Verfahrensgang
LSG Hamburg (Urteil vom 05.12.1991) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. Dezember 1991 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Erwerbsunfähigkeits-hilfsweise auf Berufsunfähigkeitsrente (EU-/BU-Rente) ab 1. Februar 1987.
Die 1947 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war von 1963 bis 1968 als Hausgehilfin, 1972 und 1973 als Verkäuferin und im Jahre 1980 kurzfristig als Kassiererin beschäftigt. Vom 28. April 1980 bis 31. März 1987 war sie als Busfahrerin bei der Pinneberger Verkehrsgesellschaft mbH (PVG) beschäftigt. Seit April 1986 war sie arbeitsunfähig krank. Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von EU- bzw BU-Rente vom 19. Januar 1987 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 17. Juli 1987), den Widerspruch wies sie zurück (Bescheid vom 30. November 1987).
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 18. Juli 1989). Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 5. Dezember 1991). Das LSG hat ausgeführt, daß die Klägerin unter Berücksichtigung der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen körperlich leichte Arbeiten unter Vermeiden von längerem Sitzen und Stehen noch vollschichtig verrichten könne. Die Klägerin könne danach nicht mehr die zuletzt verrichtete Tätigkeit als Busfahrerin bei der PVG weiterverrichten. Nach der Qualität dieser Arbeit sei die Klägerin im Mehrstufenschema des Bundessozialgerichts (BSG) als Angelernte (oberer Bereich) einzuordnen. Eine höhere Einstufung rechtfertige sich weder aus der Dauer und der Qualität der betrieblichen Ausbildung und Einarbeitung bei der PVG noch aus der tariflichen Einstufung und Bezahlung der Klägerin. Die Klägerin sei bei ihrem letzten Arbeitgeber intern nur wenige Monate für den Einsatz als Busfahrerin ausgebildet worden. Eingruppierung und Bezahlung der Klägerin habe sich nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer des privaten Omnibusgewerbes Schleswig-Holstein und dem darauf aufbauenden Vergütungssystem der PVG gerichtet. Nach den Bestimmungen des Tarifvertrages seien die Beschäftigten in drei Gruppen eingeteilt: Handwerker in Lohngruppe I, Omnibusfahrer in Lohngruppe II und Omnibusschaffner sowie alle sonstigen ungelernten Arbeiter in Lohngruppe III. An diese Einteilung halte sich auch die Vergütungsregelung der PVG. Sie weiche nur bei der Lohnhöhe nach oben ab. Handwerker würden dort nach der Lohngruppe T 9 mit 17,23 DM und nach Ablauf etwa eines Jahres dann in die Lohngruppe T 10 mit 17,97 DM bezahlt, während ein Busfahrer auch nach sechsjähriger Fahrdienstzugehörigkeit nur einen Höchstlohn von 16,81 DM stündlich erzielen könne. An diesem auch zur Zeit der Beschäftigung der Klägerin bereits geltenden Lohnabstand zwischen Handwerkern einerseits und Omnibusfahrern andererseits änderten auch die Zulagen für diese beiden Gruppen nichts. Die PVG zahle eine Kassierzulage von 1,70 DM pro Stunde für die ausschließlich im Einmannbetrieb tätigen Busfahrer. Daneben würden Spesen für geteilten Dienst (15,– DM), für geteilte Dienste über 12 Stunden zusätzlich (10,– DM) und Zulagen für Sonn- und Feiertagsarbeit (10,– DM) gezahlt. Dem stünde bei Handwerkern der PVG eine – allgemein gezahlte – Schmutzzulage von 240,– DM und eine – ebenfalls allgemein gezahlte – Bereitschaftsdienstzulage von 150,– DM monatlich gegenüber. Als Angelernte (oberer Bereich) sei es der Klägerin zumutbar, als Tagespförtnerin zu arbeiten. Diese Arbeit könne die Klägerin mit dem ihr verbliebenen körperlichen Leistungsvermögen ausüben. Die Tätigkeit eines Pförtners gebe es auch in nennenswerter Zahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Mit ihrer – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Sie beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 5. Dezember 1991 und das Urteil des SG Hamburg vom 18. Juli 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Juli 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. November 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab 1. Februar 1987 Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU zu gewähren;
hilfsweise beantragt sie,
das Urteil des LSG Hamburg vom 5. Dezember 1991 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet.
Über den Anspruch der Klägerin ist nach den Vorschriften der RVO zu entscheiden (§ 300 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – ≪SGB VI≫).
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Gemäß Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich damit die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs unter besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Das LSG hat unangegriffen festgestellt, daß die Klägerin ihren bisherigen Beruf, den der Busfahrerin, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Ebenfalls unangegriffen hat das LSG festgestellt, daß die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen noch die Tätigkeit einer Tagespförtnerin verrichten kann. Ausgehend von einem bisherigen Beruf der Klägerin als „Angelernte” hat das LSG diese Verweisungstätigkeit für zumutbar gehalten.
Um die Qualität eines Berufes nach den in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannten Kriterien zu bestimmen, hat das BSG ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in verschiedene „Leitberufe” untergliedert, nämlich den des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des „angelernten” und schließlich des ungelernten Arbeiters. Grundsätzlich darf der Versicherte nur auf die seinem bisherigen Beruf folgende niedrigere Gruppe verwiesen werden. Zur Gruppe der Facharbeiter gehören dabei nach der ständigen Rechtsprechung des Senats nicht nur Berufe, die eine mehr als zweijährige Ausbildung voraussetzen, sondern auch die Tätigkeiten, die den anerkannten Ausbildungsberufen mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung tarifvertraglich qualitativ gleichgestellt sind (vgl zuletzt Urteile vom 14. Mai 1991, 5 RJ 82/89 und 5 RJ 41/90 – ersteres veröffentlicht in SozR 3-2200 § 1246 Nr 13). Unter Beachtung dieser Rechtsprechung ist es nicht ausgeschlossen, daß die Tätigkeit der Klägerin als Busfahrerin der Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen ist.
Das LSG ist insoweit nämlich unzutreffend davon ausgegangen, daß die von der Klägerin zuletzt 7 Jahre lang ausgeübte Tätigkeit der Lohngruppe II des für sie maßgebenden Tarifvertrags entspricht. Dies ist nicht der Fall, weil die Klägerin nicht allein als ein – von der Lohngruppe II erfaßter – Omnibusfahrer beschäftigt war, sondern während ihres Einsatzes außerdem noch die Inkasso-Funktion ausübte, so daß sie zusätzlich die in Lohngruppe III eingestufte Tätigkeit eines Omnibusschaffners übernahm. Für dieses somit zusätzliche Qualitätsmerkmal erhielt sie eine Kassierzulage von 1,70 DM pro Stunde. Wenn die Klägerin damit im Ergebnis – in Form der effektiven Entlohnung – einem Facharbeiter (Handwerker der Lohngruppe I) gleichgestellt war, gehört ihr bisheriger Beruf in Fortführung der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters. Es kann nämlich kein rechtlich relevanter Unterschied zwischen den einzelnen Gleichstellungsformen gemacht werden. Dies hat der erkennende Senat im Grundsatz bereits mit Urteil vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 41/90 – entschieden. Ob die Gleichstellungsform direkt dem Tarifvertrag zu entnehmen ist oder auf einer – nach dem Tarifvertrag zulässigen -betrieblichen Vereinbarung beruht, ist deshalb nicht rechtserheblich. Insoweit hat das LSG festgestellt, daß sich die Entlohnung der Klägerin nach dem für sie maßgebenden Tarifvertrag und dem „darauf aufbauenden” Vergütungssystem der PVG gerichtet hat. Auch in diesem Fall folgt somit die – nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats entscheidende – qualitative Bewertung des bisherigen Berufs letztlich aus der Einschätzung durch die Tarifpartner (vgl insoweit Urteil vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 in SozR 3-2200 § 1246 Nr 13).
Entgegen der Auffassung des LSG rechtfertigen die den in Lohngruppe I eingestuften Handwerkern gezahlten Zulagen für Schmutz und Bereitschaftsdienst keine anderen Entscheidungen. Denn diese werden wegen der mit der Tätigkeit verbundenen Nachteile und Erschwernisse gewährt und müssen daher nach der ständigen Rechtsprechung des BSG bei der am qualitativen Wert der Tätigkeit orientierten Zuordnung in das Mehrstufenschema ebenso außer Betracht bleiben wie die der Klägerin noch bezahlten Spesen und Zulagen für geteilten Dienst sowie für Sonn- und Feiertagsarbeit (vgl die Urteile des erkennenden Senats vom 14. Mai 1991, aaO, jeweils mit weiteren Nachweisen).
Darf somit allein die der Klägerin gewährte Kassierzulage bei dem Vergleich der Lohnhöhe nach den Lohngruppen I und II zusätzlich berücksichtigt werden, so ist eine tarifliche Gleichstellung der bisherigen Tätigkeit der Klägerin mit der Lohngruppe I für Handwerker (Facharbeiter) in Form der effektiven Entlohnung nicht ausgeschlossen, was indes noch weiterer Tatsachenfeststellungen bezüglich der vergleichbaren Lohnhöhen nach den Lohngruppen I und II bedarf. Denn das LSG hat bisher für Handwerker den Eingangslohn und den nach Ablauf etwa eines Jahres gezahlten Lohn, für Busfahrer aber nur den nach sechsjähriger Fahrdienstzugehörigkeit erzielten Höchstlohn (ohne Kassierzulage) festgestellt. Es fehlt somit insoweit an miteinander vergleichbaren Größen.
Ist aufgrund dieser noch zu treffenden Feststellungen und der dargelegten Rechtsauffassung des erkennenden Senats eine dem Facharbeiter gleichgestellte bisherige Tätigkeit der Klägerin zu bejahen, so wird das LSG gegebenenfalls die für die Klägerin womöglich noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zu ermitteln haben.
Der Rechtsstreit ist nach alledem gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen