Entscheidungsstichwort (Thema)
Überprüfungsverfahren eines Rentenantrags nach zwischenzeitlicher Rechtsänderung zum Nachteil des Versicherten
Leitsatz (amtlich)
Nicht nur bei zu niedrig festgestellter Rente, sondern auch bei Ablehnung eines früheren Rentenantrags ist ein Versicherter im Überprüfungsverfahren – nach zwischenzeitlicher Rechtsänderung zu seinem Nachteil – so zu stellen, wie er bei richtiger Rechtsanwendung zum Zeitpunkt der erstmaligen Bescheiderteilung gestanden hätte (Fortführung von BSG vom 1.12.1999 – B 5 RJ 20/98 R = BSGE 85, 151 = SozR 3-2600 § 300 Nr 15).
Normenkette
SGB X § 44 Abs. 1 S. 1; SGB VI § 250 Abs. 1 Nr. 2, § 300 Abs. 1, 3, § 44 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 241 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Aachen (Urteil vom 04.12.2001; Aktenzeichen S 13 RJ 40/01) |
Tenor
Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 4. Dezember 2001 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens über die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) unter Berücksichtigung weiterer Ersatzzeiten.
Die im Juli 1936 geborene Klägerin siedelte am 12. Dezember 1991 aus Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland über. In der ehemaligen UdSSR hatte sie mit Unterbrechungen von 1953 bis 1976 in der Landwirtschaft sowie in der Bau- und Textilindustrie gearbeitet. Von Juli 1991 bis zu ihrer Übersiedlung im Dezember 1991 bezog sie eine Rente. Sie ist Inhaberin des Vertriebenenausweises “A”.
Im Mai 1992 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen EU. Hierzu legte sie ua Bescheinigungen vor, wonach sie im September 1941 aus der autonomen Wolgadeutschen Republik nach Kasachstan umgesiedelt und erst im Dezember 1955 von der Zwangsansiedlung befreit worden war. In dem Formblatt der Beklagten beantwortete sie die Frage, wann der Wille zur Aussiedlung in die Bundesrepublik bestanden habe, mit “1990”. Mit Bescheid vom 22. Juli 1993 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung ab, zwar sei der Leistungsfall am 22. Mai 1992 eingetreten und die allgemeine Wartezeit erfüllt, es fehle aber an den besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen; als Ersatzzeit wegen der Vertreibung/Flucht könne lediglich der Monat Dezember 1991 angerechnet werden, in dem die Klägerin aus Kasachstan ausgereist sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1994).
Im März 1998 beantragte die Klägerin die Überprüfung anzurechnender Versicherungszeiten und erklärte, sie habe bei ihren ursprünglichen Angaben Ausreisemöglichkeit und Ausreisewillen verwechselt. Die Angabe des Jahres 1990 in dem Formblatt der Beklagten habe sich auf die erstmalige Ausreisemöglichkeit, nicht auf ihren Ausreisewillen bezogen. Mit Feststellungsbescheid vom 30. September 1999 erkannte die Beklagte daraufhin insgesamt 38 Monate zwischen dem 23. Juli 1950 und dem 31. Dezember 1956 als weitere Ersatzzeiten wegen Internierung/Verschleppung an.
Im Oktober 1999 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Ablehnungsbescheids vom 22. Juli 1993. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 20. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2001 ab, weil die Klägerin aufgrund der zwischenzeitlichen Änderung des § 250 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfülle; die Anerkennung weiterer Ersatzzeiten ab 1. Januar 1957 sei aufgrund dieser Gesetzesänderung nicht mehr möglich. Das Sozialgericht Aachen (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der vorhergehenden Bescheide verurteilt, bei der Klägerin die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 11. Dezember 1991 als Ersatzzeit zu berücksichtigen, soweit in diesem Zeitraum nicht bereits höherwertige Versicherungszeiten anerkannt seien, und ihr ab 1. Januar 1995 Rente wegen EU zu zahlen (Urteil vom 4. Dezember 2001). Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Anspruch der Klägerin auf Anerkennung weiterer Ersatzzeiten und Gewährung von Rente wegen EU ergebe sich aus § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Zu Unrecht habe die Beklagte die Rente aufgrund des Überprüfungsantrags der Klägerin von Oktober 1999 abgelehnt. Der Rentenablehnungsbescheid vom 22. Juli 1993 sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Die Klägerin habe vor Eintritt der EU nicht nur die allgemeine Wartezeit erfüllt, sondern auch in dem maßgeblichen – verlängerten – Fünf-Jahres-Zeitraum drei Jahre Pflichtbeitragszeiten aufzuweisen, so dass ihr im Zeitpunkt des ursprünglichen Ablehnungsbescheides Rente wegen EU zugestanden habe. Hinsichtlich des Überprüfungsantrags sei noch § 250 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 SGB VI idF des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetzes ≪RRG≫ 1992) – dh ohne die Einschränkungen des jetzigen Abs 2 Nr 3 – anzuwenden. Danach lägen die Voraussetzungen für Ersatzzeiten von September 1941 (Verschleppung) bis Dezember 1991 (Ausreise nach Deutschland) wegen Rückkehrverhinderung vor.
Einer Berücksichtigung der streitbefangenen Ersatzzeiten und damit der Gewährung von Rente wegen EU stehe § 300 SGB VI nicht entgegen. Für die Anwendung alten Rechts komme es nicht auf den Überprüfungsantrag, sondern auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenantragstellung an. Der Klägerin habe Rente wegen EU daher bereits ab 1. Juni 1992 zugestanden. Gemäß § 44 Abs 4 SGB X könnten Leistungen jedoch nur für vier Jahre vor dem Beginn des Jahres des Überprüfungsantrags – also ab 1. Januar 1995 – gewährt werden.
Mit ihrer vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 44 SGB X und des § 300 Abs 1 SGB VI. Sie ist der Ansicht: Im Zugunstenverfahren sei ausschließlich auf den Zeitpunkt des Überprüfungsantrags abzustellen (Bundessozialgericht ≪BSG≫ SozR 3-2600 § 300 Nr 15; BSG, Beschluss vom 1. September 1999 – B 13 RJ 3/99 S –, SGb 2000, 18). Sowohl der 5. als auch der 13. Senat des BSG seien nur aus Gründen des Besitzschutzes gemäß § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI aF iVm § 88 SGB VI bei der Neuberechnung einer bereits festgestellten Rente von dem zum Zeitpunkt des ursprünglichen Rentenantrags geltenden Recht ausgegangen. Das Bestehen einer Rente werde sowohl vom Wortlaut der bisherigen als auch der jetzigen Fassung des § 300 Abs 3 SGB VI vorausgesetzt. Eine solche Rente sei hier aber gerade nicht geleistet, sondern ein entsprechender Anspruch der Klägerin vielmehr in der Vergangenheit abgelehnt worden. Bei der Erstfeststellung einer Rente verbleibe es deshalb auch im Rahmen des Überprüfungsverfahrens bei der Anwendbarkeit des § 300 Abs 1 SGB VI, wonach neues Recht maßgebend sei.
Diese Auffassung habe der Gesetzgeber mit der Einführung des § 309 Abs 2 SGB VI durch das Gesetz zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften (4. Euro-Einführungsgesetz) vom 21. Dezember 2000 und mit der Änderung – allein – des § 300 Abs 3 SGB VI durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) vom 20. Dezember 2000 bestätigt; er habe ausdrücklich an der Grundregel des § 300 Abs 1 SGB VI festgehalten. Somit sei das zum Zeitpunkt des Überprüfungsantrags im Oktober 1999 geltende Recht (hier: § 250 SGB VI idF des ab 1. Juli 1993 geltenden Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes ≪Rü-ErgG≫ = § 250 SGB VI nF) anzuwenden. Nach § 250 SGB VI nF könnten bei der Klägerin Ersatzzeiten nach dem 31. Dezember 1956 nicht mehr anerkannt werden mit der Folge, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Rente wegen EU nicht erfüllt seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 4. Dezember 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des SG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig. Ihre Statthaftigkeit ergibt sich aus § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Beklagte hat die erforderliche Zustimmung der Klägerin der Revisionsschrift beigefügt (vgl § 161 Abs 1 Satz 3 SGG).
Die Sprungrevision ist jedoch nicht begründet.
Der Anspruch der Klägerin auf Rücknahme des bindenden Bescheides über die Ablehnung von Rente wegen EU vom 22. Juli 1993 richtet sich – wie das SG zutreffend ausgeführt hat – nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb ua Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. § 44 Abs 4 SGB X bestimmt hierzu, dass Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme (bzw dem Antrag auf Rücknahme) erbracht werden, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist.
Der Rentenablehnungsbescheid vom 22. Juli 1993 war von Anfang an rechtswidrig; der Klägerin stand die Rente bereits ab dem Folgemonat der erstmaligen Rentenantragstellung im Mai 1992, also ab 1. Juni 1992, zu. Entsprechend der Regelung des § 44 Abs 4 SGB X hat das SG zu Recht – wie von der Klägerin erstinstanzlich beantragt – Leistungen für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor Beginn des Jahres des Rücknahmeantrags (Oktober 1999) unter Berücksichtigung zusätzlicher Ersatzzeiten zuerkannt. Soweit das SG im Tenor seiner Entscheidung von “höherwertigen Versicherungszeiten” spricht, hat es in seinen Entscheidungsgründen selbst hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass insoweit (vorrangige) Pflichtbeitragszeiten gemeint sind (vgl zum Verhältnis von Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach §§ 15, 16 des Fremdrentengesetzes ≪FRG≫ zu Ersatzzeiten auch BSG SozR 2200 § 1251 Nr 89).
Die Rechtmäßigkeit des Rentenablehnungsbescheids vom 22. Juli 1993 iS von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X beurteilt sich nach der zum Zeitpunkt seines Erlasses bestehenden Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21; Steinwedel in Kasseler Komm, § 44 SGB X RdNr 29). Der von der Klägerin im Oktober 1999 zur Überprüfung gestellte Anspruch auf Gewährung von Rente wegen EU bestimmt sich daher gemäß § 300 Abs 1, 2 SGB VI nach § 44 SGB VI in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung des RRG 1992 vom 18. Dezember 1989 – BGBl I, 2261 – (§ 44 SGB VI aF). Auf der Grundlage der von den Beteiligten nicht wirksam angegriffenen und damit bindenden Feststellungen des SG (§ 163 SGG) hatte die Klägerin die allgemeine Wartezeit nach § 44 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI aF erfüllt und es war EU iS des § 44 Abs 1 Satz 1 Nr 1, Abs 2 SGB VI aF am 22. Mai 1992 eingetreten.
Im Gegensatz zur Feststellung in dem ablehnenden Überprüfungsbescheid vom 20. September 2000 erfüllte die Klägerin bei Eintritt der EU auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen iS von § 44 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI aF. Zwar hat sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des Leistungsfalls der EU weder in Deutschland noch in der ehemaligen UdSSR drei Jahre Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt. Der maßgebliche Fünf-Jahres-Zeitraum wird jedoch durch Streckungstatbestände iS von § 44 Abs 4, § 43 Abs 3 iVm § 241 Abs 1 SGB VI jeweils in der bis 31. Dezember 2000 maßgeblichen Fassung des RRG 1992 (aF) (Ersatzzeiten) derart erweitert, dass er die notwendigen Pflichtbeitragszeiten umfasst.
Die Voraussetzungen für die Berücksichtigung von weiteren Ersatzzeiten in dem Zeitraum nach dem 1. Januar 1957 bis Dezember 1991 liegen vor. Zur Anwendung kommt im vorliegenden Fall noch § 250 Abs 1 Nr 2 SGB VI in der durch Art 1 Nr 61 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz vom 25. Juli 1991, BGBl I, 1606, 1620, 1707) geänderten Fassung des RRG 1992 (§ 250 SGB VI aF), wonach Ersatzzeiten auch solche Zeiten vor dem 1. Januar 1992 sind, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat, und Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr interniert oder verschleppt oder im Anschluss an solche Zeiten wegen Krankheit arbeitsunfähig oder unverschuldet arbeitslos gewesen sind, wenn sie als Deutsche wegen ihrer Volks- oder Staatsangehörigkeit oder in ursächlichem Zusammenhang mit den Kriegsereignissen außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland interniert oder in ein ausländisches Staatsgebiet verschleppt waren, nach dem 8. Mai 1945 entlassen wurden und innerhalb von zwei Monaten nach der Entlassung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ständigen Aufenthalt genommen haben, wobei in die Frist von zwei Monaten Zeiten einer unverschuldeten Verzögerung der Rückkehr nicht eingerechnet werden.
Nach den den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des SG ist die Klägerin wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit im September 1941 aus dem deutschen Siedlungsgebiet in der Wolgadeutschen Republik nach Kasachstan verschleppt worden und war anschließend an der Rückkehr gehindert; sie hat auch unverzüglich nach dem Ende der Rückkehrverhinderung ihren ständigen Aufenthalt in Deutschland genommen. Nach Aktenlage – und wie zwischen den Beteiligten nach deren Äußerung in der mündlichen Revisionsverhandlung unstreitig – liegen bei der Klägerin Ersatzzeiten vom 1. Juni 1957 bis 31. Juli 1957, vom 1. März bis 30. April 1959, vom 1. bis 31. Juli 1961 und vom 1. Dezember 1976 bis 12. Dezember 1991 – insgesamt 186 Monate – vor. Aufgrund ihrer Beschäftigung in der ehemaligen UdSSR zwischen 1953 und 1976 weist sie schließlich auch in dem maßgeblichen verlängerten Zeitraum Pflichtbeitragszeiten iS des § 55 Satz 2 SGB VI in der bis 31. Dezember 1999 geltenden Fassung iVm §§ 1, 15 FRG und §§ 1, 15 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge in der hier maßgeblichen Fassung von über drei Jahren auf.
Entgegen der Ansicht der Beklagten findet der die Anrechnung der streitigen Zeiten als Ersatzzeiten im vorliegenden Fall ausschließende § 250 Abs 2 Nr 3 SGB VI, der durch Art 1 Nr 10, Art 18 des Rü-ErgG vom 24. Juni 1993 (BGBl I, 1038, 1039, 1052) eingefügt worden ist, keine Anwendung; denn dieser ist erst nach Stellung des ursprünglichen Rentenantrages (Mai 1992) am 1. Juli 1993 in Kraft getreten. Zwar sind nach § 300 Abs 1 SGB VI die Vorschriften dieses Gesetzbuchs vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann anzuwenden, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat; zudem verschafft Abs 3 Satz 1 der Vorschrift dem Abs 1 grundsätzlich ebenfalls dann Geltung, wenn eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen ist und dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln sind. Eingeschränkt wird dieser Grundsatz jedoch durch Satz 2 des § 300 Abs 3 SGB VI aF, wonach § 88 SGB VI über die weitere Leistung der Rente aus den bisherigen persönlichen Entgeltpunkten entsprechend anzuwenden ist.
Wie vom 5. Senat des BSG unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (vgl SozR 3-2600 § 300 Nr 11; SozR 3-2200 § 1251 Nr 12) entschieden worden ist, erfasst der in § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI geregelte Besitzschutz diejenigen persönlichen Entgeltpunkte, die sich bei von vorn herein richtiger Bescheiderteilung ergeben hätten, wenn im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X eine bereits geleistete Rente nach den Vorschriften des SGB VI neu festzustellen ist (BSGE 85, 151 = SozR 3-2600 § 300 Nr 15). Zur Begründung hat der 5. Senat des BSG im Wesentlichen ausgeführt: Nach dem in § 44 SGB X enthaltenen Restitutionsgedanken sei der Berechtigte so zu stellen, als hätte die Verwaltung von vorn herein richtig entschieden. Es wäre unverständlich, § 44 SGB X als zentraler Vorschrift des Verwaltungsverfahrensrechts dadurch im Rentenrecht eines Großteils seiner Wirkung zu berauben, dass den Berechtigten die Korrektur falscher Entscheidungen im Rentenbescheid vorenthalten werde, sie vielmehr auf der bisher gezahlten zu niedrigen Rente “sitzen gelassen” würden. Neben rechtssystematischen Gründen sprächen auch verfassungsrechtliche Bedenken für diese Auslegung des § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI. Der erkennende Senat hat dieser Änderung der Rechtsprechung zugestimmt und seine frühere abweichende Meinung aufgegeben (Beschluss vom 1. September 1999 – B 13 RJ 3/99 S – SGb 2000, 18).
Nach Auffassung der Beklagten kann diese Rechtsprechung nicht auf Fallkonstellationen wie die vorliegende übertragen werden, weil im Falle der Klägerin eine Rente bis zum Überprüfungsantrag noch nicht festgestellt worden sei und es sich demnach um eine Erst- und nicht um eine Neufeststellung einer Rente handele. Für die Ansicht der Beklagten spricht zwar der Wortlaut des § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI, der auf die Neufeststellung “einer bereits vorher geleisteten Rente” abhebt. Eine sachgerechte Lösung in Fällen der vollständigen Verneinung eines Rentenanspruchs wegen fehlerhafter Rechtsanwendung ist jedoch durch eine allein am Wortlaut orientierte Auslegung der Vorschrift nicht zu erzielen.
Dem Gesetzgeber kann nicht unterstellt werden, dass er bei der Fassung der Übergangsvorschriften des SGB VI eine – sich bei wörtlichem Verständnis des § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI aF ergebende – Benachteiligung eines Versicherten, dessen Rentenantrag zuvor unberechtigterweise abgelehnt worden ist, bewusst in Kauf nehmen wollte; eine solche Konsequenz ist vielmehr vom Gesetzgeber offensichtlich nicht bedacht worden. Denn nach den Gesetzesmaterialien (vgl BT-Drucks 11/4124 S 206 ≪§ 291 des Entwurfs≫ zu Abs 3 der Vorschrift) hatte er die nachträgliche Berücksichtigung nachgewiesener Beitragszeiten oder beitragsfreier Zeiten im Auge, ohne eine Differenzierung danach vorzunehmen, ob eine zu niedrig festgestellte Rente höher festzustellen oder eine gänzlich abgelehnte Rente – erstmalig – zu gewähren ist.
Im Übrigen würde eine allein am Wortlaut orientierte Auslegung des § 300 Abs 3 Satz 1 SGB aF zu einem Wertungswiderspruch führen, der im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫) verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar wäre. So hätten Betroffene, deren Rente in der Vergangenheit zu niedrig festgestellt worden ist, im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X Anspruch auf eine (Vergleichs-) Berechnung nach altem Recht; dagegen würde die Rente von Versicherten, deren Rentenanspruch in der Vergangenheit zu Unrecht gänzlich, dh in voller Höhe, abgelehnt worden ist, nur nach den neuen und ggf ungünstigeren Rechtsvorschriften ermittelt werden. Aufgrund des in § 44 SGB X enthaltenen Gedankens der Fehlerkorrektur muss eine Restitution des Rechts aber auch und erst recht bei Betroffenen vorgenommen werden, denen die abgelehnte Rente bei richtiger Rechtsanwendung zugestanden hätte. Denn es ist kein Grund ersichtlich, jemanden wie die Klägerin, bei der die Rente zu Unrecht ganz versagt wurde, anders zu behandeln, als jemanden, der eine – unter Umständen geringe – Rente erhält, die zu Unrecht zu niedrig festgestellt worden ist.
Die gemessen an Art 3 Abs 1 GG gebotene verfassungskonforme Auslegung des § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI aF muss daher den Versicherten, dessen Rente zu Unrecht gänzlich versagt worden ist, in den “erweiterten” Besitzschutz mit einbeziehen. Denn dem Gesetzgeber ist es durch den Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot ungerechtfertigter Verschiedenenbehandlung mehrerer Personengruppen verwehrt, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 55, 72, 88; 81, 156, 205; stRspr).
Nur durch eine nicht am Wortlaut, sondern an der Verfassung orientierten Auslegung des § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI aF lässt sich ein Gleichheitsverstoß vermeiden. Art 20 Abs 3 des GG verpflichtet die Gerichte, “nach Gesetz und Recht” zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode (oder gar eine reine Wortinterpretation) schreibt die Verfassung hierbei nicht vor. Sogar eine Rechtsfortbildung “praeter legem” ist nicht von vornherein ausgeschlossen (vgl BVerfGE 82, 6, 11 ff und 88, 145, 166 f; zur älteren Rechtsprechung: Seidl, ZGR 1988, 296, 303 ff). Dabei kommt es nicht darauf an, ob dem subjektiven Willen des Gesetzgebers die mit dem Gesetz nicht zu vereinbarende Auslegung eher entsprochen hätte; entscheidendes Kriterium ist vielmehr, dass die Auslegung des Gerichts “sachgerecht” ist. Insoweit besteht das Gebot, eine “Normvariante” anzuwenden, die mit dem GG in Einklang steht (BVerfGE 88, 145, 166; 93, 37, 81).
Der Senat beachtet hierbei durchaus die Grenzen verfassungskonformer Auslegung, die sich aus einer Zusammenschau von Wortlaut der Regelung und verfolgtem Regelungszweck ergeben; beides wird in den wesentlichen Punkten weder verfehlt noch verfälscht (vgl hierzu BVerfGE 93, 37, 81; 95, 64, 93; stRspr). Soweit der Wortlaut der Norm auf die “bereits vorher geleistete Rente” abstellt, versteht der Senat dies nicht zwingend als eigenständige Tatbestandsvoraussetzung, sondern – verfassungskonform – als typischerweise aufgeführten Beispielsfall. Nur eine solche Auslegung der Vorschrift vermeidet einen Wertungswiderspruch zu den Vorschriften des SGB X bei Überprüfungsfällen zugunsten des Versicherten, ist also “sachgerecht” iS der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Vorstehender Auslegung steht auch die Änderung des § 300 Abs 3 SGB VI zum 1. Januar 2001 durch Art 1 Nr 52, Art 24 RRErwerbG vom 20. Dezember 2000 (BGBl I, 1827, 1834, 1845) nicht entgegen, wonach – letztlich entsprechend der ergangenen Rechtsprechung des BSG – Abs 3 wie folgt gefasst wurde: “Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren”. Es ist bereits zweifelhaft, ob der Gesetzgeber mit dieser Gesetzesfassung – iS einer authentischen Interpretation der bisherigen Fassung des § 300 Abs 3 SGB VI – an der Voraussetzung einer Rentengewährung festhalten wollte. Vielmehr stützt die Gesetzesbegründung (vgl BT-Drucks 14/4230 S 29 ≪zu Nr 52≫) zur Neufassung des Abs 3 der Vorschrift die Auffassung des erkennenden Senats. Die Gesetzesbegründung stellt ausdrücklich darauf ab, dass nicht nur beim ersten – auch ablehnenden – Rentenbescheid, sondern auch bei späterer Neufeststellung das Recht anzuwenden sei, das schon zum Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Rente anzuwenden gewesen wäre. Die hiermit geforderte Anwendung des früheren Rechts kann sich nicht nur auf die so genannten Bestandsrentner beziehen. Wie bei diesen soll mithin – dem Grunde oder der Höhe nach – für einen Fall vorheriger Rentenablehnung generell sichergestellt werden, dass das Inkrafttreten zwischenzeitlicher Rechtsänderungen die Rentenhöhe nicht beeinflusst. Die bisherige Rentenfeststellung wird von Beginn an korrigiert. Nach diesem Verständnis unterliegt aber auch die fehlerhafte Rentenablehnung grundsätzlicher Korrektur “von Anfang an”. Es muss davon ausgegangen werden, dass dieser Gedanke in der Gesetzesfassung nur nicht genügend zum Ausdruck gekommen ist. Sollte dagegen die vom Wortlaut des § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI nF erfasste Regelung tatsächlich nur für Neu- nicht aber für Erstfeststellungen im Rahmen von Überprüfungsverfahren beabsichtigt gewesen sein, so wäre eine derartige Auslegung aus denselben verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich, die bereits eine allein am Wortlaut orientierte Auslegung des bisherigen § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI aF verbieten.
Ob die Auffassung des erkennenden Senats durch die Einführung des § 309 Abs 2 SGB VI (vgl Art 6 Nr 16, Art 68 Abs 5 des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21. Dezember 2000, BGBl I, 1983, 2019 mit ≪Rück-≫Wirkung zum 1. Januar 1996) gestützt werden kann oder eher – jedenfalls bei alleiniger Orientierung am Wortlaut – die Argumentation der Beklagten zu stärken geeignet ist, kann vorliegend offen bleiben. Nach dieser Vorschrift ist eine Rente auf Antrag neu festzustellen, wenn sie vor dem 1. Januar 2001 nach den Vorschriften dieses Gesetzbuches bereits neu festgestellt worden war. Hiermit sollten nach dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (vgl BT-Drucks 14/4657 S 3 f ≪zu Art 6 Nr 16a≫) die Betroffenen einen Anspruch auf nochmalige Feststellung nach dem für sie früher geltenden und idR günstigeren Recht erhalten. Nach Auffassung des Senats kann auch diese Regelung so verstanden werden, dass unter den gegebenen Voraussetzungen ein Anspruch auf Feststellung nach den früher geltenden Vorschriften bestehen soll. Aber auch bei einem anderen Verständnis dieser Vorschrift wäre eine Berufung hierauf nicht geeignet, die oben dargestellten Wertungswidersprüche und verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot zu beseitigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
BSGE 2003, 136 |
BSGE 90, 136 |
SozR 3-2600 § 300, Nr.18 |
SozVers 2003, 116 |