedürftig gewesen, wie sich aus der Bewertung seines Vermögens bzw seiner Ehefrau bezogen auf die Zeitpunkte der jeweiligen Antragstellung und des jeweiligen Leistungsbeginns ergebe. Die Beklagte habe nach den Vorschriften des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) und der am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Arbeitslosenhilfe-Verordnung vom 13. Dezember 2001 – BGBl I S 3734 – (AlhiV 2002) für den Kläger und die Ehefrau zutreffend einen Freibetrag von insgesamt 59.280 € ermittelt. Das bei der jeweiligen Antragstellung und in der Zeit ab 1. Januar 2002 bzw 4. März 2002 maßgebliche Vermögen aus den Kapitallebensversicherungen habe diesen Freibetrag um 5.023,27 € (Antragstellung 26. November 2001) bzw um 9.499,26 € (Antragstellung 4. März 2002) überstiegen. Die Berücksichtigung der Lebensversicherungen sei nicht durch § 1 Abs 3 AlhiV 2002 ausgeschlossen. Eine Berücksichtigung entfalle auch nicht deshalb, weil es sich um Sachen oder Rechte handle, deren Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich sei (§ 1 Abs 3 Nr 6 AlhiV 2002). Die AlhiV 2002 halte sich auch im Rahmen der gültigen Ermächtigung des § 206 Nr 1 SGB III und § 1 AlhiV 2002 begegne auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten keinen Bedenken.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die AlhiV 2002 stehe mit der Ermächtigungsgrundlage des § 206 Nr 1 SGB III iVm § 193 Abs 2 SGB III nicht in Einklang, soweit sie keine Rechtsvorschrift mehr enthalte, nach der die besonderen Umstände des Einzelfalles Berücksichtigung finden könnten. Der Verordnungsgeber habe die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gesetzten Grenzen des Handlungsspielraums gerade in Bezug auf § 193 Abs 2 SGB III unterschritten. Das Urteil des LSG könne auch darauf beruhen, dass das LSG die Notwendigkeit einer Härtefallregelung verkannt habe. Die aufgeführten Kapitallebensversicherungen bestünden zum größten Teil seit Jahrzehnten und würden ersichtlich erst nach dem Regelaltersrentenbeginn fällig. Es könne kaum davon ausgegangen werden, dass der bei Antragstellung bereits 60-jährige Kläger nach erzwungener Verwertung des Altersvermögens noch in der Lage sei, jemals einen annähernden Ausgleich bis zum Rentenbeginn zu schaffen. Aus der Erwerbsbiographie des Klägers werde deutlich, wie wichtig zusätzliche private Vorkehrungen für das Alterseinkommen seien. Es könne auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass mit der AlhiV 2002 nicht nur die Privilegierung von Altersschonvermögen, sondern auch der allgemeine Vermögensfreibetrag gemäß § 6 Arbeitslosenhilfe-Verordnung (AlhiV) von 1974 weggefallen sei. Das LSG habe zu den für die Beurteilung eines Härtefalles maßgeblichen Argumenten keine Feststellungen getroffen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG vom 16. September 2004 und des SG vom 21. Januar 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung der Bescheide vom 27. Februar 2002 und 12. April 2002, jeweils in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 17. Juni 2002, ab 1. Januar 2002 Alhi zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie trägt vor, das LSG habe zutreffend entschieden. Trotz neuerer Rechtsprechung des BSG werde daran festgehalten, dass die Klage unbegründet sei. Entgegen der BSG-Rechtsprechung begründe das Fehlen einer allgemeinen Härteklausel in der AlhiV 2002 keinen nicht begründbaren Widerspruch zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II); die Auffassung verkenne, dass es sich bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende wie bei der Sozialhilfe um eine reine Fürsorgeleistung handle. Im übrigen sei selbst bei hypothetischer Zugrundelegung der Billigkeitsregelung des § 6 Abs 3 Satz 1 der AlhiV 1974 im vorliegenden Fall nicht von einer Unzumutbarkeit der Vermögensverwertung auszugehen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung begründet.
1. Zu entscheiden ist nach dem Antrag des Klägers, dem für die Zeit ab 28. Juli 2002 wieder Alhi bewilligt worden ist, ausschließlich über den Zeitraum 1. Januar bis 27. Juli 2002. Anzuwenden sind die §§ 190 ff SGB III sowie die Vorschriften der AlhiV 2002 in der seit 1. Januar 2002 geltenden Fassung. Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein Fall des § 4 AlhiV 2002, wonach unter bestimmten Voraussetzungen übergangsweise noch Bestimmungen der AlhiV 1974 mit bestimmten Maßgaben weiter gelten können, nicht vorliegt.
2. Die bisher vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen erlauben keine abschließende Entscheidung darüber, ob der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf Alhi hat. Insbesondere kann die vom LSG verneinte Frage der Bedürftigkeit nicht abschließend beurteilt werden.
a) Nach § 190 Abs 1 Nr 5 SGB III iVm § 193 Abs 2 SGB III ist ein Arbeitsloser nicht bedürftig, solange mit Rücksicht auf sein Vermögen und ua das Vermögen seines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten die Erbringung von Alhi nicht gerechtfertigt ist. Ob und inwieweit Vermögen zu berücksichtigen ist, konkretisiert § 1 AlhiV 2002. Nach § 1 Abs 1 AlhiV 2002 ist das gesamte verwertbare Vermögen des Arbeitslosen zu berücksichtigen, soweit dessen Wert den Freibetrag übersteigt. Nach Abs 2 ist Freibetrag ein Betrag von 520,00 € je vollendetem Lebensjahr des Arbeitslosen und seines Partners, wobei der Freibetrag für den Arbeitslosen und seinen Partner jeweils 33.800 € nicht übersteigen darf. Dass das LSG nach diesen Vorgaben von fehlender Bedürftigkeit wegen zu berücksichtigenden Vermögens bezogen auf den Zeitpunkt der jeweiligen Antragstellung ausgegangen ist, ist nicht zu beanstanden. Denn nach den bindenden und nicht mit Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen verfügten der Kläger und seine Ehefrau jeweils zu der Zeit, in der die Anträge auf Bewilligung von Alhi gestellt worden sind (vgl § 1 Abs 4 Satz 2 AlhiV 2002), über Kapitallebensversicherungen mit einem Gesamtrückkaufswert von 64.303,27 € bzw 68.779,26 €, also über Vermögenswerte, die den maßgeblichen Freibetrag – 31.200 € für den damals 60-jährigen Kläger, 28.080 € für die 54-jährige Ehefrau, insgesamt 59.280 € – erheblich überstiegen.
b) Grundsätzlich nicht zu beanstanden ist die Entscheidung des LSG auch, soweit es das Eingreifen eines Ausnahmetatbestandes nach § 1 Abs 3 AlhiV 2002, wonach bestimmte Vermögensgegenstände nicht als Vermögen iS der Alhi-Vorschriften zu berücksichtigen sind, verneint hat. Soweit vom Kläger geltend gemacht wird, eine Verwertung seiner Versicherungen sei “offensichtlich unwirtschaftlich” im Sinne des § 1 Abs 3 Nr 6 AlhiV 2002, hat das LSG zu Recht darauf abgestellt, dass die Rückkaufswerte der einzelnen Lebensversicherungen ausnahmslos höher waren als die jeweils eingezahlte Summe der Beiträge (vgl hierzu ua Urteil des Senats vom 25. April 2002, B 11 AL 69/01 R, DBlR 4750a zu § 137 AFG; Urteile des BSG vom 9. Dezember 2004, B 7 AL 30/04 R, SozR 4-4300 § 193 Nr 2, vom 27. Januar 2005, B 7a/7 AL 34/04 R, veröffentlicht in juris, und vom 25. Mai 2005, B 11a/11 AL 51/04 R, SozR 4-4220 § 6 Nr 2). Dagegen ist, wovon das LSG zu Recht ausgegangen ist, die bloße Erwartung, es werde bei weiterem Zeitablauf ein höherer Zahlbetrag fällig, im Rahmen der Alhi-Vorschriften nicht geschützt. Zu berücksichtigen ist dabei auch die vom Kläger für einen späteren Zeitraum offenkundig genutzte Möglichkeit, die Zeit bis zur Fälligkeit einer Lebensversicherung durch Beleihung überbrücken zu können (vgl hierzu Urteil des Senats vom 14. September 2005, B 11a/11 AL 71/04 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
c) Der Senat folgt jedoch nicht der Auffassung des LSG, die AlhiV 2002 halte sich insgesamt im Rahmen der gültigen Ermächtigung des § 206 Nr 1 SGB III. Vielmehr standen – wie das BSG bereits entschieden hat – die Vorschriften der ab 1. Januar 2002 in Kraft getretenen AlhiV 2002 nicht mit der Ermächtigungsgrundlage des § 206 Nr 1 SGB III iVm § 193 Abs 2 SGB III in Einklang, weil in der AlhiV 2002 keine allgemeine Härteklausel (mehr) enthalten war (vgl insbesondere Urteile vom 9. Dezember 2004, B 7 AL 30/04 R, SozR 4-4300 § 193 Nr 2, und B 7 AL 44/04 R, BSGE 94, 121 = SozR 4-4300 § 193 Nr 3; vgl auch bereits BSGE 91, 94 ff = SozR 4-4220 § 6 Nr 1). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat – wie schon ua im Urteil vom 25. Mai 2005, B 11a/11 AL 51/04 R, SozR 4-4220 § 6 Nr 2 – an (vgl nunmehr auch Urteil vom 14. September 2005, B 11a/11 AL 71/04 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der Senat lässt hierbei offen, ob der durch den Gesetzgeber vorgenommenen Änderung der Vermögensfreibeträge in § 1 AlhiV 2002 Gesetzes- oder Verordnungsrang zukommt; denn der Mangel einer fehlenden Härteklausel haftet jedenfalls der AlhiV 2002 seit Januar 2002 als Verordnung an (vgl insbesondere BSGE 94 aaO RdNr 4).
Die gegen die vorgenannte Rechtsprechung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten greifen nicht durch. Der Senat hat sich mit diesen Einwendungen bereits auseinandergesetzt und er ist dem Vortrag, das Fehlen einer allgemeinen Härteregelung sei nicht zu beanstanden, nicht gefolgt (vgl Urteile vom 25. Mai 2005, B 11a/11 AL 51/04 R, SozR 4-4220 § 6 Nr 2, sowie B 11a/11 AL 73/04 R). Er hat insbesondere ausgeführt, dass trotz des unterschiedlichen Rechtscharakters von Alhi und Sozialhilfe eine Korrekturmöglichkeit zwecks individueller Prüfung aller Vermögens- und Lebensumstände im Bereich der Alhi unverzichtbar ist. Auf die Ausführungen in den vorbezeichneten Urteilen, an denen festzuhalten ist, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
3. Das LSG hätte also näher prüfen müssen, ob im konkreten Fall des Klägers eine besondere Härte vorlag, nach der die Verwertung des Vermögens billigerweise nicht erwartet werden konnte. Dies ist – wie die Revision zu Recht geltend macht – nicht geschehen. Das LSG hat insbesondere keine näheren Feststellungen zur Erwerbsbiographie des Klägers getroffen. Das LSG wird dies nachzuholen haben. Hierbei wird zu beachten sein, dass Versorgungslücken nicht unabhängig von ihrer Ursache zur Annahme einer Härte führen, sondern dass als Gründe für im Rahmen der Härtefallregelung zu berücksichtigende Lücken beim Aufbau einer Versorgungsanwartschaft nur Umstände zu berücksichtigen sind, die auf bestimmten, von der Rechtsordnung gebilligten Dispositionen beruhen (vgl Urteile des Senats vom 25. Mai 2005, B 11a/11 AL 51/04 R, SozR 4-4220 § 6 Nr 2, und B 11a/11 AL 73/04 R, sowie vom 14. September 2005, B 11a/11 AL 71/04 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG Gelegenheit zur Klarstellung erhalten, ob sich infolge der Beleihung einzelner Versicherungen, die später zur Alhi-Bewilligung ab 28. Juli 2002 geführt hat, die Vermögensverhältnisse des Klägers schon vor diesem Zeitpunkt entscheidungserheblich geändert haben oder nicht (vgl § 1 Abs 4 Satz 2 und 3 AlhiV 2002; vgl zum Beurteilungszeitpunkt bei Änderungen auch BSG, Urteil vom 17. Dezember 2002, B 7 AL 126/01 R, veröffentlicht in juris).
Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits abschließend zu befinden haben.
Fundstellen