Entscheidungsstichwort (Thema)
KOV. Schädigung. Kausalität
Orientierungssatz
1. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Leiden Schädigungsfolge ist (§ 1 Abs 3 BVG), ist nicht schon dann zu verneinen, wenn auch andere Möglichkeiten für einen Geschehensablauf bestehen, die nicht den Tatbestand einer Schädigung iS des BVG erfüllen, sie ist vielmehr zu bejahen, wenn keine dieser anderen in Betracht kommenden Möglichkeiten wahrscheinlich ist; insoweit kommt es auch auf die allgemeine Erfahrung an.
2. Zur Frage, ob das zum Tode führende Leiden auf eine Internierung und Zwangsarbeit in einem russischen Internierungslager zurückgeht.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 3, 2 Buchst. c
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 29.01.1958) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 29. Januar 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrte als Witwe des F... St... (St.) (geboren am 26. Juli 1883, gestorben in N... am 30. Oktober 1945) Versorgung, weil St. infolge von Kriegseinwirkungen verstorben sei. Diesen Antrag lehnte das Versorgungsamt Kiel am 10. Juli 1954 ab, den Widerspruch der Klägerin wies das Landesversorgungsamt Schleswig-Holstein am 28. Dezember 1954 zurück. Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Schleswig die Bescheide der Versorgungsverwaltung auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin ab 1. Oktober 1950 Hinterbliebenenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Schleswig durch Urteil vom 29. Januar 1958 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab: St. sei nicht an den Folgen einer Schädigung im Sinne der §§ 38 Abs. 1, Abs. 2. Buchst c BVG a.F. gestorben; er sei nach der Besetzung D… durch die Russen im Jahre 1945 in das "N... -Lager" in D... verbracht worden, dieses Lager sei ein "regelrechtes Internierungslager" mit fester lagermäßiger Einschließung gewesen, die Insassen seien, unter bewaffneter russischer Bewachung zu und von der Arbeit gebracht worden, St. habe sich während dieser Internierung in einem schlechten körperlichen Allgemeinzustand befunden; nach seiner Entlassung aus diesem Lager sei er noch als freier Arbeiter in D... tätig gewesen, bis ihn im Juli oder August 1945 sein Sohn, der katholische Pfarrer von N..., zu sich genommen habe; in der Zeit nach der Entlassung aus dem Lager bis zu seinem Tode sei St. zwar den allgemeinen Mangelzuständen in Danzig, insbesondere der Lebensmittelknappheit und dem Mangel an ärztlicher Versorgung, ausgesetzt gewesen, dies sei aber nicht eine mit der Besetzung D... zusammenhängende "besondere" Gefahr im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gewesen; über die Ursache des Todes des St. seien keine Unterlagen vorhanden, es sei deshalb allenfalls möglich, aber nicht wahrscheinlich, daß Auswirkungen der Internierung bzw. einer infolge der Besetzung eingetretenen Lebensmittelknappheit die wesentliche Ursache seines Todes gewesen seien. Das Urteil wurde der Klägerin am 30. April 1958 zugestellt. Am 13. Mai 1958 legte die Klägerin Revision ein, sie beantragte,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Schleswig vom 29. Januar 1958 die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung trug sie vor: Das LSG habe zu Unrecht die Revision nicht zugelassen, es habe dies tun müssen, weil es die Bedeutung der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6. Dezember 1955, des sogenannten "Königsberger Urteils" (BSG 2, 99 ff.), eingeschränkt habe und damit von diesem Urteil abgewichen sei; das LSG habe auch gegen Erfahrungssätze und Denkgesetze verstoßen (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). St. sei von Beruf Verwaltungsangestellter und Buchdrucker gewesen, er sei bei der Internierung 62 Jahre alt gewesen, es entspreche der medizinischen Erfahrung, daß er infolge der ungewohnten und ungewöhnlichen Belastungen durch die Zwangsarbeit zusammengebrochen sei, er sei auch nur wegen seiner schweren Erkrankung aus dem russischen Lager entlassen worden, habe anschließend allenfalls nur deshalb noch kurz gearbeitet; um nicht zu verhungern, sei dann schwerkrank zu seinem Sohn gekommen und dort nach vier Monaten gestorben, weil jede ärztliche Betreuung infolge der Besatzungsverhältnisse unmöglich gewesen sei. Wenn das LSG trotzdem einen ursächlichen Zusammenhang mit den Besatzungsverhältnissen und mit der Internierung nicht für wahrscheinlich gehalten habe, so habe es den Begriff der Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 1 Abs. 3 BVG. verkannt; es habe auch die für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätslehre nicht beachtet.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Klägerin rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln, weil das LSG nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt, die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (BSG 2, 236 ff.) überschritten und damit gegen die §§ 128, 103 SGG verstoßen habe.
Das LSG hat festgestellt, daß St. bei der Besetzung D... durch die Russen in ein "regelrechtes Internierungslager" verbracht worden ist, von dort aus Zwangsarbeit hat leisten müssen, sich während dieser Zeit in einem schlechten körperlichen Allgemeinzustand befunden hat und Anfang Juni 1945 aus diesem Lager entlassen worden ist. Es ist erkennbar der sachlich-rechtlichen Überzeugung gewesen, daß es sich dabei entweder um eine "Internierung in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit" (§ 1 Abs. 2 Buchst. c BVG) oder um eine "unmittelbare Kriegseinwirkung" im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ("schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind"), jedenfalls also um einen Schädigungstatbestand im Sinne von § 1 BVG gehandelt hat. Wenn das LSG weiter davon ausgegangen ist, es sei zwar möglich, daß St. an den Folgen der Internierung oder einer von der Besatzungsmacht verursachten Lebensmittelknappheit gestorben sei, bei dem Fehlen jeglicher Kenntnis oder Anhaltspunkte über Art und Verlauf der Erkrankung und der Todesursache ließen sich jedoch andere mögliche Todesursachen nicht ausschließen, so hat es aber insoweit nicht alle Beweise erhoben, die von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus erheblich gewesen sind und es hat nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt. Das LSG hat festgestellt, daß St. die letzten Monate vor seinem Tod bei seinem Sohn, dem katholischen Pfarrer in N... /D..., verbracht hat und dort auch gestorben ist. Es hat sich deshalb nicht mit der vom katholischen Pfarramt N... /D... ausgestellten Sterbeurkunde vom 30. August 1946 begnügen dürfen, in der keine Angaben über die Todesursache enthalten sind. Es kann dahingestellt bleiben, ob es zutrifft, daß die Klägerin, wie sie mit der Revision geltend macht, durch ihren damaligen Prozeßbevollmächtigten schon in der mündlichen Verhandlung des LSG eine Bescheinigung des Pfarrers L... N..., des Sohnes des St., vom 9. November 1956 vorgelegt hat, in der es heißt, St. habe sich, als er am 15. Juni 1945 zu diesem Sohn gekommen sei, bereits in einem derartigen Zustand befunden, daß er die damals zur Verfügung stehende Kost nicht vertragen und an ständigem Durchfall gelitten habe, was allmählich zu seinem Tod geführt habe. Selbst wenn dem LSG diese Bescheinigung, die in den Urteilsgründen nicht erwähnt ist, damals nicht vorgelegen hat, so hat das LSG im Rahmen seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), versuchen müssen, von diesem Sohn nähere Angaben über die Dauer des Aufenthalts des St., seinen Zustand beim Eintreffen bei seinem Sohn und über die zum Tode führenden Umstände zu erhalten; es hat nicht von vornherein annehmen dürfen, daß der Sohn, selbst wenn er unter den gegebenen Verhältnissen nicht als Zeuge vernommen werden könnte, der Klägerin selbst oder auch unmittelbar dem LSG gegenüber keine beweiserheblichen Angaben gemacht hätte; das LSG hätte sich auch mit einer bloßen "Auskunft" dieses Sohnes begnügen und sie verwerten dürfen, wenn eine Vernehmung des Sohnes als Zeuge nicht möglich oder nicht sachdienlich ist (§ 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG). Selbst wenn der Sohn medizinische Befunde oder eine ärztliche Bescheinigung über die Todesursache nicht hat beibringen können, so hat er doch darüber Auskunft geben können, ob es zutrifft, daß St. schon am 15. Juni 1945 - also nicht, wie das LSG bisher angenommen hat, erst im Juli oder August 1945 - zu ihm gekommen ist und ob St. schon damals arbeitsunfähig gewesen ist. Wenn dies der Fall ist, so hat das LSG möglicherweise zu Unrecht festgestellt, es sei nicht wahrscheinlich, daß die zum Tode führende Erkrankung eine Folge des schlechten körperlichen Allgemeinzustandes gewesen sei, in dem sich St. infolge der Internierung und der mit ihr verbundenen Zwangsarbeit befunden hat. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Leiden Schädigungsfolge ist (§ 1 Abs. 3 BVG), ist nicht schon dann zu verneinen, wenn auch andere Möglichkeiten für einen Geschehensablauf bestehen, die nicht den Tatbestand einer Schädigung im Sinne des BVG erfüllen, sie ist vielmehr zu bejahen, wenn keine dieser anderen in Betracht kommenden Möglichkeiten wahrscheinlich ist; insoweit kommt es auch auf die allgemeine Erfahrung an. Sollte es aber zutreffen, daß St. als 62 - jähriger, körperliche Arbeiten nicht gewohnter Mann im Jahre 1945 monatelang als Internierter Zwangsarbeit für die Besatzungsmacht geleistet und sich deshalb bei der Entlassung aus dem Lager in einem schlechten körperlichen Allgemeinzustand befunden hat, nur wenige Tage oder Wochen danach bereits in schwerkrankem Zustand zu seinem Sohn gekommen und dann einige Monate später an Erscheinungen gestorben ist, die auf einen allgemeinen körperlichen Zusammenbruch infolge schwerer gesundheitlicher Mangelerscheinungen hindeuten, so hat es der Erfahrung entsprochen, daß das zum Tode führende Leiden auf die Internierung und Zwangsarbeit zurückgeht, und es ist allenfalls möglich, nicht aber wahrscheinlich, daß dieses Leiden auf Mangelerscheinungen zurückzuführen ist, die nicht mit einer durch die Besetzung geschaffenen "besonderen" Gefahr zusammenhängen. Denn selbst wenn - was das LSG angenommen hat und hier dahingestellt bleiben kann - in D... im Sommer und Herbst 1945 die allgemeine Lebensmittelknappheit und die fehlenden Möglichkeiten für eine ärztliche Behandlung nicht durch Maßnahmen verursacht gewesen wären, die der Besetzung eigentümlich sind, so steht jedenfalls fest, daß St. diesen Maßnahmen in Danzig unstreitig in einem körperlichen Zustand ausgesetzt worden ist, der infolge von Kriegseinwirkungen, nämlich Internierung mit Zwangsarbeit, bereits besonders schlecht gewesen ist. Etwaige nicht unter § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG fallende Umstände hätten dann allenfalls den Verlauf des zum Tode führenden Leidens beschleunigt, wesentliche Bedingung des Todes wäre dann aber mit Wahrscheinlichkeit der durch die Internierung und Zwangsarbeit bereits geschwächte körperliche Zustand gewesen. Die Klägerin ist zu Recht der Meinung, daß das LSG, wenn es das bisherige Ergebnis der Beweisaufnahme anders gewürdigt hat, gegen die §§ 103, 128 SGG verstoßen hat.
Da sonach die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist, kommt es nicht darauf an, ob sie, wie die Klägerin meint, auch nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 3 SGG statthaft ist. Die Revision ist auch in gehöriger Frist und Form eingelegt und damit zulässig. Sie ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG nach weiterer Beweisaufnahme zu anderen tatsächlichen Feststellungen und damit auch zu anderen materiell-rechtlichen Schlußfolgerungen kommt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben; die Sache ist, da die Beweisaufnahme noch nicht vollständig ist, zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen