Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung rechtlichen Gehörs bei Nichtberücksichtigung von Parteivorbringen

 

Orientierungssatz

Das Gericht verletzt den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es ausführliche und vom gerichtlichen Sachverständigen abweichende Befunde und Beurteilungen in einem Arztbrief unerwähnt und unerörtert läßt.

 

Normenkette

GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.06.1983; Aktenzeichen L 11 An 21/81)

SG München (Entscheidung vom 26.11.1980; Aktenzeichen S 12 An 91/79)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufs-unfähigkeit (EU/BU).

Dem 1941 geborenen, zuletzt als kaufmännischer Angestellter tätig gewesenen Kläger versagte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) mit dem streitigen Bescheid vom 5. Januar 1979 die im März 1978 wegen EU bzw. BU beantragte Versichertenrente, weil er bei seelischem Fehlverhalten ohne organisch krankhafte Befunde noch in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig zu sein.

Klage und Berufung hiergegen blieben ohne Erfolg. Mit Urteil vom 26. November 1980 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen, weil der Kläger wegen einer Reihe weniger schwerer Gesundheitsstörungen - darunter lt. dem augenärztlichen Sachverständigen Dr. B. eine komplette Convergenz-Parese der Augen mit Ausschluß beidäugigen Sehens in der Nähe - und wegen eines psychosomatischen Syndroms noch nicht berufsunfähig sei. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 9. Juni 1983 die Abschrift eines Briefes des Oberarztes der Universitätsaugenklinik München Privatdozent Dr. med. habil. K. vom 11. Mai 1983 an den vertrauensärztlichen Dienst der Landesversicherungsanstalt (LVA) Oberbayern vorgelegt, lt. dem der "im Nahbereich... stark beeinträchtigte" Kläger "eine regelmäßige Schreibtischtätigkeit nicht" mehr verrichten könne. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung außerdem beantragt, ua ein weiteres augenärztliches Gutachten einzuholen. Dem ist das LSG nicht gefolgt. Im angefochtenen Urteil vom 9. Juni 1983 hat das LSG die Berufung des Klägers unter Verneinung von BU zurückgewiesen, weil der Kläger Arbeiten als kaufmännischer Angestellter vollschichtig und regelmäßig noch verrichten könne. In der Begründung heißt es ua: "Von seiten der Augen besteht beim Kläger eine komplette Convergenz-Parese. Hierdurch ist beidäugiges Sehen in der Nähe nicht möglich, jedoch hat schon Dr. B. darauf hingewiesen, daß bei Abdeckung eines Auges das unverdeckte Auge in der Nähe jeweils volle Funktionstüchtigkeit hat. Der Kläger müsse nur für die Naharbeit eine Brille tragen, die durch ein Mattglas ein Auge vom Sehen völlig ausschaltet. Dann wäre er bei der Naharbeit zwar einäugig, aber durch die Convergenz-Parese nicht mehr behindert. Normales Lesen und Schreiben könnten so gut erfolgen. Dr. B. wies auch darauf hin, daß eine normale Bürotätigkeit kein gutes beidäugiges Sehen erfordere und der Kläger deshalb nur für wenig Berufe, eben solche, die gutes beidäugiges Sehen in der Nähe erfordern, ungeeignet sei. Auch seitens des Augenbefundes kann der Kläger daher Tätigkeiten aus dem Berufskreis eines kaufmännischen Angestellten noch ganztägig verrichten... Schließlich bedurfte es auch nicht der Einholung eines weiteren augenfachärztlichen oder eines hals- nasen- ohrenfachärztlichen Gutachtens. Die Gesundheitsstörungen auf diesen Gebieten sind durch die Gutachten von Dr. B., Dr. W. und Dr. K. eingehend erörtert und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Klägers beurteilt worden..."

Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 20. Oktober 1983).

Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er trägt vor, das LSG habe seinen in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, ein weiteres augenärztliches Gutachten einzuholen, einfach übergangen. Dadurch sei § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen - verletzt. Er habe nämlich in der mündlichen Verhandlung einen Bericht des Oberarztes der Universitätsaugenklinik in München Dr. K. vorgelegt, der anders als der augenärztliche Sachverständige des SG Dr. B. die Nebenwirkungen der bei ihm vorliegenden Convergenz-Parese würdige und für ihn Schreibtischarbeit im Gegensatz zu Dr. B. ablehne. Das LSG hätte sich daher gedrängt fühlen müssen, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen.

Der Kläger beantragt, 1. das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juni 1983 wird aufgehoben. 2. Die Sache wird zur weiteren Verhandlung und Ent- scheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Beklagte beantragt, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Sie ist der Auffassung, der Beweisantrag des Klägers könne nicht nachträglich in der Revisionsinstanz entschieden werden.

Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zugelassene Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Zutreffend beanstandet es der Kläger in der Begründung seiner Revision als verfahrensfehlerhaft, daß das LSG seinen auf den Arztbrief des Oberarztes der Universitätsaugenklinik München Privatdozent Dr. med. habil. K. vom 11. Mai 1983 gestützten Antrag auf Einholung eines weiteren augenärztlichen Gutachtens in seinem Urteil "einfach übergangen" habe. Zwar war das LSG nicht verpflichtet, jedes Vorbringen des Klägers in den Gründen des angefochtenen Urteils ausdrücklich zu verbescheiden; es muß davon ausgegangen werden, daß ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten grundsätzlich auch zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung erwogen hat. Indessen verletzt das Gericht den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes -GG- und § 62 SGG), wenn aus der Entscheidung nicht kenntlich wird, daß das Gericht ein Vorbringen des Beteiligten, das nach den Umständen des Falles für die Entscheidung des Rechtsstreits von Gewicht sein könnte, zur Kenntnis genommen und gewürdigt hat (vgl zB BVerfGE 22, 267, 274; BVerfG SozR 1500 § 62 Nr 13). Im angefochtenen Urteil hat das LSG weder im Tatbestand noch in den Gründen den ausführlichen, einen umfangreichen Befund und eine Beurteilung enthaltenden Brief des Privatdozenten Dr. med. habil. K. von der Universitätsaugenklinik München erwähnt. Das LSG hat sich im Urteil vielmehr ausschließlich dem augenärztlichen Sachverständigen des SG Dr. B. angeschlossen und unter Berufung allein auf ihn auch die Einholung eines weiteren augenärztlichen Gutachtens für überflüssig erklärt. Hiernach bleibt zumindest offen, ob das LSG den Bericht des Privatdozenten Dr.med. habil. K. zur Kenntnis genommen und in seine Überlegungen einbezogen hat, ggf., aus welchen Gründen es ihn für entscheidungsunerheblich und keiner Erwähnung für bedürftig gehalten hat. Hierzu hätte aber nach den Umständen des Falles Anlaß bestanden. Privatdozent Dr. K. ist in der Beurteilung von der des Sachverständigen des SG Dr. B. abgewichen; im Gegensatz zu ihm hat er den Kläger für ungeeignet erklärt, noch Schreibtischarbeiten zu verrichten. Überdies hat Dr. K. neben dem engeren objektiven Augenbefund Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Tränen und Brennen der Augen als glaubhaft und zusätzlich leistungsmindernd erachtet. Dr. B. hat solche Nebenwirkungen in seinem Gutachten nicht erwähnt.

Nach allem verletzt das angefochtene Urteil den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör insoweit, als es die ausführlichen und vom gerichtlichen augenärztlichen Sachverständigen abweichenden Befunde und Beurteilungen des Oberarztes der Universitätsaugenklinik München Privatdozent Dr. med. habil. K. unerwähnt und unerörtert läßt. Allein schon deswegen sind die Feststellungen des LSG zu der Frage, wie weit die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch gesundheitliche Umstände iS von § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) herabgesunken ist, fehlerhaft zustande gekommen. Es bedarf daher keiner Prüfung, wie weit sich das LSG angesichts der Ausführungen des Privatdozenten Dr. K. durch § 103 SGG hätte gedrängt sehen müssen, die Frage der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit des Klägers seitens der Augen durch eine weitere Beweisaufnahme abzuklären (zB Einholung einer Stellungnahme von dem augenärztlichen Sachverständigen zum Bericht des Dr. K.).

Durch Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz war dieser Gelegenheit zu geben, die notwendigen tatsächlichen Feststellungen verfahrensfehlerfrei zu treffen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung im Kostenpunkt bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656029

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